Kiel: Deutschland im Herbst - der 1. Prozesstag gegen Antimilitaristen
Deutschland im Herbst
der erste Prozesstag
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Gestern sollte hier in Kiel vor dem Landgericht ein Prozess wegen
Landfriedensbruch und totaler Kriegsdienstverweigerung stattfinden. Der
Prozess selber und alle in seinem Umfeld geplanten
Solidaritätskundgebungen wurden durch kriegführenden Polizeistaat
erstickt.
Aber erst einmal im Einzelnen:
Es war geplant, in Form einer Demonstration gemeinsam vom Schauspielhaus
zum Landgericht zu gehen. Mitten in der Sammlungsphase kam ein Vertreter
des Ordnungsamtes und erklärte die beabsichtigte Demonstration und alle
Ersatzveranstaltungen für verboten und kündigte an, jeden Versuch,
Transparente zu entrollen oder Parolen zu rufen, sofort mit Gewalt zu
unterbinden. Weil alle Anwesenden an diesem Morgen aufgestanden sind, um
unseren Genossen vor Gericht zu unterstützen und weil die Bullenpräsenz
ungewöhnlich massiv war, hatten wir uns für die Unterwerfung unter die
Bedingungen des Polizeistaats entschieden. Alle sollten heil beim
Gerichtsgebäude ankommen. Vor dem Landgericht wurde erst das ganze
Ausmaß des Polizeiaufmarsches sichtbar! Ca. 25 Polizeieinsatzfahrzeuge
umstellten praktisch das Gerichtsgebäude, was darauf schließen lässt,
dass wir es mit ungefähr 150 Bullen zu tun hatten, deren volle
Aufmerksamkeit wir „genossen“. Der Zugang zum Verhandlungssaal des
Gerichtes war von einer extra für die Prozeßöffentlichkeit aufgestellten
Sicherheitsschleuse und entsprechendem Personal verstellt. Wir waren,
genau wie unser Anwalt, beeindruckt von der Atmosphäre, die von den
Bullen um diesen Prozess herum geschaffen wurde. Der von den hohen
Vertretern der westlichen Moral zur Zeit permanent verwendete
Terrorismusbegriff ist gestern offenbar von den Verantwortlichen der
Anschläge in den USA bis zu uns herunterdefiniert worden.
Unter den oben geschilderten Bedingungen musste zu Beginn des durch
Einlasskontrollen verzögerten Prozesses erst einmal geklärt werden,
wessen Staatsschutzhirn die gegen uns gerichteten Maßnahmen eigentlich
entsprungen sind. Durch eine Reihe von Anträgen, die unser Anwalt zur
Klärung der Situation stellte, kam ein Szenario heraus, das einiges an
Aufschlüssen darüber zulässt, wer in Deutschland mit welcher
Handlungsmacht ausgestattet ist. Danach hat offenbar die Polizeiführung
dem Gerichtspräsidenten gegenüber ein Szenario entworfen, das eine von
uns geplante, gewalttätige Demonstration im Gerichtsgebäude selber
unterstellte. Als durch das Gericht benannte Quelle wurde unser
Flugblatt benannt, also keine, denn da steht ein derartiges Szenario
nicht drin. (vgl.
http://www.nadir.org/nadir/aktuell/2001/10/21/6852.html) Der
Gerichtspräsident hat auf Grundlage der durch die Bullen konstruierten
Bedrohungsszenarien die Sicherheitsmaßnahmen angeordnet, auf die der
Richter nach eigenen Angaben keinen Einfluss hatte und für sich auch
keine Möglichkeit sah, diese an diesem Tag wieder zurückzunehmen.
Es wurde vom Anwalt klargestellt, dass der ganze Aufwand auf eine
massive Einschüchterung der Öffentlichkeit, des Angeklagten und der
anwaltlichen Vertretung selber hinaus läuft und unter diesen Umständen
der Prozess eigentlich gleich in einer Polizeikaserne hätte stattfinden
können. Während die Einschüchterung der Öffentlichkeit und des
Angeklagten weitestgehend übergangen wurden, hinterließ die Erklärung
des Anwaltes, dass auch er sich durch das massive Auftreten der
Exekutive eingeschüchtert fühle, anscheinend Eindruck. Der Richter
vertagte den Prozess auf Montag, den 12.11.01. um 9.00 Uhr. Er kündigte
an, die Maßnahmen aufheben zu lassen
Was die Einschüchterung der Öffentlichkeit betrifft -- also unsereins -
sollte die Lässigkeit, mit der sie im Prozess abgetan wurde, kurze Zeit
später ihre konkrete Bedeutung erlangen. Kaum dass wir uns zum
gemeinsamen Verlassen der Gegend gesammelt haben, wurden die ganzen
Leute von einem massiven Bullenaufgebot umstellt. Der gemeinsame Gang
zum Frühstücken wurde von den Bullen kurzerhand zur verbotenen
Versammlung erklärt. Unter dem Vorwurf des Verstoßes gegen das
Versammlungsverbot wurden von allen Umstellten die Personalien
aufgenommen und Fotos geschossen, um sie danach in Bullenwannen
wegzukarren und irgendwo in Kiel wieder rauszulassen. Dabei gingen
einige der Bullen sehr rabiat vor und unterbanden jeglichen
Unterstützungsversuch von außen mit massiver Gewaltandrohung.
Soviel erst einmal zum Verlauf des Prozesses. Zu sagen bleibt noch, dass
alle Anwesenden sich trotz der massiven Gewaltandrohung durch die Bullen
größte Mühe gegeben haben, eine lebendige Prozessatmosphäre
herzustellen, was auch beim nächsten Prozesstermin unser Wunsch ist.
Das Vorbereitungstreffen zum nächsten Prozeßtag findet am Freitag, den
9. November um 20.00 Uhr im Infoladen in der Hansastraße 48 statt.
Für die Terminierung des nächsten Prozesstermins müssen wir uns noch
entschuldigen, er liegt genau in der Zeit, in der der nächste
Castor-Transport rollt. Wir wissen, dass wir damit für etliche einen
Entscheidungskonflikt produziert haben. Lasst euch einfach von euren
eigenen Prioritäten leiten! Wir hoffen, dass wir trotz alledem genügend
AntimilitaristInnen sein werden, um unsere GegnerInnenschaft zu
Militarismus, Bullenstaat und Klassenjustiz zum Ausdruck zu bringen.
Zur Einschätzung:
Nach Ausschluss der Möglichkeit, dass der Einsatzleiter der Bullen mit
dem falschen Bein aufgestanden ist und deswegen heiß auf eine Schlägerei
war, bleiben noch einige Möglichkeiten auf welcher Grundlage wir das
Bullenszenario von gestern über uns ergehen lassen mussten:
1. Der Bullenapparat hat bis heute nicht verdaut, von der Kieler
Bourgeoisie dafür angepöbelt worden zu sein, dass sie bei den
Nato-Feierlichkeiten vor zwei Jahren für nicht genügend Schutz gesorgt
haben. Dann wäre der Bullenauftritt von gestern als eine Art Racheaktion
zu verstehen, die uns beibringen soll, wer hier das Sagen hat. Größere
politische Zusammenhänge würden dann keine Rolle spielen und es wären
kaum Schlussfolgerungen für die Zukunft zu ziehen.
2. Die quasi-militärische Erdrosselung jeglicher Form von Protest und
Widerstand sind Ausdruck des neuen Zeitgeistes, der Einzug in die
Repressionsorgane Kriegsdeutschlands hält. Dann wird es mehr als Zeit,
sich genauer um die Bedeutung des Terrorismusbegriffs zu kümmern, wie er
zur Zeit zur Ausgestaltung des militärischen Klassenkampfes von oben
gegen islamistische Strukturen in Anschlag gebracht wird. Es ist
möglich, dass seine Verwendung in kürzester Zeit extrem ausgeweitet
wird, wie die staatsterroristischen Vorgehensweisen gegen die
Anti-Globalisierungsbewegung in jüngster Zeit schon mehr als angedeutet
haben.
3. Der Einsatz war ein Reflex oder auch Ausdruck der halbfaschistischen
Überwachungsstaatsszenarien, wie sie zur Zeit in regelmäßigen Abständen
aus dem Innenministerium herausquillen. Dabei ginge es weniger um unsere
konkreten Inhalte, als vielmehr um die Anmaßung unsererseits, nicht
jeden Pfurz, den wir lassen anzumelden und genehmigen zu lassen. Es
könnte sein, dass sie uns mit Gewalt darauf aufmerksam machen wollten,
dass wir zu akzeptieren haben, jegliche Bewegung und Aktion auf das
ihnen genehme Maß zurechtstutzen zu lassen. Dann fordert das „Wir haben
ja nichts zu verbergen-Deutschland“ seine Allgemeingültigkeit gegenüber
der Linken ein. Wahrscheinlich ist ein Mix verschiedener Interessenlagen
der Ausgangspunkt des gestrigen Szenarios; nur eins ist sicher: Ein
Versehen, das nicht wieder vorkommt, war es nicht!
Was können wir tun?
Die Beantwortung dieser Frage hängt unserer Meinung nach von der
Entwicklung eigener Strukturen ab, die in der Lage sind, die
Unterwerfungsstrategien des Repressionsapparates zu durchbrechen und
eigene Interessen auch gegen massiven Druck von „Oben“ durchzusetzen!
Nur eine Maxime sollten wir zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen
machen:
Legal, illegal, scheißegal!
Nächster Prozeßtermin:
Montag, 12.11.01. um 9.00 Uhr, Landgericht Kiel
Vorbereitungstreffen:
Freitag, 9.11.01 um 20.00 Uhr im Infoladen in der Hansastraße 48
Kiel, 3. November 2001
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