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Berlin: "militant manifesto"


Berlin, November 2001

Der folgende Text ist ein Anfang und soll zur Debatte, Ergänzung,
Verbesserung anregen. Er kam zustande, weil uns nach dem Genua-Gipfel
erstens die öffentliche Unsichtbarkeit militanter Positionen, die kaum
versuchte Vermittlung unserer Aktionen auffiel; zweitens weil in Genau auch
von Seiten Militanter einiges passiert ist, mit dem wir gelinde gesagt
Probleme haben. Auch wenn es nicht in dem Ausmaß vorgekommen ist wie
teilweise behauptet, gab es eben doch das Anzünden kleinerer Autos und den
Brand in einer Bankfiliale in einem Wohnhaus. Wir gehen davon aus, daß das
nicht (nur) das Werk von Provokateuren ist, sondern einen Hintergrund in
verschiedenen Vorstellungen von linksradikaler, militanter Aktion hat.
Darüber möchten wir gerne diskutieren, auch um herauszufinden, wovon die
unterschiedlichen Herangehensweisen bestimmt sind: von rein politischen
Differenzen? von länder-, sprachraum-, kulturspezifischen Besonderheiten?
oder wovon noch? Uns interessiert, wie in Polen, Griechenland, Spanien oder
England innerhalb der Militanten darüber diskutiert wird und ob es möglich
ist, für kommende Gipfel so etwas wie eine gemeinsame Ebene der Militanten
zu finden.
Unsere Idee ist, den Text entsprechend der Reaktionen weiterzubearbeiten und
in mehrere Sprachen zu übersetzen, um eine grenzüberschreitende Wirkung zu
erzielen. Vielleicht finden sich ja auch jetzt schon spontan
ÜbersetzerInnen? Veröffentlichen tun wir ihn in ein paar linksradikalen
Zeitungen und im Internet. Neben den ganz anonymen Möglichkeiten des
Kontaktes (etwa über Post an die Interim oder Kommentare auf indymedia)
können wir kontaktiert werden:

e-mail-adresse:  manifesto@so36.net

Unseren pgp-Schlüssel gibt es demnächst auf

 http://manifesto.so36.net zum


runterladen.

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militant manifesto


Notwendige Vorbemerkung

Es gab viele Gründe, diesen Text nicht zu verfassen.
Erfordert nicht die aktuelle Situation ganz andere Texte?
Machen wir uns zum Opfer eigener Mythen und fremder Klischees?
Versuchen wir, das Unverührbare zu mischen?
Gab es das nicht alles schon tausendmal?
Hat es Sinn, es trotzdem zu versuchen?
Die Antwort auf alle diese Fragen kann für uns nur sein:
Ja!


Nach dem "summer of resistance" 2001 und unter dem Medienbombardement eines
neuen alten Krieges wollen wir versuchen, freizulegen, was unter dem Schutt
der Worte der letzten Monate wertvoll sein könnte. Das Zusammenkommen vieler
radikaler Linker vor allem in Genua im Juli 2001 und die heftige
Konfrontation mit der herrschenden Gewalt hat viele Diskussionen ausgelöst.
Fragen an die radikale Linke, und eigene In-Frage-Stellungen, bekamen viel
Raum, meistens leider mehr als die entsprechenden Antworten. Die trotz aller
intergalaktischer Kongresse geringe tatsächliche globale Vernetzung wurde
deutlich spürbar. Obwohl es in verschiedenen Ländern durchaus ähnliche
(selbst-)kritische Auseinandersetzungen über die linksradikalen Politik- und
Aktionsformen gab (wie wir teils wissen, teils annehmen), bleiben diese an
den Grenzen der Länder und politischen Strömungen meist stehen.
Der Vorschlag des "militant manifesto" ist, miteinander zu diskutieren -
über Ländergrenzen und politische Grenzen hinweg. Es geht nicht darum, ein
einheitliches politisches Programm zu formulieren. Es geht nicht darum, zu
disziplinieren und zu organisieren. Es geht nicht darum, anderen etwas
aufzudrücken, sie zu repräsentieren. Es geht darum, der radikalen linken
Bewegung mehr politischen Spielraum zu verschaffen, indem sie sich über sich
selbst und ihre Aktionsformen austauscht, sich ihrer eigenen Rolle bewußter
wird, auch und gerade in ihrem Verhältnis nach außen - denen gegenüber, die
sie für sich gewinnen will.
Darum ist der politische Rahmen bewußt sehr weit und unscharf gefaßt.
Der Begriff "militant" wird in verschiedenen Sprachen sehr unterschiedlich
verwendet. Er kann für disziplinierte Parteifunktionäre stehen oder für
wilde Straßenkämpferinnen, für entschlossene Sozialdemokratinnen oder
einfach für Radikale. Versuchen wir, als kämpferische linksradikale Bewegung
uns den Begriff anzueignen!
Wenn wir von der militanten, also kämpferischen, Bewegung sprechen, dann
umfaßt das viele verschiedene politische Strömungen und Aktionsformen.
Gemeinsam ist ihnen, daß sie
· mehr Gewicht auf Handlung und Wirkung legen als auf Theorie-Arbeit,
· die gesellschaftlich vorgegebenen Spielregeln für politische Opposition
bewußt brechen,
· die bestehenden Herrschaftssysteme für nicht reformierbar halten.
Aber uns verbindet noch mehr - oder könnte es:
· Offenheit: Wir sind uns des Nebeneinanders vieler Theorien und Ideologien
bewußt. Sie sollen voneinander lernen und andere Wege ausprobieren. Wir
verplanen keine Zukunft, ehe wir sie nicht haben.
· Hoffnung: Wir setzen darauf, daß das Neue entsteht, wenn Menschen sich
bewegen, rebellieren, ihre Potentiale erkennen - einzeln wie auch kollektiv.
Dem gehen wir nicht ohne Ideen, aber ohne Einheitsfront entgegen.
· Aufklärung: Wir handeln aus freiem Willen, nicht aus Pflicht gegenüber
Organisationen oder Ideologien. Dazu gehört die Reflektion, woher wir
kommen, wohin wir gehen, und: ebenso Menschenrechte und Ethik wie die
Analyse der Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse.
Neben all dem sind wir AnarchistInnen, Autonome, KommunistInnen,
Antagonistische Linke, Sozialrevolutionäre, Ökos, Punks, RebellInnen,
"Globalisierungsgegner", WagenburglerInnen, Antifas, Entwurzelte,
TheoretikerInnen, SyndikalistInnen, Antiautoritäre, Feministinnen,
Forschende, Verkrüppelte, Queer, Unversöhnliche…
Wir sind nicht zufrieden mit der Gegenwart. Wir erklären die Zukunft für
offen.

1. Unser Ziel: Die Herrschaft von Menschen über Menschen beenden, gleich ob
sie ökonomisch, geschlechtlich, ethnisch, religiös ist.
2. Unser Weg: Die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft. Wir sehen
darin einen Prozeß, der weder von heute auf morgen stattfinden kann noch
lokal isoliert, insbesondere nicht in den eng verflochtenen Metropolen.
3. Wir bekennen uns zur Vielfalt der Programme. Die Erfahrung der
gescheiterten "großen Pläne" und Vereinheitlichungen des 20.Jahrhunderts
führt uns zu einem globalen Prozeß der Kommunikation, des Versuchens und
Voneinander-Lernens, um eine bessere Welt vorstellbar zu machen. Dazu
gehören auch Konflikte, denen wir uns stellen müssen und wollen.
4. Wir anerkennen keine disziplinierende Vorherrschaft einer Partei oder
vergleichbaren Organisation. Die "reine Lehre" gibt es nicht.
5. Wir wollen die Macht zersetzen. Wir möchten weder an der heutigen Macht
teilhaben - wie manche reformerische Projekte, etwa NGOs
(Nicht-Regierungs-Organisationen) - noch die Macht für uns erobern - wie die
alten hegemonialen Partei-Apparate. Wir mißtrauen allen Funktionären, die
auf diese Weise vor allem persönliche Macht erobern. Doch wir betrachten die
Menschen, die sich dort engagieren, nicht als GegnerInnen, sondern als
BündnispartnerInnen, die wir von unserer Idee überzeugen möchten.
6. Selbstbestimmte Basisorganisationen bzw. -gruppen und deren überregionale
Vernetzung betrachten wir als beste Grundlage für befreiende Prozesse bei
den Einzelnen und in der Gesellschaft insgesamt.
7. Unsere Aktionsformen lassen wir uns nicht diktieren, auch nicht von
BündnispartnerInnen. Aber wir respektieren Kritik und das Bedürfnis anderer,
ihre eigenen Aktionsformen verwirklichen zu können.
8. Zu unseren Aktionsformen gehört auch die Anwendung politischer Gewalt.
Sie ist für uns ein notwendiges, aber nicht hinreichendes Mittel im
politischen Kampf. Solange die revolutionären Kräfte schwach sind, ist
politische Gewalt ein symbolisches Mittel der Propaganda und kann keine
Machtfrage stellen. Sie ist kein Selbstzweck, sondern taktisches Mittel. Sie
ist nicht identisch mit Militanz - unsere Militanz äußert sich auch in
vielen anderen Bereichen, in unserem täglichen Leben, in unserer politischen
Arbeit, in Medien, Gruppen, Zentren, usw.
9. Politische Gewalt ist nicht indifferent. Sie schließt eine Vielzahl von
Möglichkeiten ein, vom aktiven zivilen Ungehorsam bis zu bewaffneten
Aktionen. Sie ist stets an ein gesellschaftliches Umfeld, an den Kampf um
Begriffe und Deutungen, geknüpft. Welche Form welcher Situation angemessen
ist, müssen diejenigen entscheiden, die sich der Situation gegenübersehen.
10. Die Anwendung politischer Gewalt bedeutet daher die Übernahme einer
hohen Verantwortung für sich selbst wie für andere. Sie darf nie
terroristisch, d.h. gegen Unbeteiligte gerichtet sein. Unbeteiligte sind für
uns aber nicht diejenigen, die das Herrschaftssystem gewaltsam verteidigen,
als Polizisten, Politiker oder Militärangehörige; ebensowenig diejenigen,
die die Herrschaftsstrukturen noch verschärfen wollen, als Faschisten,
Rassisten, Sexisten; und letztlich auch nicht die "oberen Zehntausend", die
Menschheit und Natur in ihrem Privatbesitz wähnen.
11. Wir übernehmen Verantwortung für unsere eigenen Taten, für Erfolge wie
für Fehler und Unzulänglichkeiten. Je mehr wir zusammenkommen und uns
miteinander austauschen, desto schwerer wird es sein, unsere Aktionsformen
durch Provokationen von außen oder eingeschleuste Agenten zu beeinflussen.
12. Wer politische Gewalt anwendet, muß sich stets fragen lassen können -
auch von GegnerInnen! - inwieweit das eigene Handeln moralisch und politisch
vertretbar ist. Wir wissen: Begrenzte Auseinandersetzungen heute wie
revolutionäre Umwälzungen (irgendwann) morgen sind kein Krippenspiel. Sie
gehen einher mit Fehlern und Irrtümern, mit Aggression und Opfern. Das
spricht aber niemanden davon frei, die eigenen Handlungen am Respekt für das
Leben und an der politischen Moral einer möglichen besseren Welt zu messen.

 

18.11.2001
anonym zugesandt   [Aktuelles zum Thema: Globalisierung]  [Schwerpunkt: Genua G8 Treffen]  Zurück zur Übersicht

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