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Wed Sep 25 23:25:50 1996
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Zeitung für unkontrollierte Bewegungen
Die radikal von 1980 - 1984
Eine essayistische Nachbetrachtung - dreizehn Jahre später
Revolten sind Feuerwerke, geschossen in das Dunkel der Macht; sowie sie erleuchten, sind sie am Verlöschen. M. Foucault
Die Vorboten des Sturms
Damals - 1980 - bist du als 18jähriger nach Berlin gekommen - den
Kopf voll mit wirren Träumen von Aufstand und Revolution - und suchst
Anschluß an die linksradikale Szene, zu der du dich hingezogen
fühlst. Du träumst vom Pflasterstrand aus Frankfurt/Main, hast
schon in deinem Provinzkaff ein wenig Jugendzentrumszeitung mitgemacht, und da
gibt es nun in Berlin - neben vielem anderem - die Redaktion der
radikal, die zu offenen Redaktionssitzungen einlädt und deutlich
neue Leute sucht: Donnerstags 20.00 Uhr in der Eisenbahnstr.4, mitten in
Kreuzberg.
Du spürst die Umbruchphase in der Zeitung, daß da ein Raum für
dich offen ist, und gehst hin. Und das ist gleich der erste Punkt, der sich
fundamental von heute unterscheidet: Heute läuft vieles verdeckt, die
radikal ist nur über ein Postfach im Ausland erreichbar, auch die
Interim, das Wochenblatt der Bewegung, hat nur ein Postfach im
Mehringhof. Ich wüßte nicht, wie ich es, wenn ich heute 18
wäre, anstellen sollte, Anschluß an eins dieser Projekte zu finden.
Du gehst hin und bist nicht der einzige "Neue", bist nicht der
einzige Jugendliche aus Westdeutschland, der in diesen Monaten des Jahres 1980
in Westberlin strandet. Gleichzeitig gehen einige "Alte" weg zum
neugegründeten Lokalteil der tageszeitung. Nun ist der Platz frei
für die "Neuen" - sechs, sieben Leute, meist alle unter 20,
recht belesen und voller Tatendrang - und einen Fanclub der Bewegung 2. Juni.
Jetzt, 1995, sitzt du vor dem Stapel der Zeitungen, an denen du mitgemacht
hast, von Sommer '80 bis Herbst '83, betrachtest deine erste
selbstgelayoutete Seite, ausgeschnittene Punk-Buchstaben als Überschriften
in der Ausgabe September '80. Heute banal, damals war es ein
kulturrevolutionärer Bruch, Punkelemente in einer linken
Zeitschrift zu benutzen. Die Zeitung heißt jetzt endgültig nicht
mehr Sozialistische Zeitung für Westberlin sondern Zeitung
für unkontrollierte Bewegungen in Westberlin und anderswo, und selbst
im Impressum ist das geändert. Der thematische Schwerpunkt der Ausgabe
lautet "Widerstand '80 - werft Schatten und Ereignisse",
und wirklich, so jetzt beim Wiederdurchblättern fällt dir deutlich
auf, wie die Revolte 80/81 in den ganzen vorhergehenden und folgenden Ausgaben
ihre inhaltlichen Schatten vorausgeworfen hat: alle Themen und inhaltlichen
Brüche der kommenden Monate werden in den Nummern des Jahres 1980
durchdiskutiert. Was dann ab dem 12.12. 80 folgt, ist die Tat. Davor lag das
inhaltliche Sich Freistrampeln von all den langweiligen und überholten
orthodoxen linken Theorien und Traditionen.
"Wir haben keine Chance, aber wir nutzen sie", dazu eine
gespannte Zwille als Titelbild, heißt es im März/April '80
(Nr. 77). Wenig symbolisiert besser diese Mischung aus Existentialismus und
Militanz, die in den Monaten danach zum Ausbruch kommen wird. Auf den
Innenseiten werden erstmals Zweifel am Gegenöffentlichkeitsjournalismus
formuliert und nach einem neuen Konzept für die radikal
gesucht.
Das ist der nächste wichtige Punkt im Unterschied zu heute. Damals war
Gegenöffentlichkeit der große Leitfaden: Wir bringen zur Sprache,
was andere verschweigen. Doch dieses Konzept war abgenutzt. Das Ende des ID
(Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten - die
wichtigste linksradikale Zeitung Ende der 70er Jahre), der auf die reine
Betroffenenberichterstattung gesetzt hatte, Anfang '81 beweist es. Es
setzt sich, langsam entwickelt, ein anderes Konzept von Journalismus durch,
nämlich der herrschenden Wirklichkeit unsere eigene Wirklichkeit
entgegenzusetzen und nicht mehr den Streit um "die" Wahrheit zu
suchen. Später gipfelt dieses Konzept in den
"Herzschlägen", eine flott aufgemachte Sammlung der
wichtigsten Aktionen und Anschläge des letzten Monats, das
"Spreng" und "Bumm" sprang förmlich aus den
Zeilen und törnte (zumindest laut Staatsanwaltschaft) zum Mit- und
Selbermachen an. Heute (1995) ist es selbst in den offiziellen Medien nicht
mehr das Problem, was gesagt wird; es wird fast alles gesagt und
thematisiert. Unzählige Privatsender und Zeitungen befinden sich auf der
Jagd nach Verschwiegenem, "Unterdrücktem", Tabuisiertem. Das
Problem ist heute viel mehr, wie gesprochen wird. Der Bahnhof von Bad Kleinen
wird in der RTL-Talk-Show "Schreinemakers" nachgebaut, und die
Sendung zieht ihre Spannung aus dem Mordvorwurf gegen die GSG 9; eine Serie
über sexuellen Mißbrauch in der Familie läuft auf auf SAT 1 um
20.00 Uhr zur besten Sendezeit; keinen Skandal läßt sich
"Spiegel-TV" entgehen, und, und, und ... Doch entweder wird das
Thema derart zerlegt und individualisiert, oder es wird so reißerisch
aufbereitet, daß zwischen den ZuschauerInnen und dem Inhalt der
TV-Sendungen nichts passiert. Ihre Passivität bleibt sichergestellt.
Zurück zur Mai-Nummer (Nr. 80). Das Schwerpunktthema heißt
"Lohnarbeit ist Verrat am Proletariat", und erstmals wird
Zeitung für Freiheit und Abenteuer als Untertitel benutzt. Wir
drehen die Mythen der Werbung um und besetzen sie mit unseren Inhalten.
"Wir wissen alle, wozu der übermäßige Genuß von
Arbeit führt: zum Tode - früher oder später, direkt oder
indirekt, bewußt oder unbewußt" heißt es auf Seite
12 und weiter "aber auf keinen Fall in die Freiheit. Zumindest nicht
in die, die wir meinen. Und ganz sicher nicht die Arbeit, die SIE uns
geben." Dazu Tips, wie mensch anders zu Geld kommt: Sozialamt,
Krankfeiern (in diesen Monaten erschien die Broschüre "Lieber
Krank-feiern als Gesund-schuften", die bundesweit beschlagnahmt wurde)
und ein Bericht der Berliner Bankräuber. Wie fremd ist dir das heute, wie
verinnerlicht die Notwendigkeit, Geld durch Arbeit auftreiben zu müssen,
nur noch nettere und weniger nette Jobs im Kopf. Aber damals war dies der
zentrale Bruch für uns: Wir (d.h. laut einer berühmt gewordenen
Jugendstudie von Shell ca 10% - 20% aller Jugendlichen und damit eindeutig zu
viele für die damalige Organisationsform des Kapitalismus) verweigerten
uns der Leistungs- und Arbeitsgesellschaft. Hier wird ein weiteres Mal
deutlich, wie sich die gesamtgesellschaftliche Situation verändert hat.
Damals ist es kein Problem, mit drei Monaten Arbeit auf Lohnsteuerkarte
Arbeitslosengeld zu bekommen, und Bafög bekommen die meisten von uns. Und
heute: diese schleichende Existenzangst, überhaupt einen Job zu bekommen,
überleben zu können. Weiter hinten im Heft finden wir eine ganze
Seite aus der Theorie-Zeitschrift Autonomie - Materialien gegen die
Fabrikgesellschaft, aus der wir uns einen Teil unseres theoretischen
Hintergrundes herholten, nämlich die operaistische Version der Marxschen
Theorien.
In der nächsten Ausgabe folgt der Frontalangriff gegen die
Alternativbewegung mit einem Themenschwerpunkt mit dem Titel "Die neuen
Geschäfts(ver)führer der Alternativbewegung". Wir setzen uns
von der Alternativbewegung, die in den Jahren von 77 bis 80 die dominierende
linke Strömung war, ab. Heute, 1995, sind es von niemandem mehr
bestrittene Selbstverständlichkeiten, was damals gewagte Thesen waren:
nämlich daß die Alternativbewegungen letztlich auch die
nützlichen Idioten des Kapitalismus sind. Heute sind
"Teamarbeit" und "kollektive Verantwortung" in fast
jedem kapitalistischen Großbetrieb Grundlage der Arbeitspsychologie.
Damals wurde dies als Befreiung vom Kapitalismus gepredigt. Ein paar Seiten
weiter sind die ersten praktischen Vorboten des kommenden Sturms zu finden. Am
6. Mai hat es in Bremen bei einer Rekrutenvereidigung heftig geknallt. 256
Bullen sind verletzt worden, und die Seiten sind mit "Karneval in
Bremen" übertitelt. Auch in Berlin wird in einer
existentialistischen Aktion das Dach des Amerikahauses besetzt - eine Mischung
aus direktem Angriff und antiimperialistischem Gefasel, was aber später
eine wichtige Rolle in der Bewegung spielen wird. Nahezu absurd und
abstoßend klingt heute "Eine Welt - ein Feind - ein Kampf"
als Parole unter dem Flugblatt der AmerikahausbesetzerInnen. Damals traf genau
das eine vorhandene Wunschstruktur bei vielen. Und du konntest zumindest - wenn
du wolltest - dran glauben, daß der US-Imperialismus der Hauptfeind der
Menschheit sei.
Dagegen setzt die radikal in der darauffolgenden Ausgabe den Versuch,
die Bewegung 2. Juni wieder zu beleben - deren prominentesten Mitglieder in
jenem Sommer der Prozess gemacht wird (Drenkmann/Lorenz-Prozeß) - und
betont den populistischen, sozialrevolutionären Widerstand. Ausgelöst
wurde die Debatte durch die angebliche Selbstauflösung der Bewegung 2.
Juni durch den antiimperialistischen Flügel, der sich (natürlich
unter Mitnahme der prall gefüllten Kriegskasse) der RAF anschloß. In
den kommenden Monaten wird zwar nicht die Bewegung 2. Juni wiedererstehen, aber
das zugrundeliegende Konzept von vielen autonom operierenden militanten Gruppen
wird massenhaft aufgegriffen werden - nur nennt es sich jetzt eher
"guerilla diffusa". Zu dieser Tendenz gehört auch die zwei
Monate später erscheinende radikal-Sondernummer zum "2.
Juni-Diskussionswochenende", auf dem "Militanz wieder
diskutierbar" wurde. Damals ging es noch drum - nach dem
"deutschen Herbst" - Militanz wieder als Möglichkeit
aufzuzeigen, während es heute eher darum geht, sich nicht
ausschließlich auf Militanz und autonome Haßkappen reduzieren zu
lassen.
Einen Monat später erscheint die bereits am Anfang erwähnte Ausgabe
81 mit dem Schwerpunkt "Widerstand `80 - werft Schatten und
Ereignisse". Deutlich zu spüren ist nun der Einfluß der
französischen Diskursphilosophien und Wunschtheorien (Foucault, Deleuze,
Guattari, Baudrillard u.a.). In der Hausmitteilung ist die Rede von
"Wünschen zu verkoppeln" und "Weiten, die die
zurückgebliebenen Körper nicht zu erreichen vermögen".
Ein anderer Teil der radikal-Redaktion fügt hinzu:
"Urlaub gibt es nur im Gegensatz zu Arbeit; Heimat kennen nur
Seßhafte, welche die Meere und Landschaften scheuen, einen Hafen oder
Befestigungspunkt suchen. Wir reisen, sind unterwegs, nomadisieren, ohne Anfang
und Ziel, uns von Strömen, Meeren, Bewegungen, Autobahnen und Winden
treiben lassend ..."
Etwas ernster wird im Impressum der Zeitung die Entwicklung der letzten
Monate beschrieben (S.2, Nr. 81): "Was ist die radikal?
radikal erscheint seit Juni `76 in einer Auflage von 2.500 - 3.500
Exemplaren und ist - seit der Zerschlagung des INFOs und des BUG INFOs - die
einzige linke Stadtzeitung in Restberlin. Sie wurde ins Leben gerufen als ein
Diskussionsforum für die verschiedenen Fraktionen, Gruppierungen und
Parteien der Linken. Dieses Konzept, die damals noch relevanten Gruppen in
einen Dialog treten zu lassen, erwies sich allerdings als nicht realisierbar.
Im Laufe der Zeit verloren die ML-Ansätze an Bedeutung, Basisbewegungen
überwucherten die Ruinen der K-Gruppen. Diese Entwicklung spiegelte sich
in der radikal wieder, Berichte von und über die undogmatischen,
autonomen und anarchistischen Gruppen bestimmten mehr und mehr den Charakter
der Zeitung.
Die 80er Jahre begannen für die radikal mit einigen
zermürbenden Krisen, wodurch die Zeitung, entgegen dem gewohnten
14-tägigen Rhythmus, nur noch einmal im Monat erscheinen konnte. Seitdem
versuchen wir eine neue Konzeption an die Stelle der alten zu setzen. Doch dazu
bedarf es noch längerer politischer Diskussionen. Inzwischen hat sich das
Kollektiv wieder merklich stabilisiert (ähem, d. sätzer).
Wie funktioniert radikal? Zunächst .- wir sind alle
FreizeitjournalistInnen und somit auf Beiträge von dir und mir angewiesen.
Es gibt Leute, die aufgrund ihrer beruflichen Situation nur wenige Stunden an
unbezahlter Arbeit in die Zeitung einbringen können, für andere ist
die radikal der Mittelpunkt ihrer Arbeit. Bezahlt wird bisher nur der
Buchladen- und Kioskvertrieb mit einem Stundenlohn von 5.-DM. Die technische
Erstellung einer Zeitung von z.Z. 20-24 Seiten DIN A3 erfordert einen Haufen
Maloche: Wir setzen radikal selber; Lay-out, das Legen und der
Handverkauf sind weitere Arbeitsschritte, die bei jeder Nummer anfallen. Dabei
können wir jede Form von Unterstützung gebrauchen !!
Insgesamt ist radikal zu einem festen Bestandteil der Berliner Linken
und Alternativbewegung geworden. Das Feedback und die solidarische
Unterstützung vieler Gruppen und Einzelner in Restberlin gibt immer wieder
Leuten die Kraft, ihr Engagement für das regelmäßige Erscheinen
der radikal einzubringen.
Kommt zu unseren offenen Redaktionssitzungen! Unterstützt radikal!
Schickt Beiträge! Mach mit!"
In dem Themenschwerpunkt findet sich auch eine Collage, die mit einem
klassischen Zitat von Foucault ("Findet die Stellen, mit denen ihr
etwas anfangen könnt. In dieser Collage gibt es nichts zu verstehen, aber
viel, dessen man sich bedienen kann"), Deleuze/Guattari
("Die Diktatur des SINN's zersprengen, das Delirium in die Ordnung
der Kommunikation einführen, das Begehren, die Wut, die Verrücktheit,
die Ungeduld und die Verweigerung sprechenlassen") und von Radio
Alice ("Der Teufel ist auf die Erde zurückgekehrt, in
vielfältigen Erscheinungen. Der Teufel ist Alice, ist der totale Angriff
auf den Staat der Unterdrückung, ist unser Lächeln, ist unser Geist,
der denkt, der Teufel ist unser Körper, immer schöner und freier,
fähig zu lieben") geschmückt ist. Daneben finden sich auch
Zitate der RZ.
Damals hattest u.a. du genau das vertreten, weil es gegen den herrschenden Sinn
gerichtet war (und auch gegen die verlogenen linken Sinne). Aber heute, wo
sogar die Herrschenden keinen Sinn mehr vorgeben (zu dieser Zeit war viel vom
"Modell Deutschland" mit seinem Klassenkompromiß und
sozialem Frieden auf der Grundlage von Arbeit gegen Konsum die Rede), ist eher
gefragt, einen Sinn gegen das herrschende sinnlose Geblubber zu setzen, wieder
selbst etwas zu wollen. Was damals wirklich revolutionär war, ist heute
das sinnlose Zerreden von Allem und Jedem in irgendwelchen Talk-Shows auf den
TV-Kanälen geworden.
Einen weiteren Monat später ist die Ausgabe eher eine konventionelle
Sammlung von allerlei Basisaktivitäten, nur der Titel lädt für
Freitag, den 10. Okt. um 17.00 Uhr zur Demo gegen die drohende Räumung der
besetzten Häuser auf den Oranienplatz ein.
Die Ausgabe vom November '80 erscheint mit einem Punk-Titelbild (du
kannst dir nicht vorstellen, was das damals für einen Ärger gab) und
nennt sich erstmals im Untertitel von der Bewegung - für die Bewegung.
Auf der 2. Seite erscheint ein Artikel "radikal im
Bruch?!", der die Diskussionsfäden und Entwicklungen des
Sommers '80 in der Zeitung gut zusammenfaßt. Damals war er heftig
umstritten, da er endgültig den klaren Bruch mit der alten Szene fordert -
letztlich nur, um uns selbst im "Zentrum" der "neuen
Szene" zu plazieren.
"... aber zum glück werden alle theoretischen
überlegungen nur allzuoft von der realität überrannt ...
Es geht mal wieder um die radikal, aber diesmal wollen wir euch nicht
erzählen, daß wir kein geld haben, daß kein echo kommt, etc.,
sondern die radikal als szeneblatt problematisieren und in frage
stellen. Der bruch sozialistische zeitung für westberlin zu zeitung
für unkontrollierte bewegungen deuten wir auch als bruch mit großen
teilen der szene und linken. Diese trennung schmerzt uns nicht, im gegenteil,
sie kommt reichlich spät!
Wir stellen in schlagworten fest: die alternativbewegung ist gescheitert,
sie funktioniert als ein nebenzyklus des kapitalismus und ist damit keinerlei
gefahr für das system. Eher schafft sie die ideen und konzepte, um das
system über die anstehenden krisen zu bringen. Doch genau mit diesen
krisen und klassenkämpfen wird eine radikale infragestellung von
staat, gesellschaft und produktion einhergehen. Die jetzige linke und die
alternativbewegung werden in diesen kämpfen eine unbedeutende rolle
spielen.
Solchen problenmatiken müssen wir uns in der radikal stellen,
oder anders: ist es sinnvoll, eine zeitung wie radikal zu produzieren,
um sie dann wie saures bier in den alternativkneipen verkaufen zu müssen;
entspricht nicht ein blatt wie die zitty, in einer auflage von 30.000
Stück verkauft, viel eher der szene. Heißt das nicht, daß die
szene nicht mal mehr traditionelle sozialistische ansätze interessiert,
geschweige denn die neue stoßrichtung der radikal, für eine
autonome, anarchistische bewegung. Versuchen wir da nicht, die radikal
bei den falschen leuten an den mann/frau zu bringen?
Wir haben keine lust, radikal als selbstzweck zu produzieren, nur zu
unserem zeitvertreib!
Aber für wen dann???
Sollen wir vor schulen verkaufen???
Oder vor siemens???
Nachmittags am kottbusser tor???
Diese aufreihung erscheint uns selbst nur als ausdruck unseres
nichtmehrweiterwissens. Wir wissen zwar 'weg von der szene', aber nicht
mehr weiter. Wir wollen nicht eine zeitung für,
sondern von schülern, punks,
siemensarbeitern, jobbern, hausfrauen, rockern, massenarbeitern,
arbeitsemigranten, - ein paar alternativen nichtstuern, arbeitsscheuen,
aussteigern, kiffern, stadtguerilleros, ... . Wir wollen keine avantgarde sein,
nur vermitteln, was wir denken und für richtig/wichtig erachten; die
zeitung nicht für jemanden machen, sondern als ausdruck von bewegungen;
wollen multiplikator von ansätzen zu aufstandsbewegungen sein, ein faktor
eines aufstandes, unkontrollierte bewegungen, auf daß es brodelt und
kocht ... warum aufstände, das zu erklären, ersparen wir uns ... kein
blatt für leute, die dabei sind, sich einzurichten; den kreis der szene
sprengen. Raus aus unserem gemütlich angstvollen ghetto: anders gesagt:
sabotage und subversion sind überall, die szene ist nur ein teil davon:
schule schwänzen, krank feiern, wilde streiks, ladendiebstahl,
häuserkampf, schwarzfahren, ..."
Unterzeichnet ist das Ganze von "ein kleiner Teil der
radikal-Redaktion - jacques mesrine, wurzelsepp und themrock".
Ansonsten ist das Heft voll mit all den kleinen, belanglosen Meldungen und
Aktivitäten wie Hausbesetzungen, etc., die sich erst durch den 12.12. zu
einer geschichtsmächtigen Kraft entwickeln werden.
In der Dezember-Ausgabe geht es noch einmal um alternativen Konsum; eine
weitere Abarbeitung an der Alternativbewegung, aber auch gegen den Puritanismus
der "echten Linken". Es geht um die Befreiung der Wünsche,
und nicht darum, Konsum als Ersatzbefriedigung für die wahren Wünsche
abzutun (ja, ja, da hatten ein paar den "Anti-Ödipus" von
Deleuze/Guattari (an)gelesen und meinten nun, ihr neues Wissen zum Besten geben
zu müssen).
Einen Monat vor dem legendären 12.12. findet sich ein Stadtteilplan von
Kreuzberg 36 mit allen besetzten Häusern im Heft und die
"Biber und Waschbären" rufen dazu auf, falls ein Haus
geräumt werden sollte, sich sofort was darauf einfallen zu lassen, und
z.B. "Barrikaden zu bauen, Brücken und Kreuzungen zu besetzen,
zu stören , wo es nur geht, etc.". Die kommenden Ereignisse
werfen wahrlich ihre Schatten voraus ...
Der Sturm bricht los
Am 12.12. ist es dann soweit. Aus dem Versuch der Bullen, ein frisch
besetztes Haus zu räumen, entwickelt sich eine große
Straßenschlacht um Kreuzberg 36, und erstmals werden die Bullen,
natürlich nur für Stunden, sozusagen offen besiegt und aus dem
Stadtteil gejagt. Einige Geschäftsinhalte am Kotti werden umverteilt.
Schon am nächsten Tag wird "der Ku'damm platt
gemacht", und zwei Tage später kriegen wir von den Bullen,
die mittlerweile aus ihrer Paralyse erwacht sind, kräftig eins auf die
Nuß zurück. Aber politisch bleiben die Herrschenden - u.a. auch
wegen der Garski-Affäre stark angeschlagen - erstmals wenig
handlungsfähig und müssen in den kommenden Monaten etwa 200
Neubesetzungen von Häusern hinnehmen.
Schon wenige Tage später ist die radikal mit einem
EXTRABLATT am Geschehen. Neben einer Chronologie der Ereignisse gibt es
einen programmatischen Artikel, der auf die Einheit von militanten Aktionen und
friedlichen Großdemos setzt und davor warnt, sich auf die Ebene der
nackten Konfrontation locken zu lassen. "Immer mehr verlassen Arbeit,
Schule und Familie, streunen durch die Straßen auf der Suche nach neuen
Freundschaften. Gutes Essen, Wein und Waffen gibt es mehr als genug hinter den
Gittern dieser Wohlstandsgesellschaft. Man braucht keinen Beruf mehr, um im
Reichtum zu leben, sondern lediglich Steine, Werkzeug und zuverlässige
Freunde." Aber auch genügend selbstkritische Töne sind
enthalten, vor allem wegen der vielen Verletzten und Verhafteten auf unserer
Seite: "noch ein paar solcher Siege und wir sind fertig".
Und es wird die zentrale Auseinandersetzung der kommenden Monate formuliert:
"Keine Verhandlungen, solange Leute von uns im Knast sind."
Heute liest sich das fast absurd, denn heute geht es darum, die Herrschenden
überhaupt zum Verhandeln zu kriegen, doch damals kamen sie angerannt und
wollten mit jemandem verhandeln und reden, aber wir verweigerten geschlossen
(zumindest in diesen Tagen) den Dialog. Das ist nur vor dem Hintergrund der
damals ganz anderen Atmosphäre und der sozialdemokratischen
Integrationspolitik zu verstehen. Die Macht wollte dich immer integrieren,
vereinnahmen, kleinreden, und es war ein riesiger Moment von Stärke zu
sagen: "Nein, mit euch reden wir nicht. Wir haben nichts zu
verhandeln." Heute denke ich manchmal, daß dies vielleicht auch
unser zentraler politischer Fehler gewesen ist. Wir hätten doch verhandeln
sollen, so wie Solidarnosc in Polen: offen, um 12.00 Uhr auf dem Oranienplatz,
12 VertreterInnen des Besetzerrates treffen sich mit der
SPD/FDP-Landesregierung, und alles wird live im Fernsehen übertragen. Aber
hätten wir da mehr rausgeholt? Wahrscheinlich wären wir genauso
hingehalten und totgeredet worden wie heute die EZLN in Mexiko.
Einer grundsätzlichen Legalisierung aller besetzten Häuser und
Enteignung aller Spekulanten hätten sie auch damals nicht zugestimmt,
geschweige denn die Gefangenen rausgelassen. So entstand zumindest für 3 -
4 Monate der Raum, in dem es möglich war, über 200 weitere
Häuser zu besetzen. Spätestens im April, nach der Räumung des
Fränkelufers, zerbrach der Besetzerrat in verhandlungsbereite Häuser,
die ihre Legalisierung anstrebten, und dazu nicht bereite Häuser, in denen
viele der Menschen wohnten, die die radikal machten.
Auffallend ist, daß nun für das nächste halbe Jahr nahezu alle
programmatischen Artikel in der radikal fehlen. Inhaltlich ist
eigentlich alles gesagt, nun sind wir am "machen". Deshalb liest
sich die Zeitung bis zum 12.12. heute viel lebendiger und spannender, weil der
zur Tat drängende Gedanke immer noch deutlich spürbar ist.
Gleichzeitig, und das hätte mensch oberflächlich nicht gedacht,
raucht sich in diesen Monaten das sich erst vor einem halben Jahr neu formierte
Kollektiv der radikal auf und ist bis zum Sommer am Ende. Wie bei einem
Vulkanausbruch kommt nach der Eruption nichts mehr nach. Da ist nichts mehr,
außer das Vor-Sich-Hinblubbern im eigenem Vulkankrater, bei einer neuen
Anordnung der wieder zu Stein geronnenen Lava.
Ach ja, fast hätte ich es vergessen: den ganzen Herbst und Winter
über laufen 'zig Versuche der Justiz, die Zeitung zu
kriminalisieren. Doch die werden einerseits von den Radis nicht sonderlich
ernst genommen (mensch hat Besseres zu tun) und andererseits wird deutlich,
daß Kriminalisierung politisch entschieden wird, und die entscheidenden
Köpfe in der Justiz merken schon, daß zu diesem Zeitpunkt ein dickes
Justizverfahren (z.B. zum Thema "Werbung für die Bewegung 2.
Juni") für sie politisch nach hinten losgeht. Aber keine Sorge, der
Abrechnungsversuch der Justiz kommt schon noch, nur eben zwei Jahre
später. So werden letztlich alle Verfahren dieses Herbstes eingestellt.
Beweismäßig war da einiges gesicherter als bei den späteren
Verfahren. In der Hausmitteilung 2/81 meint die radikal dazu:
"Wir bitten die zuständigen Staatsorgane hiermit
öffentlich, von weiteren Zusendungen abzusehen, in denen uns mitgeteilt
wird, daß wieder ein neues Ermittlungsverfahren gegen die radikal
eingeleitet worden ist. Wir verlieren nämlich langsam den Überblick
bzw. haben aufgehört, mitzuzählen." Doch außer so
arroganten Sprüchen - die aber erst heute so wirken, damals waren sie
für uns real und mitnichten arrogant gemeint - wird auch versucht, aus der
"kleinen kriminellen Vereinigung" eine
"große" zu machen und allerlei Initiativen und
Projekte ins Impressum als MitherausgeberInnen mit aufzunehmen. Alle diese
Faktoren zusammen genommen schaffen der radikal erst mal den Raum, in
den nächsten eineinhalb Jahren ungehindert erscheinen zu können.
Innerlich kopfschüttelnd liest du heute die Texte von "kleinen
Horden von Aufständischen, die durch die Städte schweifen",
aber selbst hast du damals auch so geträumt und zumindest auch
ansatzweise gefühlt und gelebt. So bruchlos wie in der Erinnerung scheint
das damals schon nicht gewesen zu sein. Im Begleittext ist der moralische
Imperativ unüberlesbar, daß "dieser Text für alle
ist, die dabei sind zu vergessen, daß sie nichts zu verlieren
haben."
In der Januarausgabe sind zwei Seiten voll mit Erklärungen von
neubesetzten Häusern abgedruckt: "erst werden Häuser
besetzt, dann Stadtteile, dann Städte, dann ... wir wollen
alles", bemerkt dazu der Sätzer. Das war die von uns
gewünschte Dynamik der Bewegung, die nur leider schon bei den Häusern
stoppte. Später, am 1. Mai '87 gelang uns kurz, für wenige
Stunden, das mit dem Stadtteil.
Ein weiterer zentraler Konflikt der BRD-Gesellschaft in dieser Zeit war der
Anti-AKW-Kampf. Am 28. Februar treffen sich ca. 100.000 Menschen zu einer
verbotenen Demo. "Karneval in Brokdorf"
titelt die radikal (2/81) und zeigt einen Karnevalsnarren mit
Seitenschneider. Die Rückseite zeigt die Motti der Zeit (Aneignung,
Verweigerung und Entschlossenheit) bildlich umgesetzt.
Es erscheinen die ersten reflektierenden bzw. nachdenklichen Artikel zum
Häuserkampf: "Von der Sprachlosigkeit der Bewegung".
Heute fällt dir besonders die platte Gegenübersetzung von
die Bewegung und der Staat ins Auge. Aber damals hattest weder du
noch sonstwer was von Gramsci gehört. Unsere Stärke war ja auch genau
das, nämlich frontal anzugreifen und uns nicht als politikmachende Kraft
in einem gesellschaftlichen Kräftegeflecht zu sehen. In einem anderen
Artikel "Die Revolte hat erst angefangen" fällt mir
vor allem die triefende Moral ins Auge. Die Empörung darüber,
daß einer von uns wegen Steinewerfens zu 18 Monaten verurteilt wird und
gleichzeitig völlig legal U-Boote nach Chile und Südafrika verkauft
werden. Diese moralische Empörung ist als treibende Kraft der Bewegung
sicher wichtig, aber langfristig bleibt sie unpolitisch.
Der Wind dreht sich
Schon auf dem Titel der April-Ausgabe (Nr. 91) schaut einen ein
trauriger Clown an und fragt "Bewegung kaputt?". Zu diesem
Zeitpunkt, an dem, wenn du dich heute daran erinnerst, die Bewegung eigentlich
auf dem Höhepunkt gewesen ist, war sie real schon am Zerfallen. Im
Frühjahr '81 werden wir zerrieben zwischen der Gegenoffensive des
Staates (ereignishaft festmachbar an der Räumung des Fränkelufers)
und den eigenen Fliehkräften, die - kaum hatten sie sich gebündelt -
schon wieder in alle Richtungen auseinandertrieben. In Berlin geht es um den
Streit zwischen VerhandlerInnen und NichtverhandlerInnen und den Versuch der
Alternativen, uns ins System zu reintegrieren. Konkret erfahren wird es
jedesmal anders, strukturell ist es das Schicksal jeder Bewegung. Heute
liest sich das alles sehr ironisch. Die damaligen
"Integrationsstrategen" sind heute in der SPD oder sonstwo, und
"wir", d.h. die Leute, die du 1995 noch auf Kreuzberger
Straßen treffen kannst, die damals "die Alternativen"
heftig bekämpft haben, sitzen heute genau in jenen Alternativklitschen,
weil sie uns ein ökonomisches Überleben und damit einen Fortbestand
als linksradikale Szene ermöglichen. Im Rückblick betrachtet, ist es
uns gelungen, einen Teil dieser Integrationsstrategie für unser
Überleben umzudrehen. Viele andere sind uns völlig aus den Augen
verschwunden. Die meisten hat mit gleicher Radikalität, wie sie damals die
Integration ablehnten, die Existenzpanik erfaßt, und sie sind heute
irgendwo, integriert und kaltgestellt, ...und war was ... ?
Aber die Kräfte verschleißen wir auch in der "nackten
Konfrontation". Verzweifelt bemühen sich verschiedene AutorInnen,
einen Ausweg zu finden. Direkt kommt die Bewegung gegen den sich formierenden
militärischen Apparat der Herrschenden nicht an. Und wir merken, daß
wir doch etwas zu verlieren haben.
Themrock formulierte dies so:
"Hört auf euch zu verheizen
wir wollen keine menschen entbehren
in diesem schweine-staat
haben wir nicht list genug
hinter den kanonen zu stehen
die sie auf uns richten
hört endlich auf euch zu verheizen
wir brauchen jedes bißchen leben
in diesem grauen land
haben wir nicht kraft genug
sie da zu treffen
wo sie nicht auf uns warten
ich hab schon beton brennen sehen"
Im Vorspann zum Artikel "Die alternativen Techniken des sanften
Staatsschutzes" ist gut zusammengefaßt, wie dieser andere
Angriff des Staates aussieht: "Was eigentlich schon jeder ahnte,
vielleicht sogar wußte, hier haben wir es jetzt schwarz auf weiss: es
finden Geheimverhandlungen zwischen Sozialdemokratie und Netzwerk statt, wie
man sich der staatlichen Kontrolle entziehende Teile der Jugend wieder in den
Staat integrieren, oder sie wenigstens auf einem alternativen Nebenzyklus
kaltstellen kann. Dieser Staat will und kann nicht auf 10 - 20 % der
Jugendlichen verzichten, dazu ist er ein viel zu anfälliges
hochtechnisiertes Gebilde; diesen Bodensatz/Sumpf an Verweigerung, der jeden
Augenblick zum Angriff übergehen kann, will der sozialdemokratische Staat
jetzt endlich ausrotten/trockenlegen, weil er ihm, vor allem im Ausblick auf
die kommenden Jahre, immer gefährlicher wird. Ohne uns. Wir lassen uns
nicht integrieren. Wir werden hier schon noch alles zur Wiese machen.
Paßt bloß auf !!!"
Das Ganze ist garniert mit einem Zitat von M. Foucault: "Das Leben
und die Zeit des Menschen ist doch nicht Arbeit, sondern eher: Lust,
Unstetigkeit, Feste, Ruhe, Bedürfnisse, Zufälle, Begierden,
Gewalttätigkeiten, Räubereinen, etc. ..."
Die nächste Ausgabe (Nr. 92, 5/81) ziert dann ein Titelbild, das sich mit
den integrativen Angriffen auf den militanten Flügel der Bewegung
auseinandersetzt: taz, Netzwerk, ufa-fabrik und AL sind von der Bewegung
7. April entführt worden und gestehen nun ihre schändlichen
Pläne. Doch politisch ist es genau damit den Herrschenden gelungen, die
Auseinandersetzungen in die Bewegung zu tragen. Nicht mehr die
CDU/SPD/FDP-Politik ist der Hauptgegner, sondern die relativ Nächsten, die
obige Viererbande. Und gerade wir formulieren diesen Streit voll mit, ja ziehen
einen Großteil unserer politischen Identität aus diesem Konflikt.
Wir sind "NichtverhandlerInnen" und nicht mehr
"HausbesetzerInnen". Gewinner in einem gesellschaftlichen
Konflikt ist immer derjenige, dem es gelingt, sein Anliegen und den Streit
darüber in die Reihen des Gegners zu tragen.
Ein weiteres wichtiges Thema des Frühjahrs war der Hungerstreik der
Gefangenen aus der RAF. In dieser Ausgabe (Nr.92) wird ein Papier von
Mitgliedern der Revolutionären Zellen (aber nicht dem Gesamtzusammenhang
RZ) mit dem Titel "Wird Zeit, daß wir leben" zum
Thema veröffentlicht, das in seinen Grundaussagen der vorherrschenden
Meinung in der Redaktion entspricht. [Die Authentizität dieses Papiers ist
allerdings fraglich, Anm.] Darin heißt es: "So oder so, alle
die den hs, egal in welcher form unterstützt haben, haben ein recht auf
offenheit und ehrlichkeit. Wo nehmen die Gefangenen aus der raf die
vermessenheit und den realitätsverlust her, einen satz zu papier zu
bringen wie: 'Aber wir meinen auch, daß wir nicht die erfahrung der
ira machen werden, nicht zuletzt, weil wir solidarität erfahren haben'.
Die raf hat - auch nicht im entferntesten - die politische verankerung und
militärische stärke der ira - ebensowenig läßt sich die
solidarität, die die raf-gefangenen erfahren haben, mit der messen, die
den irischen gefangenen in den h-blocks zuteil wurde. Das erinnert uns alles an
die altbekannte, aber immer unerträglicher und peinlicher werdende
großkotzigkeit und selbstüberschätzung der raf, für die
selbstkritik ein fremdwort ist und die damit nur helden (fighter) oder
verräter bzw. counterschweine kennt/produziert.
In den meisten papieren, so auch in der Hungerstreikerklärung vom
6.2.81, ist immer wieder die rede von der 'politisch-militärischen
offensive der raf 77'. Dies stimmt - bestenfalls - für die monate april
bis september 77. Was war die ganzen jahre davor? Was danach? Wo ist die rede
davon bzw. die problematisierung dessen, daß die raf spätestens zwei
wochen nach der schleyer-entführung die politische initiative aus der hand
gegeben hatte und sich auf mauscheleien und nichtöffentliche verhandlungen
mit dem staat einließ, im gegensatz zur lorenz-entführung die aktion
immer mehr zum bloßen deal verkam? Welche politische brisanz liegt allein
in der person schleyers - für fast jeden deutschen arbeiter damals symbol
und personifizierung des deutschen (faschistischen) kapitalistenschweins! Und
wie wenig wurde damit angefangen! Wo ist die politisch-propagandistische
verwertung der informationen geblieben, die schleyer geben konnte? Was
bedeutete die entführung der 'landshut', was hat die raf mit den
begründeten kritiken an dieser (selber produzierten counter-)aktion, die
ihre politische isolierung und niederlage 77 vollendete, angefangen? Fragen
über fragen. Wo sind nur versuche von antworten von seiten der
raf???"
Die RAF antwortet darauf nicht. Erst elf Jahre später erscheint ein
ausführlicher selbstkritischer Text - aber nur für die Jahre nach `84
und damit mindestens elf Jahre zu spät. Was wäre damals möglich
gewesen, wenn das im April '92 erschienene Papier der RAF als Antwort
auf das [angebliche, Anm.] RZ-Papier zum Hungerstreik '81 erschienen
wäre?? Geloost!!
Zu diesem Zeitpunkt taucht ein erster Artikel auf, der versucht, sich politisch
an den Begriff "Autonomie" anzunähern, und der kurz die
italienische operaistische Theorie der "autonomia" vorstellt. Es
beginnt der Versuch, uns als Autonome zu definieren, denn die inhaltliche Leere
der eigenen Rebellion wird auf Dauer doch gespürt. So fahren in diesem
Sommer einige BerlinerInnen nach Italien, um sich als "Autonome in
Aktion" bei den "Autonomen der Theorie" ein wenig
umzusehen. Dazu später.
Immer wieder, in 'zig Bildern, ist in der radikal die Vorstellung
von der Zerstörung der Städte zu finden. Nicht die Stadt umzubauen,
sondern Städte sowie AKWs wieder zur Wiese machen, ist das Traumbild:
"Nichts erregte in ihnen soviel Ekel und Panik wie der Gedanke, beim
Wiederaufbau dabeisein zu müssen."
Als der Stern der radikal als Bewegungszeitung aufgeht, geht es
gleichzeitig dem ID (Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener
Nachrichten) an den Kragen - er hat seine Zeit überlebt. Doch geht der
Stern der radikal wirklich auf? Das Kollektiv hat sich, wie gesagt,
innerhalb eines Jahres aufgeraucht. Einige Leute treten, nervlich unter anderem
wegen der ständigen Nachtwachen in den besetzten Häusern am Ende, der
vielen Alarme wegen, der anstrengenden Kämpfe wegen, etc., aus dem
Zeitungskollektiv wieder aus. Der Tag hat nun mal nur 24 Stunden, und
schneller, als mensch denken kann, stehen sich 'zig Dinge, die mensch
eigentlich gerne macht, alternativ gegenüber. Der
"Häuserkampf" ist für die eigene "politische
Klasse" zum full-time-job geworden. Die wenigen, die sich entscheiden,
weiterzumachen, suchen neue Leute für die radikal und werden diese
aus all den ganz "Neuen" des Häuserkampfes im
Spätsommer gefunden haben. Ein neues Kollektiv entsteht. Aber nicht nur
neue Köpfe, auch neue Ideen werden gesucht.
Durch den Sommer kommt die Zeitung mit zwei dünnen Extra-Ausgaben. Die Nr.
96 kündigt den Tuwat-Kongreß als "Spektakel des
Grauens" und "für den Untergang
des Abendlandes" an.
Zu einem zentralen Thema werden die Diskussionen um Befreiungsnationalismus -
u. a. am Beispiel Nordirland und der IRA/INLA: "Jetzt zu den
inhaltlichen Schwierigkeiten, die ich mit dem Kampf in Nordirland hab:
gefordert wird ein gesamtirischer Nationalstaat. Was ist eigentlich an dieser
Forderung unterstützenswert? Wir fordern doch auch kein 'vereinigtes,
unabhängiges und sozialistisches Deutschland', obwohl dieses Terrain
gleich von vier imperialistischen Mächten besetzt ist. Hier wissen wir
doch, daß dies kein Schritt vorwärts in Richtung Befreiung, eher 200
Schritt zurück bedeuten würde. Warum soll das dann in Irland auf
einmal revolutionär sein?" fragt "stiff little
fingers". Deshalb findest du heute so erschreckend, daß sich viele
Diskussionen so alle zehn Jahre wiederholen; daß du mit jedem neuen
Bewegungszyklus durch dieselben Dummheiten noch mal durchmußt. Und wenn
du dann "klug" und differenziert genug bist, fehlt dir die
Naivität und Begeisterung, um dich hemmungslos in die Dynamik einer
Bewegung zu stürzen.
In der zweiten Extra-Ausgabe (Nr. 97, 8/81) erscheint unter dem Titel
"Anarchie als Minimalforderung" der Versuch, sich als
autonome Bewegung zumindest ein paar inhaltliche politische Eckpunkte zu geben.
Wie gesagt, sind einige von uns in Padua bei den noch nicht verhafteten
theoretischen Köpfen der "Autonomia Operaia" gewesen. Diese
hatten sie aufgefordert, ihre Bewegung mal inhaltlich zu skizzieren. Und genau
um diese Thesen wird sich in den kommenden Monaten eine heftige Diskussion in
der Berliner Bewegung entwickeln. Die radikal wird das Forum dazu sein.
Heute mußt du unwillkürlich grinsen, wenn du die Thesen noch mal
liest. Und trotzdem, damals war es der authentische und richtige Ausdruck von
unserem Denken. Aber der Hintergedanke, unserem diffusen rebellischen
Lebensgefühl ein politisch-ideologisches Fundament unabhängig von
Tagesereignissen zu geben, gelingt nicht so richtig, wie die heftige Diskussion
zeigt (Nr. 98 I, 9/81). Bald schließt sich mit dem Text "Bildet
Banden" von Klaus Viehmann ein zweiter Versuch an, ein
Theoriegebäude zusammenzuzimmern.
Doch nicht nur in Berlin hat sich der Wind gedreht. J. M. berichtet aus
Zürich von seiner "Reise nach Zürich - Reise in einen
Mythos": "zürich - die dortige bewegung ist mittlerweile
ein trümmerhaufen - ein mythos - ein medienprodukt - eingekauft und
integriert - zerschlagen - die reste liegen bekifft und besoffen in dem
'gesellschaftlichen freiraum' ajz rum - oder haben sich auf irgendwelchen
trampelpfaden im dschungel verfangen ..."
Als Anmerkungen zu einem Artikel über Medien, der sich sehr in der
orthodoxen linken Diktion von "Wahrheit und
Lüge","wahren und falschen Bedürfnissen",
"Ersatzbefriedigung" und "Manipulation" bewegt,
findest du dann die medientheoretischen Überlegungen eines Teils der
radikal: "Kurz vor Schluß, morgens um 7 Uhr beim Layout,
werden noch ein paar weitere Gedanken dazu eingeworfen:
1. Jedes Medium schafft Realität und stellt keine dar. Deshalb gilt es,
bewußt vom subjektiven Standpunkt und immer das Auge des Kameramannes
oder des Autors bejahend, Medien zu benutzen.
2. Jede Sprache ist Herrschaftssprache. Deshalb will ich umsomehr
Subjektivität und Nicht-Allgemeinheit in einen Text einfließen
lassen; 'ich' und nicht 'man'.
3. Jedes Medium erzeugt eine gewisse Totalität von Situationen, die
real so nicht gegeben sind - z.b. beim Film Reduktion des Sehens auf eine
viereckige Fläche.
4. ein anderes mal ..."
So kurz und knackig formuliert hab ich dies selten gefunden. Und was ist heute:
wieder die Langeweile von "was wahr ist,
wird auch gedruckt", etc. Es ist eben nichts wahr!
Gleichzeitig ist es zu einfach, es platt umzudrehen: Nicht jede Sprache ist
gleichgewichtig Herrschaftssprache, und die unterschiedlichen materiellen
Bedingungen müssen auch bedacht werden.
Die nächste Ausgabe (Nr. 98 II, 10/81) trägt den Untertitel:
Zeitung für Anarchie und Wohlstand.
Innen kommen deutlich die Kräfte zu Wort, die sich gegen die
Ideologisierung des autonomen Lebensgefühls stemmen:
"Freizeit '81 hat irgend etwas mit
Politik zu tun". Nicht wenige - auch aus der
Redaktion der radikal - bekommen, wenn sie solche Sätze lesen,
einen Herzkasper.
"Freizeit `81 ist gewaltlos oder militant, legal oder illegal,
ängstlich oder stark, auf jeden Fall: GEFÜHL UND HÄRTE !
Freizeit `81 ist Widerstand aus dem Bauch, eine unkontrollierte Reflexbewegung.
Niemand kann mit jeder Aktion einverstanden sein, aber jeder sollte seine
eigenen Sachen machen. Nur Mut, aber PASST BLOSS AUF! Bildet kleine Gruppen
(nur mit bekannten Leuten) oder bleibt Einzelkämpfer"
heißt es in einem auf der Rückseite abgedruckten Manifest von
"Freizeit '81".
Trotz des Untertitels Zeitung gegen den
freiwilligen Rückzug in die Reservate
sind (in der Ausgabe Nr. 99 (11 + 12/81)) die auf Seite 3 geschilderten
Rückzugsgefechte aber Realität. "Warum ist es so ungeheuer
schwer, autonome Strukturen aufzubauen, die es uns ermöglichen, unsere
bisher gemachten Erfahrungen zusammenzutragen und umzusetzten und gleichzeitig
den neu zu der Bewegung stoßenden Leuten die Möglichkeit zu geben,
ihre eigenen Erfahrungsprozesse zu machen - und das alles, ohne uns zu
isolieren?" Der Satz könnte genausogut im Vorfeld
des Autonomie-Kongresses Ostern '95 geschrieben worden sein. Der
Unterschied ist nur, daß uns heute die damalige Torschlußpanik
fehlt. Wir leiden eher unter der Gewißheit, daß es ewig so weiter
geht. "Ich will den zweiten Ansatz einer sozial-revolutionären
Bewegung in deutschen Landen nicht einfach zur Geschichte zählen. Ich habe
einfach die Angst, wir haben keine Zeit für einen dritten."
Deutlich schlägt sich auch das Erschrecken über die Dimension
des Krieges, der gegen die Bewegung geführt wird, in den Zeilen von
"Thesen zur Verweigerung des Krieges durch die Bewegung"
nieder (Seite 6). Im Prinzip ist darin alles gesagt, und besser
läßt es sich auch heute kaum formulieren. Subjektiver formuliert
dies j.m. in einem Gedicht:
"irgendetwas ist tot in mir
ausgebrannt
meine radikalität des sommers 80
vorbei?
oder nur literarisch existent
jener gelebte existentialismus - weg
damals lag trotz allem
noch etwas vor mir
heute spür ich zum ersten mal ein reales 'no future'
wollte meine tagträume zur wirklichkeit machen
verloren geht die Spannung zwischen dem was ist
und dem, was ich will
die ästhetik des alltags
der alltag als spielfilm
realität macht banal und dumm
die revolte ist gelebt
vieles kein ferner traum mehr
ich wollte alles
und jetzt nichts mehr
fast alles hat seine erotic und exotic verloren
zurück?
ich will nie zurück - aber keine ahnung
wie und wo's weitergehen könnte
in richtung militärische eskalation für mich nicht
neue erfahrungen, situationen, orte, terrains suchen
aber wo?"
Eine Seite weiter kommt die Fortsetzung von "Bildet Banden" -
sicher damals noch der angenehmste Versuch, der Bewegung einen ideologischen
Rahmen zu verschaffen. Am meisten stößt mir heute unser damaliges
"primitives" Staatsverständinis auf: Hier sind
"wir", und dort ist der Staat. Das ganze als komplexes Gebilde
und Austragungsort von 'zig Interessen und Kräften und uns als Teil
(wenn auch linksradikaler) der Gesellschaft zu sehen, war damals nicht drin und
ist ja auch heute noch eine sehr schwere Übung. Die Einfachkeit unseres
damaligen Weltbildes finde ich heute fast herzzerreißend. Aber genau
daraus zogen wir unsere Stärke, aus diesem "hier sind wir und da
seid ihr", und wir sind die "Guten" und ihr die
"Bösen". Vielleicht ist das eine Grundbedingung für
eine Bewegung.
Und die naive Hoffnung, daß das, was wir tun, nur der Anfang für
eine noch viel größere Bewegung ist. Da merkst du, wie eingerichtet
du heute in einer prinzipiellen Hoffnungslosigkeit lebst. Es sind zwar Tausende
von 80 Millionen, die rebellieren, aber eben nicht mehr, und du hast eben keine
Hoffnung auf "siegen".
In der Januarausgabe '82 (Nr. 100) ziert ein alter
Männerkörper - die Bewegung - das Titelbild. Und noch etwas ganz
anderes sticht deutlich ins Auge: daß es einfach nicht stimmt, was unsere
Ex-DDRlerInnen in Abgrenzung von uns Westautonomen uns vorwerfen, daß wir
uns nie um den "Ostblock" gekümmert haben. Aus Anlaß
der Verhängung des Kriegsrechts in Polen, ca. 80 km von Berlin-Kreuzberg
entfernt, ziehen ca. 200 Leute im Anschluß an ein Treffen des
Besetzerrates auf den Ku'damm und in einer kurzen, aber entschlossenen Demo
unter dem Motto "Aufstand in Ost und West - gegen Warschauer Pakt und
NATO-Pest" werden gezielt die Scheiben von den vier
Fluggesellschaften Aeroflot, Lot, Pan Am und BA eingeworfen. Es gab
Solidarität mit den kämpfenden Bewegungen im Ostblock, aber diese
Solidarität brauchte erstens ein Subjekt und zweitens die Voraussetzung,
daß die Kämpfenden dort sich nicht den Herrschenden
hier in die Arme werfen. Gut, die Solidarität war - trotz Walesa
und Papst - im Fall Polen leichter, da die Westbanken aus Angst um ihre Kredite
den Militärputsch z.T. offen begrüßten. In der Ausgabe 108, in
der auf drei Seiten die sozialrevolutionären Dimensionen von Solidarnosc
(vor allem der geplante Übergang zum "aktiven Streik", in
dem die ArbeiterInnen die Verteilung ihrer Produktion selbst in die Hand nehmen
wollten) rausgearbeitet werden, ruft die radikal eindeutig zur
Unterstützung des autonomen Widerstands der osteuropäischen
ArbeiterInnen und Arbeiter auf. Aber wie ihr (Ex-DDRlerInnen) zu recht
kritisiert, wenn Antiimperialisten mit der StaSi zusamenarbeiten, so ist euch
die Zusammenarbeit mit den Westmedien vorzuhalten. Leider war die Position der
radikal (und zudem in dieser Eindeutigkeit) damals in der Bewegung
sicher nicht mehrheitsfähig, besonders nicht auf emotionaler Ebene. Auf
der konkreten Erfahrungsebene war mensch eben nur mit den Amis konfrontiert
(z.B. Startbahn West; Nato-Nachrüstung etc.) und eben kaum mit der Roten
Armee.
Der Titel der Ausgabe 101 (2/82) zeigt vor dem Hintergrund einer Karte, mit den
in Polen errichteten Internierungslagern, einen nachdenklichen Maskierten, der
das Motto ausgibt: "Der Apokalypse ein Stück näher, bleibt
uns der Ansporn, die Zeit noch intensiver zu verplempern."
Die Zeitung beschäftigt sich ansonsten mit der Fortsetzung der
Autonomie-Diskussion und dem Bemühen, durch irgendeine geniale
Denkleistung den Stillstand der Bewegung zu durchbrechen. Heute kannst du nur
lachen über all diese Übungen. Heute ist das Wissen um den
strukturellen Ablauf dieses Zerfallsprozesses im eigenen Unterbewußtsein
tief verankert. Je mehr Monate ins Land gehen, um so ideologischer werden die
Texte. Der Staat wird nicht nur emotional zum Hauptfeind erklärt, es wird
auch deutlich ausformuliert - wie viel haben wir in den Jahren danach lernen
müssen, daß Nicht-Staat eben nicht herrschaftsfrei heißt und
Macht und Herrschaft sich ganz anders konstituieren, als wir damals dachten.
Allerdings klingt das auch schon in zwei Beiträgen zur
Autonomie-Diskussion an.
Auffällig ist, daß Frauenthemen (außer zum Thema
Vergewaltiger) in der radikal nahezu nie auftauchen, obwohl formal
betrachtet die Quotierung nicht das Problem ist. Es dauert bis zum Sommer
'83, bis diese Themen erscheinen bzw. überhaupt erstmals ein
subjektiver Frauenstandpunkt eingenommen wird. Ab Sommer '84 erscheinen
- als Teil des Zerfalls der radikal - einige Ausgaben der Anagan,
einer militanten Frauenzeitung.
Überhaupt kann mensch für feministische Inhalte und Positionen die
Bewegung 80/81 als ein "Zurück auf Los" bezeichnen. Sind
z.B. in dem aus dem damaligen radikal-Umfeld im Herbst '80
produzierten Schwarzen Kalender '81 noch deutlich Frauenstandpunkte und
feministische Inhalte, auch im Layout, zu entdecken, so ist dies
spätestens ab dem 12.12.80 verschwunden. Fortan bestimmen wieder
"männliche" Werte die interne Wertehierarchie, und in Form
des "streetfighters" feiert der altbekannte männliche Macker
seine fröhliche Wiederauferstehung. In 'zig Medien (in unseren
eigenen wie den bürgerlichen) werden die Bilder des einzelnen, maskiert im
Tränengasnebel heroisch kämpfenden "streetfighters"
reproduziert und schaffen in vielen Köpfen die Vor-Bilder, an denen du
dich abarbeitest und die du doch nie erreichst. Immer wieder zuviel Angst,
zuviel Zweifel, zuviel Unsicherheiten, und kein Platz und Ort in der Bewegung,
an dem du über dies reden und dich austauschen kannst. Wer nicht mithalten
kann, verschwindet klammheimlich - als individuelles Nicht-mehr-Können
oder gar Versagen verarbeitet - aus der Bewegung. Daran, daß die Werte
"männliche" sind, ändert auch nichts, daß es
nicht nur die Jungs sind, die selbst bei 30 Grad im Schatten nur ungern ihre
Lederjacken ausziehen.
Du selbst als Autor dieses Textes hattest zwar in Westdeutschland schon einiges
an feministischen Inhalten aufgeschnappt, die COURAGE war dir nicht
unbekannt, du konntest locker einige Sätze dazu sagen und über
manches reden; und trotzdem blieb dir vieles äußerlich. Eine
wirklich existenzielle Auseinandersetzung mit feministischen Ansätzen
beginnt für dich am Ende dieses Bewegungszyklus (1983) und kommt erst
richtig in den ein, zwei Jahren der IWF-Kampagne (vor dem September 1988) zum
Ausbruch. Dies ist nicht nur ein individuell-biografisches Problem, sondern
symptomatisch für diese Bewegung. Feministische Inhalte in der
radikal sucht mensch in der Zeit von Ende '80 bis Anfang
'83 vergeblich.
Nachdem die radikal seit Jahren auf den modernsten Satzgeräten, die
es in Berlin gab, hergestellt wurde (bei Springer und dem Tagesspiegel
verhinderten starke Gewerkschaften die Einführung des Fotosatzes),
sind doch die Zeichen der Zeit unübersehbar. Es braut sich da etwas
Bahnbrechendes zusammen. In der Ausgabe 102 (3/82) wird das heiße Eisen
angepackt: Computer und die Mikroelektronik. Sehr süß liest sich
heute, wie wir bereits damals das Kommende erahnen ...
Gleich in der nächsten Nummer (Nr. 103, 4/82) ein weiterer, entscheidender
Bruch: Noch mühsam, auf einer sehr konkreten Ebene (die Unterdrückung
der Indigenas an der Atlantikküste in Nicaragua durch die Sandinisten)
beginnen wir zu ahnen, daß es sich bei vielen nationalen
Befreiungsbewegungen doch nur um Modernisierungsbewegungen handeln könnte.
Radikal wie immer und nichts relativierend, rufen wir gleich zum Sturz der
Sandinisten auf. Dies ist einer der wenigen Punkte, an denen ich das
Gefühl habe, hier sind wir in den letzten 13 Jahren inhaltlich wirklich
weitergekommen. Wir haben über den IWF und die Jahre drumrum
differenzierte Theorien über den Doppelcharakter von nationalen
Befreiungsbewegungen als Befreiung und neuer nationaler Modernisierungselite
ausgearbeitet und schriftlich dargelegt (u. a. in der Reihe Materialien
für einen neuen Antiimperialismus, und auch einige Gruppen der RZ und
Roten Zora haben dies formuliert). In Mittelamerika wurden diese Erfahrungen
mittlerweile verarbeitet. Die EZLN in Chiapas/Mexiko spricht sich explizit auch
gegen die Werte wie "Modernität und Effektivität" eines
erneuerten Kapitalismus aus.
Der Wind legt sich
Im Sommer '82 nähert sich die letzte größere
"Schlacht" der Bewegung 80/81. Der Besuch Reagans am 11.6. in
Berlin und die sich daraus entwickelnde Kesselschlacht auf dem Nollendorfplatz.
In der radikal wird mit mehreren Beiträgen versucht, das Schicksal
des Sich-Verlierens in offenen Konfrontationen abzuwenden. Aber es kam, wie es
kommen mußte. Der Bullenkessel am Nollendorfplatz wurde zwar
aufgesprengt, aber danach war nichts mehr. Nur 'zig Leute für
Schauprozesse im Knast. Politische Niederlagen bestimmen sich anders als
militärische Siege. Rückblickend war dies die letzte Schlacht dieses
Bewegungszyklus, und danach steigert sich einerseits die ideologische
Verhärtung (gegen US/NATO-Imperialismus) bzw. andererseits (z.B. bei der
radikal) die Verwandlung unserer positiven Überheblichkeit in
Zynismus und Arroganz. Schön läßt sich dies an einem Artikel
festmachen, der den Falklandkrieg bei Chips und Bier im TV nur noch wie
Schiffe-Versenken in der Schule betrachten kann.
Aber noch befinden wir uns in der Hochphase, in der sich unsere Mischung aus
Humor, Witz, Selbstironie und Überheblichkeit voll auslebt. Unter der
Überschrift "Endlich nehmen sie uns ernst"
heißt es auf Seite 3 der Ausgabe 106 (6/82): "Der Finanzchef
frohlockte. Überall erschienen Gratisanzeigen der radikal, mit
denen Tagesspiegel, Morgenpost und sogar die Abendschau beweisen wollten, wie
sehr sich unsere verehrten LeserInnen von uns zur heftigen Anteilnahme am
angekündigten Besuchsspektakel verleiten lassen würden. Der
Pressestelle des Innensenators ein herzliches god bless you für diese
PR-Aktion bei Zielgruppen, die wir sonst publizistisch eher streifen.
Im Vorfeld des Besuchs hatte somit die Politisierung einiger eher
unauffällig uniformierter Büttel einen Grad erreicht, daß sie
sich endlich einmal ernsthaft für unsere kleine Zeitung zu interessieren
begannen. So ließen es sich die Schützer 'unserer' Verfasssung
nicht nehmen, die Vertriebsabteilung zu beobachten. Dabei folgten sie ihrer
Beute mit mindestens zehn Automobilen - sogar ein unauffälliger
Motorradfahrer stieß uns sofort ins Auge - mit gebührendem Abstand.
Wo sich auch die Damen und Herren vom Vertrieb in Kneipen niederließen,
immer war dort bald der Nebentisch von aufdringlich, unauffälligen
Neugierigen besetzt. Warum so kontaktscheu? Wir sind keine Halbgötter in
Schwarz - und durchaus sehr bürgernah. Ernsthaft denken wir daran, unseren
Fänclub dermal einst zum Tee zu bitten, falls er uns nicht zuvor kommt,
gell."
In diesen Monaten beginnt ein sich eineinhalb Jahre hinziehendes
Spielchen von Observationen und diesen Observationen Ausweichen, indem wir den
Bullen "Pappkameraden" vorspielen, warauf sie allerdings nur
bedingt reinfallen (so zu tun, als wäre die Redaktion weiterhin in der
Eisenbahnstr.). Zwar schlagen die Bullen mit ihrer großangelegten
Durchsuchungsaktion am 1.12.82 - gemessen an ihrem Ziel, die radikal
mitten im Produktionsprozeß zu erwischen - voll daneben (durch irgendeine
unbewußte Vorahnung wurde die Produktion um eine Woche verschoben), und
doch, all unser Witz kann nicht verhindern, daß wir diesem Kesseltreiben
materiell nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen haben. Kurzfristig sind wir
schon in der Lage, ihnen auszuweichen. Aber längerfristig kostet dieses
ständige Ausweichen derart viel Kraft, Nerven und Zeit, so daß ein
Haufen wie wir (von denen sich einige noch zudem um ihre eigene
Existenzsicherung kümmern müssen) gegen die bezahlten Apparate der
Herrschenden (denen tendenziell unbegrenzt Material und Leute zur
Verfügung stehen) auf dieser relativ offenen Ebene wenig Chancen hat.
Und doch haben wir uns lange und gut gehalten. Und der Zerfall der
radikal wäre sicher genauso gekommen, vielleicht sogar schneller.
Denn das eigentliche Problem sind die Zerfallsprozesse von Bewegungen und
daß die Zerfallsprodukte immer zwangsläufig erstarren und beginnen,
gegeneinander zu agieren. In den Artikeln der Ausgabe 106 ist schon deutlich
dieses Am-Ende-angekommen-zu-Sein, zu spüren: Auf Seite 10 heißt es
in einem mit "das reale no-future" unterschriebenen
Artikel: "und da stehst du nun mit deiner Plastiktüte in der
Hand vor dieser Leere, diesem nicht-mehr-weiter-wissen und können. Um dir
`ne Lebenslüge vorzumachen, bist du zu klug? No way out - no
exit!" Wenn du heute drüber nachdenkst, was wir damals
eigentlich grundsätzlich hätten anders machen können, fällt
dir nicht viel ein. Gemessen an unseren Möglichkeiten und den real
vorhandenen Menschen haben wir das Mögliche versucht und getan -
"ich bereue nichts".
Etwas rationaler drücken es zwei Münchner GenossInnen in der Ausgabe
107 - im Layout von der "Kleinen Fabel" von Franz Kafka
geschmückt - aus: "Die Bewegung ist nicht schwächer als vor
einem Jahr, doch erkennt man Kluften zwischen Aktion und Inhalten, zwischen
alltäglichem Leben und gezeigter Politik (überhaupt wieder Politik).
Der Moment der subjektiven Revolte Einzelner, der Wille zur Freiheit aller,
verkrustet unter den politischen Parolen des sogenannten objektiv notwendigen
Kampfes gegen den imperialistischen Moloch."
Gleichzeitig werden das Layout und die Titelbilder der radikal immer
besser und künstlerischer. Hier werden Erfahrungen gemacht und umgesetzt.
Artikel werden öfters von ganzseitigen Bildern unterlegt, und selbst das
Inhaltsverzeichnis finden wir inmitten von karibischen Sandstränden und
Palmen. Auch die sonstige Organisation des Zeitungmachens ist immer
"professioneller" geworden. Unser Büro in der Eisenbahnstr.
4 ist montags bis donnerstags von 14.00 - 18.00 Uhr geöffnet. Für
jede neue Ausgabe (d.h. für einen Monat) wird einE NeueR aus dem
Redaktionskollektiv ausgewählt und sogenannteR
"KoordinatorIn". In deinem Monat bist du für alle
unangenehmen und technischen Aufgaben zuständig, wie Bürodienst,
Abokartei, Drucktermine klarmachen, die wöchentlichen Redaktionstreffen
vorbereiten und leiten, LeserInnenpost beantworten und so weiter. Dafür
gibt es ein Taschengeld von 500 DM. Anfangs ist der Job heißbegehrt, und
das Rotationsprinzip klappt hervorragend; später (1983) läßt
die Attraktivität der Aufgabe deutlich nach, und es sind wiederholt
dieselben, die den Job machen. Die vorhandenen internen Hierarchiegefälle
konstituieren sich wenig über den Bürojob; eher bricht der
Bürojob solche Hierarchien auf, da er reihum alle mal zwingt, sich mit der
Übersicht und der Gesamtverantwortung für die Zeitung rumzuschlagen.
Die Rückseite von Nummer 108 schmückt ein Poster, daß
beispielhaft deutlich die Verschiebung von Worten in den folgenden Jahren
zeigt. "Wer schürt das glimmende Feuer zu rasender Flamme? Zu
uns, Schwärmer, Freunde: Mordsspaß wartet auf uns! Arbeit? pah!
Feuerflammen ..." Heute bleibt einem diese hemmungslose Anbetung von
Feuerflammen im Hals stecken. Feuer ist eben nicht mehr eindeutig
aufständisch besetzt, sondern steht jetzt eher für die brennenden
Hochhäuser der VietnamesInnen in Rostock oder die Brandanschläge auf
türkische Wohnhäuser.
Im Innenteil dieser Ausgabe wird auf einmal ein Problem zum Thema gemacht, das
sonst in der radikal keine Rolle gespielt hat und bewußt
verdrängt wurde: Arbeit und Knete. Daß dies so massiv in die
radikal kam, lag ehrlicherweise daran, daß die andere Fraktion
(und zufällig die, die durch einen göttlichen Zufall jeden Monat die
Überweisung vom Bafögamt auf dem Konto vorfand) im Urlaub war. Die
übrigen waren zwar auch keine ausgemachten Freunde von
Arbeitskämpfen, aber um die Problematik der Kohle wußten sie genau.
"Arbeit ist ein gesellschaftlicher Bereich, über den wir
eigentlich nur Sprüche machen oder ihn halt verdrängen",
heißt es selbstkritisch in der Einleitung, und es dämmert schon
einigen, daß unser Jobberverhalten vom Kapital umgedreht und als neue
Ausbeutungsform benutzt wird.
Gleichzeitig springt ins Auge, daß die damals formulierten Aussagen im
Prinzip heute so zu wiederholen sind, ohne daß es groß
auffällt. Die Kapitalseite versucht, die Schraube immer enger zu drehen.
Nur befinden wir uns damals einige Gewindegänge weiter vorne - z.B. soll
die Anwartschaftszeit auf Arbeitslosengeld von drei Monaten auf sechs
erhöht werden, heute ist diese bei einem Jahr. Und die Arbeitslosenhilfe
würden sie am liebsten ganz abschaffen. Was damals AEG heißt,
könnte heute DASA heißen - damals wie heute finden wir kein
richtiges Verhältnis dazu. Ein netter Hinweis findet sich auf Seite 22:
"An alle AEG-Arbeiter. Obwohl ihr uns nicht im Häuserkampf durch
einen Generalstreik unterstützt habt, werden wir euch unterstützen,
wenn ihr einen Generalstreik macht." An uns ist es offensichtlich
nicht gescheitert.
Richtig süß liest sich das sozialrevolutionäre Programm aus dem
Umfeld der Redaktion der Zeitschrift Autonomie. Als zentrale politische
Aufgabe fordern sie die Homogenisierung der neuen Massenarmut. Es ist objektiv
richtig und subjektiv falsch, weil es an den konkreten Menschen voll
vorbeigeht. Und es stößt dir immer wieder auf, daß die
SchreiberInnen dieser Zeilen sich selbst eben einen Dr. med. oder Dr. jur.
zugelegt haben, also subjektiv gar nicht von dieser Massenarmut betroffen sind
und deshalb auch nie verstehen können, warum "die Klasse"
diesen Angriffen von oben so wehrlos gegenübersteht. Sie sehen eben
"die Klasse" als Spielball ihrer Politikvorstellungen und sind
selbst nicht organischer Teil von ihr.
In dieser Ausgabe erscheinen zum ersten Mal die
"Herzschläge" - weil der Titel "Notizen aus der
Provinz" wohl doch ein wenig zu arrogant klang. Also werden sie
umbenannt. "Herzschläge - 4 Seiten kurze Töne - in rascher
Folge. Schrille Frequenzen der An- und Rückschläge westdeutschen
Widerstands. Sphärenmusik - ebenso unvollständig wie
melodisch."
Genau in dem Moment, in dem die Anschlagspolitik sich immer mehr von den
Bewegungen löst, erreicht ihre mediale Inszenierung einen Höhepunkt.
Nach vier Seiten "Herzschlägen" sieht die LeserIn es an
allen Ecken und Enden in der BRD brennen und explodieren. Vom Allgäu bis
Nordfriesland tobt Nacht für Nacht der Guerillakampf.
Mit den "Herzschlägen" findest du ein gutes Beispiel, wie
durch die Form der Aufbereitung von Nachrichten Realität erzeugt wird.
Daß dies mit der Zeit immer hohler wird, ist eine andere Frage. Damals
war die radikal eine der ersten, die dies so deutlich betrieben haben,
heute findet sich dieser Stil in vielen life-style-Magazinen.
Die 109 (10/82) sieht ein wenig blaßer aus. Sie wurde anderorts
produziert, da es den bereitstehenden Bullen auszuweichen galt. Spöttisch
wird in der Hausmitteilung der 110 (11/82) bemerkt: "Seit geraumer
Zeit erwarten wir eigentlich einen Besuch 'der Herren des Morgengrauens'
in unseren gut abgesicherten Verliessen. Doch auf die Einladung, uns bei der
Arbeit behilflich zu sein, bekamen wir nur vage Antworten - auch Gerüchte
genannt. Daß ihr Interesse an einer konstruktiven Zusammenarbeit doch
noch nicht ganz verschwunden ist, bewiesen sie jedenfalls wieder bei der
letzten Produktion, wo sie unauffällig um uns herumschlawänzelten und
ihre Nächte in einem Wohnmobil absaßen. Doch selbst der aus den
Redaktionsräumen dringende Kaffeeduft konnte ihre Schüchternheit
nicht bezwingen endlich auszusteigen, tief einzuatmen und mit einem
freundlichen Lächeln auf dem Gesicht unseren Empfang in Würde
entgegenzunehmen.
Jedenfalls mußten wir nach zwei Tagen traurig feststellen, daß
sie ihren Versuch aufgegeben hatten und einfach von dannen fuhren und uns mit
unseren vielen Überraschungen alleine ließen."
Einen Monat später war es dann soweit. Eine großangelegte Razzia
nach den "unbekannten Verfassern, Herstellern
und Vertreibern" der radikal fand statt. Gefunden
wurde fast nichts Relevantes, da - wie bereits erwähnt - mit dem
Glück der Seligen die Produktion der Dezember-Ausgabe um eine Woche
verschoben worden war. Noch haben wir gute Laune beim bösen Spiel und noch
immer genügend schöne Sprüche auf den Lippen. Unter dem Titel
"Spatzen oder Elephanten" in der Nummer 111 (12/82) heißt
es: "Also, wenn wir ehrlich sind - und geliebtes Publikum, waren wir
das nicht immer? - dann müssen wir zugeben, daß der derzeit
jüngste Aktionstag des Berliner Staatschutzes gegen die logistischen
Strukturen der radikal ein harter Schlag war. Nicht unbedingt ein Schlag
in das Gesicht der werktätigen Massen, aber doch ein eindeutiger Schlag
mitten ins kühle Naß.
Es entspricht sicherlich den Tatsachen, wenn wir behaupten, daß wir
diesem Ereignis schon lange entgegenfiebern, ja, wir haben es förmlich
schon plätschern gehört; doch es wäre zuviel der Ehre, wenn
gesagt wird, daß wir die Wassernäpfchen just in dem Moment unter die
erhobene Hand des Staates geschoben hätten, als dieser zuzuschlagen
gedachte. Alle anders lautenden Gerüchte in der Szene wollen wir an dieser
Stelle energisch dementieren - profilaktisch sozusagen. Allein die Dummheit
führte die Hand so treffsicher ins feuchte Ziel.
so long - see you at the baricads*
radicale
*für die Staatsanwaltschaft hier die deutsche Übersetzung: Frohes
Fest ..."
Heute befällt einen der vage Gedanke, daß da vielleicht ein
kleiner Spatz von einer großen Elephantenherde zertrampelt wurde. Etwas
ernster heißt es in einem zweiten Artikel auf der selben Seite:
"No future - no mercy".
"Wir meinen, daß diese Aktion der Anfang, die
Initialzündung für eine härtere Gangart des Justiz- und
Bullenapparats gegenüber der Szene ist. Ziel ist es, die Szene in für
sie überschaubare und kontrollierbare Strömungen zu kanalisieren. Die
radikal als ein Schnittpunkt verschiedener Strömungen stellt daher
für sie ein bevorzugtes Objekt dar, um exemplarisch gegen die Szene
vorzugehen:
- gegen die organisierte Militanz (z.B. RZ), als deren 'Sprachrohr und
Propagandaorgan' der Staatsschutz die radikal ansieht.
- gegen die diffuse Militanz der Berliner Szene - Kleingruppenaktionen,
Straßenschlachten, Spaßguerilla, etc. - von der die radikal
ein offener und damit greifbarer Ausdruck ist.
- gegen die Infrastruktur der Szene (Druckereien, Setzereien,
Buchläden), die für die ganze Breite der Szene offen und benutzbar
sind; sie alle sollen eingeschüchtert und letztendlich zu einer
Distanzierung gezwungen werden.
Die Berliner Szene - und die radikal als ein Teil von ihr - ist ein
unentwirrbares Konglomerat aus alltäglicher Militanz, RZ, Alternativen,
linksrepublikanischen Reformisten und verschiedensten subkulturellen
Strömungen, die auch immer wieder in der radikal zu Wort kommen.
Der Staat hat in der letzten Zeit darauf gehofft, daß in der Szene ein
Differenzierungsprozeß durch sanften Druck von allein in Gang kommt, dies
hat aber bis heute nicht geklappt (z.B. ist es ihm nicht gelungen, die AL nach
dem 11.6. zu einer Distanzierung von den Militanten zu bringen, noch die
Militanz aus dem alltäglichen Leben und Widerstand herauszulösen und
in den Untergrund zu drängen."
Genau das, gegen das wir uns da so heftig wehrten, war letztendlich den
Herrschenden gelungen. Die radikal war über die Jahre zum
"Fachblatt für Kleingruppenmilitanz" verkommen und damit
genau in jene gesellschaftliche Isolierung gebracht worden, wo sie für die
Herrschenden berechenbar war. Andererseits waren es damals die letzten
Aufbäumer der AL, sich vom 11.6. nicht zu distanzieren. Heute sind
sie Lichtjahre entfernt von jeglicher gesellschaftlicher Querulanz und
widerständischem Denken.
Aber erst mal erscheint die Zeitung monatlich weiter, als wäre nichts
passiert. Solidaritätsadressen erreichen uns aus aller Welt, und bald hat
die Zeitung über 1.000 MitherausgeberInnen. Nur nützen tut das alles
nichts.
Noch einmal kommt es zu einer großen Debatte in der Zeitung: nämlich
warum es nach Meinung von Teilen der radikal-Redaktion politisch nicht
richtig ist, sich in "abgehobenen" konspirativen
Kleingruppen à la RZ zu organisieren, sondern es eher darum gehe, seine
militanten Erfahrungen in neue Bewegungen (damals z.B. der
Volkszählungsboykott) einfließen zu lassen -
"Gratwanderungen und Gletscherspalten"
heißt der dazu erschienene sechsseitige Artikel. Der Artikel endet mit
der Aufforderung an die RZ, doch wieder in die (nichtvorhandene!) Bewegung
zurückzukehren. Natürlich sind es auch für die AutorInnen
existenzielle Fragen, wie sie als Zerfallsprodukte der Bewegung weitermachen
sollen. Nur ist das keinem so bewußt und wird auch nicht in den Artikel
eingebracht. Es wird viel über die RZ geredet und wenig über sich
selbst. Gleichzeitig wird die Diskussion damals von den RZ nicht aufgegriffen.
Erst als ein paar Nummern später dasselbe, deutlich gehässiger
aufbereitet (ja, ja, da mußten sich ein paar an ihren
Übervätern heftig abarbeiten), noch mal gefordert wird, reagiert
zumindest eine RZ. Heute könnte mensch es so beschreiben: Die AutorInnen
der radikal ahnen etwas, das sie aber nur sehr schlecht ausdrücken
können, und sind unfähig, dies auf eine politische Ebene zu heben.
Und die RZ verteidigen sich natürlich zu Recht und z.T. mit viel Witz
("eine RZ - mit der Option auf ein zukünftiges Ministerium zur
Abschaffung von Lust und Leidenschaft"), sind aber ebenfalls
unfähig, umgekehrt die subjektive Ebene an sich `ranzulassen. Und genau
das, was die radikal-AutorInnen damals ahnten, holt die RZ 90/91 ein und
führt zu ihrer Defacto-Auflösung. Zum Beispiel der Text "Das
Ende unserer Politik" einer RZ mit Schwerpunkt in NRW vom Januar
'92 gesteht ihr Scheitern genau an den Punkten ein, die (schlecht
formuliert) ihnen damals vorgehalten wurden. Daß nämlich eine an
objektiven politischen Vorhaben orientierte Politik voll neben den subjektiv
ablaufenden Sozialprozessen liegen kann. Und: Wenn eine im Prinzip
politisch gemeinte Organisierung das Militärische zum Wesenskern ihres
Zusammenhangs macht, scheitert dies meistens. Das ist eine der
Grunderfahrungen, die auch die mittelamerikanischen Guerillas im Laufe der 80er
Jahre machen mußten. Einen Ausweg daraus - und diese Erfahrung
verarbeitend - versucht die EZLN in Chiapas/Mexiko, indem sie sich als
"Armee" klar einer zwar ebenfalls klandestinen, aber
politisch-zivilen Führung unterstellt.
Der Sommer '83 ist die Zeit der Aufarbeitungen. Es erscheint ein
längerer Text der RZ zur Startbahn-West-Bewegung und einer von
HäuserkämpferInnen zum Berliner Häuserkampf. Der Zerfall der
Bewegung hat "schon einige Löcher in unsere Segel
gerissen", und nach und nach springen die Leute ab. Jedem und jeder
einzelnen fehlt ab einem nur subjektiv zu bestimmenden Punkt die Kraft und die
Ideen, weiterzumachen; aber wir sind unfähig, als wir daraus
Konsequenzen zu ziehen, d.h. kollektiv auf die Situation zu antworten. Nur
stellen wir im Herbst fest, daß im Laufe des letzten
halben Jahres fast alle die Löffel bei der radikal abgegeben haben,
uns die Kondition ausgegangen ist. Die Verhaftung von Micha und Benny
verlangsamt eher diese Prozesse, da uns der Druck von außen notgedrungen
neu zusammenschweißt.
Heute liest du die ganzen Ausgaben von Sommer und Herbst'83 relativ
emotionslos. Du siehst nur den objektiv ablaufenden Prozeß vor dir und
weißt auch jetzt nicht, wie er zu stoppen gewesen wäre. Schon im
Sommer '83 das offene Erscheinen der Zeitung einstellen, statt erst im
März/April '84? Aber das wäre die offene Kapitulation gewesen!
Viele Sprüche im Blatt klingen angesichts der realen Repression schon
deutlich hohler. Du kannst über ähnliche Sprüche in der Nummer
117 nicht so lachen wie über die in der 107. Selbst heute spürst du
beim Lesen diese Greifbarkeit des Repressionsdrucks noch deutlich.
Überraschenderweise hat in diesem Sommer in der radikal die
"Studi-Fraktion" die größte Kondition (die, die gerne
Baudrillard interviewen) und schafft im Winter 83/84 zielsicher den
Übergang von arroganter Überheblichkeit zu unerträglichem
Zynismus. In der Ausgabe 122 (11/83), als die Bullen uns zuvor einen Teil der
Auflage für den Handverkauf einkassiert haben (und wieder einer für
drei Jahre ins Ausland verschwinden mußte) und somit jegliche
Legalität zerstört wird, erscheinen dann, zu spät, viel zu
spät, und auch nur verblümt (z.B. durften Beschreibungen des
Innenlebens nur als Piratenstory verkleidet veröffentlicht werden) einige
Artikel, die versuchen, den realen Ist-Zustand zu reflektieren.
"Entsprechend ist die Stimmung bei uns an Bord der 'Mama
Calypso' nicht mehr beim Besten" schreiben Jim Knopf und die
Wilde 13. "Seit Monaten sind wir eigentlich nur noch auf der Flucht
vor den 'Brits'. Wir müssen uns öfters auf Gefechte einlassen,
denen wir am liebsten aus dem Weg gehen, aber es gibt nun mal keine andere
Möglichkeit. Gut, wir haben bisher immer gewonnen, streßt aber
trotzdem ganz schön. Und dann geht wahnsinnig viel Zeit drauf, die
Gefechtsschäden zu reparieren, die Löcher im Rumpf wieder zu stopfen
und die Segel zu flicken, neue Kontakte zwecks
Lebensmittelversorgung aufzureißen usw. 'Technisch' kriegen wir
das ganz gut auf die Reihe, aber es laugt aus. Was soll denn die ganze
Seeräuberei eigentlich noch, wenn's nur drum geht, zu zeigen, daß
wir noch da sind und einen die 'Brits' eh nicht kriegen. Zum
Handelsschiffe überfallen und reiche Beute machen - und vor allem den
dazugehörigen Orgien danach - kommen wir nicht mehr. Ein paar kleine
Küstenclipper zwischendurch machen den Braten einfach nicht fett. (...)
Und dazu kommen noch die ganzen inneren Streitereien: die Frauen gegen die
Machos, die Revolutionäre und 'Sozialbanditen' gegen diese aus
Europa abgehauenen verkrachten Studies. Wir waren mal eine Bande, im Moment ist
es wohl nur das Schiff, die 'Mama', die uns
zusammenhält."
Der ewige Streit: Gibst du nach außen die internen Auseinandersetzungen
zu, oder versuchst du alles zu kaschieren, bis es unübersehbar ist?
"The show (must!) go on", wie es im Intro der Nummer 122
heißt. Jetzt wird zwar immer noch nicht Tacheles geredet, aber es gibt
wieder eine Übereinstimmung von Text und emotional empfundener Situation.
Und so klar war damals auch vieles noch nicht. Diese Klarheit hast du auch erst
heute mit 13 Jahren Abstand.
"Wenn der Gegner alle Asse auf der Hand hat, kannst du nur noch den
Tisch umwerfen" - doch was heißt das? Mühsam schleppt
sich die Zeitung noch über den Winter, ein neuer Aufbruch will nicht
gelingen. Und doch ermöglicht diese Kraft, die die Zeitung weiterschleppt
und sie zu diesem Zeitpunkt eben nicht aufgibt, daß eine Lösung
gefunden wird und die Zeitung (wie auch immer) bis heute weiter erscheint.
Im März '84 erscheint dann die letzte Ausgabe dieses Zyklus der
radikal. "Am Anfang steht das Ende, sonst wäre das Neue
das Alte" ist das Intro überschrieben, das noch einmal von
vielen gemeinsam verfaßt wird.
Dieses letzte Intro ist noch einmal richtig gelungen, zeigt das ganze Dilemma
und die subjektiv so empfundene Ausweglosigkeit der Situation auf. Und nicht
wenige - einschließlich dir - waren zu diesem Zeitpunkt im Kopf mehr mit
irgendwelchen Reiseplänen beschäftigt, die sie um die Welt
führen sollten, als daß ihnen zur radikal noch etwas
Wegweisendes einfiel.
Im Sommer '84 wird die Zeitung an eine neue Gruppe - begleitet von
vielen Widersprüchen und Auseinandersetzungen - übergeben.
Sie gibt die radikal verdeckt heraus, und im Herbst '84 erscheint
deren erste Ausgabe "Ätsch, das habt ihr euch so gedacht
...", in der kontinuierlichen Nummerierung die 128. Aber das ist
eine neue, und ganz andere Geschichte ...
September '95
Billy the kid alias j.m.
"Unser kleines Heer von Verrückten der Hoffnung grüßt
die, die mit uns den Wahnsinn teilen, die das 'Ich' in die Ecke stellen
und die Fahne des 'Wir' hochhalten."
Subcomandante Marcos (EZLN),
im Oktober `94