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Tue Aug  8 03:27:26 1995
 

Silvio Gesells Freiwirtschaftslehre

Die Gesell-schaften

Betrachtet man die Entwicklung des historischen Faschismus in Deutschland, so fällt auf, daß sich dessen politische Basis scheinbar sehr heterogen darstellt. Im Dritten Reich fanden nicht nur überzeugte Nazionalsozialisten ihr "Heil". Auch eine Vielzahl bürgerlich-konservativer Strömungen integrierten sich in die faschistische Herrschaft. Auf der ideologischen Ebene ließ sich dies durchführen, weil Teile der konservativen Kritik an ihrer Gesellschaft Bestandteil der NS-Ideologie waren. Bei der Beobachtung der faschistischen Bewegung heute sollte deshalb ein Blick auf politische bürgerliche Strömungen geworfen werden, um besser erkennen zu können, inwieweit in diesen Zusammenhängen faschistische Positionen Einfluß haben oder dort neu begründet werden.

Eine dieser politisch-ideologischen Strömungen, die einerseits sang- und klanglos vom Nationalsozialismus absorbiert wurden, andererseits an der ideologischen Vorbereitung tatkräftig mitarbeitet, sind die sogenannten "Freiwirtschaftler" bzw. Gesellianer. Die "Freiwirtschafslehre" bzw. die "Natürliche Wirtschaftsordnung" wurde nach der Jahrhundertwende von dem deutschen Kaufmann Silvio Gesell politisch begründet. Auf Gesell basieren auch die heutigen politischen und ökonomischen Vorstellungen der Anhänger. Die Positionen der Gesellianer finden auch in anarchistischen, anthroposophischen und ökologischen Kreisen Anklang, daneben auch bei ausgewiesenen Neonazis. 1993 führte die Künstlerszene am Prenzlauer Berg in Berlin ein Knochengeld-Experiment durch, bei dem unhinterfragt die Vorstellungen Gesells Pate standen.1

Die wesentlichen Züge der Gesellschen Ideologie seien hier im folgenden beschrieben:

- Ausbeutung findet für die Gesellianer im Lohnarbeitsverhältnis nicht statt. Nur die Geldkapitalisten beuten die Arbeitnehmer und die produktiven Kapitalisten aus, indem sie für das ausgeliehene Geld Zinsen erhalten und damit ein Einkommen ohne Arbeit erzielen. Dies ist in den Augen Gesells Zinsknechtschaft, nach Ansicht des NS-Wirtschaftsideologen Gottfried Feder raffendes jüdisches Kapital, welches das angeblich schaffende deutsche Kapital ausbeutet. Da das Geld von dessen Besitzern zurückbehalten werden kann, sei dies auch der Grund für wirtschaftliche Krisen. Das zweite Standbein der Gesellschen Ökonomie ist die ungerechte Bodenverteilung, welche den Eigentümern des Bodens ebenfalls Ausbeutung erlaubt. Hier sieht Gesell eine Vergesellschaftung des Bodens vor. Aus den Erträgen finanziert sich die vorgesehene Mutterrente (dazu später mehr).

- Um die Ausbeutung der Kapitalisten und Arbeiter zu verhindern und die Wirtschaft anzukurbeln, soll das Geld keinen Zins mehr bringen. Und zwar, indem das Geld periodisch abgewertet wird und so nicht zurückgehalten werden kann. Das Ziel dieser Maßnahmen ist eine dann wirklich freie Marktwirtschaft, in der nur nach den Bedürfnissen der Menschen produziert werden soll und der Tüchtige und Fleißige sich im Wettbewerb mit anderen durchsetzt. Dazu gehört auch, daß es keine Möglichkeiten fürArbeitnehmer mehr gibt, sich zusammenschließen und z.B. Lohntarif durchsetzen. Dies wäre ja eine Beschränkung der Konkurrenz unter den Arbeitnehmern und würde dem Wettbewerb schaden.

- Neben dem ökonomischen Wettbewerb findet bei Gesell auch ein biologischer Wettbewerb statt. Oder genauer: Der ökonomische Wettbewerb ist nur der Ausdruck eines biologischen Kampfes des Menschen um dessen Vervollkommung. Der biologische Kampf ist für ihn die natürliche Ordnung, die Lebensweise des Menschen schlechthin. In diesem Kampf kommt es durch "natürliche" Auslese zu einer Höherentwicklung des Menschen. "Gesell propagiert zwar nicht die Überlegenheit einer bestimmten `Rasse', aber er hat das Bild eines `Vollmenschen' vor Augen, der stark, schön, gesund und intelligent ist. Angeblich wird zwar jedem das Recht zugestanden, alleine nach den eigenen Interessen zu handeln, aber diese Freiheit findet nur dann ihre Rechtfertigung, wenn sie zu `positiver Auslese beiträgt"2.

- In diesem Konkurrenzkampf gibt es eine "natürliche Ausnahme", die Frauen. Sie sind für Gesell eine biologische Grundlage der Evolution und müssen bei ihrer Zuchtwahl (d.h. der Auswahl des Vaters ihrer Kinder) und Aufzucht der Kinder vor wirtschaftlichen Zwängen geschützt werden. Die finanzielle Unabhängigkeit der Frauen soll nach Gesells Vorstellungen durch eine Mutterrente sichergestellt werden, die vom vergesellschafteten Boden erwirtschaftet wird. Statt Emanzipation findet sich bei Gesell ein Mutterkult, der Frauen auf ihre biologische Gebärfunktion reduziert.

Nach der Zerschlagung des NS-Regimes gründeten sich in den drei westlichen Zonen freiwirtschaftliche Wahlvereine, die schließlich in der Partei Freisoziale Union (FSU) zusammenkamen, die heute ihre Zentrale in Hamburg, Feldstr. 46, hat.(2a). Daneben gibt es eine Vielzahl von freiwirtschaftlichen Vereinen. In Hamburg z.B. die Hamburger Geld- und Bodenrechtsschule, den Arrow-Verlag oder die Trion-Geldberatungs Genossenschaft. Die drei bekanntesten freiwirtschaftlichen Zeitungen sind "Der dritte Weg" (die FSU Parteizeitung), die "Zeitschrift für Sozialökonomie" (aus dem Gauke-Verlag, Lütjenburg) und die "Fragen der Freiheit" (Hrsg. Seminar für freiheitliche Ordnung, Bad Boll). Die Gesellianer sind rege bei der Verbreitung ihrer Ideen. Immer wieder gelingt es ihnen, ihre wirtschaftlichen Vorstellungen als scheinbar sachkundige Experten in der Öffentlichkeit vorzubringen oder gar ihren Mütterkult als Feminismus darzustellen3. Auf wirtschaftliche Fragen bezogen gelingt ihnen das, weil die Kenntnisse über ökonomische Zusammenhänge in breiten Bevölkerungskreisen auf der Vorstellung des Tante-Emma-Ladens oder eines Wochenmarktes aufbauen, also ideologisch verzerrt sind. Auf Vorurteile und Unkenntnis stützend argumentiert auch die Freiwirtschaftslehre, so daß ihre Beispiele und Erklärungen auf den ersten Blick sehr einleuchtend klingen. Oder wer ärgert sich etwa nicht über Wucherzinsen für einen Dispo-Kredit ?

Die Hamburger Gesellianer-Szene

(ohne Anspruch auf Vollständigkeit)

Freisoziale Union - Demokratische Mitte

Die FSU hat bei Wahlen nie eine Rolle gespielt. Es gab von ihr aber immer wieder Versuche, über politische Bündnisse Einfluß zu gewinnen 4. So verfolgte sie Anfang der Fünfziger eine national-neutralistische Politik und arbeitete mit der faschistischen Deutsch-Sozialen-Union (DSU) von Otto Strasser zusammen 5. Nach dem Verbot der faschistischen Sozialistische Reichspartei (SRP) 1952 traten etliche ihrer Mitglieder zur FSU über, so z.B. der langjährige spätere FSU-Generalsekretär Ferdinand Böttger. Anfang der sechziger Jahre entwickelte die FSU umweltpolitische Positionen und unterhält seitdem gute Kontakte zum Weltbund zum Schutz des Lebens (WSL). Später kritisierte die FSU die Entspannungspolitik, weil diese die Spaltung Deutschlands zementiere. Mitte der siebziger Jahre beteiligte sie sich am "Arbeitskreis der Wählergemeinschaften, Unabhängiger Parteien und Bürgerinitiativen" (AWUB). Dieser Arbeitskreis war ein Sammelbecken öko- und neofaschistischer Gruppen, ein Wahlbündnis für eine vierte Partei sollte vorbereitet werden. Aus Hamburg mit dabei war die "Gesellschaft für biologische Anthropologie, Eugenik und Verhaltensforschung", langjähriger Vorsitzender der bekannte Nazi-Anwalt Jürgen Rieger. Auch in der Gründungsphase der Grünen mischten FSU-Mitglieder mit, noch heute gibt es innerhalb der Grünen eine freiwirtschaftliche Strömung. Zur Zeit scheint ihr Schwerpunkt in der Einflußnahme auf ökologische, esoterische und anthroposophische Kreise zu bestehen. Daneben nehmen die Gesellianer Einfluß auf anarchistische Kreise (gelungen ist ihnen das im Berliner Karin Kramer Verlag (!), der ein Buch verlegt, in dem Gesell als "Marx der Anarchisten" vorgestellt wird). Programmatische Überschneidungsfelder zu faschistischen Positionen finden sich im FSU "Gegenwartsprogramm" 6. Das "Selbstbestimmungsrecht für das deutsche Volk" wird eingefordert, ebenso wie den Müttern "die ihnen grundgesetzlich zuvörderst obliegende Pflicht der Pflege und Erziehung der Kinder" ermöglicht werden soll.

Die Hamburger Geld- und Bodenrechtsschule e.V. (HGBS)

Die "Schule" mit Sitz in der Mathildenstr. 7 und der Bleicherstraße 62 widmet sich der theoretischen Vermittlung der Freiwirtschaftslehre und unterhält dazu auch den Kleinverlag Arrow. Daneben bietet sie im Hamburger Weiterbildungs-lnformationssystem Kurse zu Geld und Wirtschaft an. Daß sie inhaltlich die Positionen von Gesell vertritt, bleibt hier erstmal verborgen. Nicht verborgen bleibt eine weitere Konsequenz der Gesellschen Ideen, nämlich die Vorstellung von auf völkischer Ebene abgeschlossenen Wirtschaftsräumen. In diesem Zusammenhang ist die Hamburger Geld- und Bodenrechtsschule auch gegen einen europäischen Zusammenschluß mit gleicher Währung, kultureller oder politischer Union. Auch gegen "Vermischung" der Bewohner verschiedener Länder wird sich ausgesprochen, dem stünden Lebensrhythmus, Sprache und Bildung entgegen 7.

Trion-Geldberatungs Genossenschaft e.G.

In enger Verbindung zur HGBS steht die Trion-Genossenschaft (Gerberstr. 9). Sie bietet Beratung rund ums Geld an und fördert angeblich soziale und ökologische Projekte. Da die Trion selbst keine Bank ist, arbeitet sie mit der dänischen Bank "Den Almennyttige Andelskasse - Die gemeinnützige Genossenschaftsbank Trion & Merkur" in Aalborg und Frederiksvaerk zusammen. Aus der Beratung wird so auch schnell ein Geschäft.

Eckhard Grimmel, Fachbereich Geographie der Universität Hamburg

Dieser Geographieprofessor der Hamburger Uni genießt unter Ökologen als Kritiker der atomaren Endlagerung in Gorleben einen guten Ruf. Weniger bekannt ist, daß er Anhänger der Freiwirtslehre ist. Ihm gelingt sogar eine neue, zeitgemäßere Begründung dieser Vorstellung 8. Er "beweist" die Krisenhafigkeit des bisherigen Kapitalismus aus Naturprinzipien des Kosmos und der Biologie und fordert den Kapitalismus ohne Parasiten ein. In der Beweisführung, die Kreislaufphänomene der Natur in Analogie auf die Gesellschaft überträgt, findet sich biologistisches und völkisches Denken. Auszüge seines Buches wurden entsprechend wohlwollend in der rechtsextremen Zeitschrift "Code" abgedruckt.

Fazit

Die Gesellianer reiten auf der Öko-Welle mit. Sie versuchen ihre Ideologie der "Natürlichen Wirtschaftsordnung" als ökologische Wirtschaft zu verkaufen. Und Teile der Ökologie-Bewegung (von Anthroposophen, Esos und Konsorten ganz zu schweigen) nehmen dies auch gerne an, mangelt es ihnen doch weniger an Empfindungen, dafür öfters an aufgeklärter Vernunft. Die Denunziation von mythischen Heilslehren, und dies ist die Freiwirtschaftslehre mit ihrer biologistischen Begründung sowie rassistischen, völkischen und antiemanzipatorischen Zügen, ist ein "natürlicher" erster Schritt, reicht aber nicht aus. Es fehlt eine tragfähige linke Kritik des Ökologischen.

(1) vgl. Peter Bierl, Der Rechte Rand der Anarchie, in; Ökolinx 13, 1994 u. Christoph Kind, Silvia Gesell und die Freiwirtschafsbewegung, in: Die Beute 4/94

(2) vgl. Christoph Kind, S. 121, s. Anm. (1)

(2a) Landesverbände existierten 1993 in Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Baden-Württemberg, Bayern

(3) vgl. die Zeit, 10.09.93, Marktwirtschaft ohne Kapitalismus, ein Lobartikel des Gesellianers Gerhard Senft oder auch mehr zufällig verfolgte Rundfunksendungen im Deutschlandfunk mit langen Gesellianer Interviews, z.B. Peter Kafka oder Vera Wandnagel

(4) vgl. Peter Bierl, Anm. (1), dort weitere Infos zur Einbindung der FSU im ökofaschisdschen Lager

(5) Das Zinsproblem einigt den Deutschen Sozialismus bzw. Solidarismus Otto Strassers mit den Vorstellungen Gesells. Sie beziehen sich ausdrücklich auf Gesell und unterstützen die ökonomischen Reformvorschläge.

(6) Stand 1993

(7) vgl. die programmatischen Schrift der HGBS von Gesima Vogel: Aufbruch in eine neue Welt, Arrow-Verlag, Hamburg 1990

(8) vgl. Eckhard Grimmel, Kreisläufe und Kreislaufstörungen der Erde, Hamburg 1993 - Das Buch ist in der rororo-Sachbuchreihe Science erschienen

[Aus: Antifaschistische Informationen, Rechte Organisationen in Hamburg, Nummer 1; Erscheinungsdatum: 2. Juni `95; Herausgegeben von: Bündnis keinen Fußbreit den Faschisten, c/o Schwarzmarkt, Kleiner Schäferkamp 46, 20357 Hamburg; e-mail: kfdf@krabat.nadir.org]