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Online seit:
Tue Oct  7 23:10:45 1997
 

"Spiegel"-Interview

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Frage: Von welcher Analyse des Tatbestands Bundesrepublik gehen Sie aus?
Antwort: Imperialistisches Zentrum. US-Kolonie. US-Militärbasis. Imperialistische Führungsmacht in Westeuropa, der EG, zweitstärkste Militärmacht der Nato. Interessenvertreter des US-Imperialismus in Westeuropa. Die Verschmelzung des westdeutschen Imperialismus - politisch/ökonomisch/militärisch/ideologisch, über das identische Ausbeutungsinteresse in den Ländern der Dritten Welt und die Homogenität der gesellschaftlichen Struktur durch Kapitalkonzentration und Konsumentenkultur - mit dem US-Imperialismus definiert die Rolle der Bundesrepublik gegenüber den Ländern der Dritten Welt als Partei in den Kriegen, die der US-Imperialismus gegen sie führt, als "Stadt" im weltrevolutionären Prozeß der Einkreisung der Städte durch die Dörfer. 1 Insofern ist die Metropolenguerilla Stadtguerilla im doppelten Sinn des Wortes: Sie entsteht, operiert, entwickelt sich in den Großstädten, geographisch und ist Stadtguerilla im strategischen, im politisch-militärischen Sinn, indem sie die Unterdrückungsmaschine des Imperialismus von innen, in den Metropolen angreift, als Partisaneneinheit im Rücken des Feindes kämpft. Das ist es, was wir unter proletarischem Internationalismus heute verstehen. Das eine: daß die Bundesrepublik Teil des Staatensystems des US-Imperialismus ist, nicht eine unterdrückte, sondern selbst eine Unterdrückernation. In solch einem Staat kann die Entwicklung von proletarischer Gegenmacht, Befreiungskampf, die Zerrüttung der herrschenden Machtstruktur von Anfang an nur internationalistisch sein, ist nur im strategischen und taktischen Zusammenwirken mit den Befreiungskämpfen der unterdrückten Nationen möglich. Geschichtlich: Seit 1918/19 hat in den Klassenkämpfen in Deutschland die imperialistische Bourgeoisie, ihr Staat, die Initiative und ist in der Offensive gegen das Volk - bis zur völligen Zerschlagung der Organisationen des Proletariats im Faschismus, bis zur Niederlage des alten Faschismus, nicht durch bewaffneten Kampf hier, sondern die sowjetische Armee und die Westalliierten bis heute. Es gab in den zwanziger Jahren den Verrat der Dritten Internationale, die völlige Orientierung der kommunistischen Parteien auf die Sowjet-Union, so die Unfähigkeit der KPD, zu einer an der proletarischen Revolution/Eroberung der politischen Macht durch bewaffneten Kampf orientierten Politik zu kommen, die im Proletariat Klassenidentität und revolutionäre Energie hätte entwickeln können - nach '45 die Gehirnwäscheoffensive des US-Imperialismus gegen das Volk mit Antikommunismus, Konsumentenkultur, der politischen, ideologischen, schließlich militärischen Restauration/Refaschisierung im Kalten Krieg und einer DDR, die kommunistische Politik nicht als Befreiungskampf vermittelt hat. Es hat hier nicht wie in Frankreich, Italien, Jugoslawien, Griechenland, Spanien, selbst Holland massenhaften bewaffneten antifaschistischen Widerstand gegeben. Ansätze dazu sind seit '45 von den Westalliierten sofort zerbrochen worden. Das alles heißt für uns und die legale Linke hier: Es ist nichts da, woran wir anknüpfen, worauf wir uns historisch stützen, was wir organisatorisch oder im Bewußtsein des Proletariats voraussetzen könnten, nicht einmal demokratische, republikanische Traditionen. Innenpolitisch ist das einer der Gründe, weshalb der Faschisierungsprozeß, das Über- und Auswuchern des Polizeiapparates, der Staatsschutzmaschine als Polizeistaat im Staat, die faktische Beseitigung der Gewaltenteilung, die Verabschiedung von faschistischen Sondergesetzen im Rahmen des Programms "innere Sicherheit" - von den Notstandsgesetzen bis zu den Sondergesetzen jetzt, politische Verfahren ohne Angeklagte und Verteidiger als reine Schauprozesse durchführen zu können, aber auch der Ausschluß von "Radikalen" aus dem öffentlichen Dienst, die Erweiterung der Kompetenzen des Bundeskriminalamtes - so reibungslos möglich ist. Eine Demokratie, die nicht erkämpft, dem Volk nur aufgestülpt wurde, hat keine Massenbasis, kann nicht verteidigt werden, wird es nicht. Das alles sind spezifische Bedingungen des politischen Territoriums Bundesrepublik.
... die Situation ist dadurch gekennzeichnet, daß eine taktisch noch schwache, zersplitterte legale Linke die reaktionäre Mobilisierung - gegen die Stärke der Repression im nationalen Rahmen - nicht in eine revolutionäre verwandeln kann. Sich dieser Frage nicht stellt. Wir sagen: Genau in diesem Widerspruch kann proletarische Politik nur als bewaffnete Politik die Politik des Proletariats werden - in Vermittlungen, die als Probleme der Revolution, der Strategie, der Klassenanalyse dem Verständnis Ihrer platten Polemik sicher entzogen sind. Die RAF ist nicht das Volk, sondern eine kleine Gruppe, die den Kampf aufgenommen hat - als Teil des Volkes, das für sich als geschichtliche Kraft nur im Kampf gegen den Imperialismus, im langandauernden Prozeß der Befreiungskriege entstehen kann. Die RAF, ihre Politik, ihre Linie, ihre Aktionen sind proletarisch, sind ein Anfang proletarischer Gegengewalt. Der Kampf hat angefangen. Sie reden davon, daß einige von uns gefangen sind - das ist eine Niederlage. Sie reden nicht vom politischen Preis dieser Jagd nach einer nur kleinen Einheit der RAF für den imperialistischen Staat. Weil ein Ziel revolutionärer Aktion - ihrer Taktik in dieser Phase der Entwicklung ist, den Staat zum offenen Auftreten zu zwingen, zu einer Reaktion, in der die Struktur der Repression, des Repressionsapparats sichtbar wird, faßbar, und sich so als Kampfbedingung revolutionärer Initiative vermittelt. Marx sagt, "der revolutionäre Fortschritt bricht sich Bahn in der Erzeugung einer mächtigen, geschlossenen Konterrevolution, in der Erzeugung eines Gegners, durch dessen Bekämpfung die Umsturzpartei erst zu einer wirklich revolutionären Partei heranreift". Das Erstaunliche ist nicht, daß wir eine Niederlage hatten, sondern daß es sie seit fünf Jahren gibt: die RAF - und die Tatsachen, von denen die Regierung ausgeht, sind andere. 1972 erklärten nach Meinungsumfragen fast 20 Prozent der Erwachsenen, sie würden strafrechtliche Verfolgung in Kauf nehmen, um einen von uns für eine Nacht bei sich zu verstecken. 1973 ergab eine Schülerumfrage, daß 15 Prozent der Schüler sich mit den Aktionen der RAF identifizieren. Sicher ist die Relevanz revolutionärer Politik nicht durch demoskopische Umfragen auszumachen, weil Bewußtseins-, Erkenntnis- und Politisierungsprozesse nicht zu quantifizieren sind. Aber das meint die Entwicklung der Theorie vom bewaffneten Aufstand zum lang anhaltenden Volkskrieg - daß im Kampf gegen die imperialistische Machtstruktur das Volk langfristig seine Sache finden wird, sich aus dem Griff der Gehirnwäsche durch die Medien lösen wird - weil unser Kampf Realpolitik, Kampf gegen die tatsächlichen Feinde des Volkes ist, während die Konterrevolution darauf angewiesen ist, die Tatsachen auf den Kopf zu stellen. Aber es gibt das Problem des Metropolenchauvinismus im Bewußtsein des Volkes, der mit dem Begriff Arbeiteraristokratie als ökonomischer Kategorie nur schlecht benannt ist. Es gibt das Problem, daß nationale Identität in den Metropolen nur reaktionär möglich ist, als Identifikation mit dem Imperialismus. Das heißt, daß revolutionäres Bewußtsein im Volk von Anfang an nur im Rahmen von proletarischem Internationalismus möglich ist, in der Identifikation mit den antiimperialistischen Befreiungskämpfen der Völker der Dritten Welt, sich nicht aus den Klassenkämpfen nur hier entwickeln kann. Eben diese Verbindung zu sein, proletarischen Internationalismus als Bedingung von revolutionärer Politik hier zu verwirklichen, so die Verbindung zwischen den Klassenkämpfen hier und den Befreiungskämpfen der Völker der Dritten Welt zu sein, ist Sache der Metropolenguerilla.

(Quelle: Nr. 1, S. 241ff)


aus: Ausgewählte Dokumente der Zeitgeschichte: Bundesrepublik Deutschland (BRD) - Rote Armee Fraktion (RAF), GNN Verlagsgesellschaft Politische Berichte, 1. Auflage Köln Oktober 1987

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Anmerkungen der Redaktion:

1 Deutlicher Bezug auf die von Lin Piao in "Es lebe der Sieg im Volkskrieg!" 1965 dargelegten Auffassungen über die Entwicklung der Weltrevolution. In der Schrift heißt es: "Wenn, im Weltmaßstab gesehen, Nordamerika und Westeuropa als ,Städte der Welt« bezeichnet werden können, kann man Asien, Afrika und Lateinamerika die ,ländlichen Gebiete« der Welt nennen ... In gewissem Sinne befindet sich die gegenwärtige Weltrevolution auch in einer Lage, bei der die Städte durch ländliche Gebiete eingekreist sind. Die ganze Sache der Weltrevolution hängt in letzter Analyse von den revolutionären Kämpfen der asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Völker ab, welche die überwältigende Mehrheit der Weltbevölkerung sind." (Zitiert nach Schickel (Hrsg.), Guerrilleros, Partisanen, Theorie und Praxis) - Lin Piao war führend beteiligt am Sieg der Revolution in China; 1950/51 war er Oberbefehlshaber der Armee der chinesischen Volksfreiwilligen im Korea-Krieg; 1959 wurde er Verteidigungsminister der VR China, 1969 designierter Nachfolger Mao Tse-tungs. Lin Piao spielte eine große Rolle in der Kulturrevolution. Er wurde 1971 entmachtet und kam angeblich bei einem Flugzeugabsturz auf der Flucht in die SU ums Leben.