Zum nunmehr vierzehnten Mal wiederholt sich am 3.
Oktober das alljährliche Zurschaustellen gleichermaßen
nationaler Borniertheit wie neuen deutschen
Selbstbewusstseins im Rahmen der Einheitsfeierlichkeiten
des wiedervereinigten Deutschland. Die Stadt Erfurt
richtet zu diesem Zweck das offizielle „Deutschlandfest“
aus, zu dessen Störung der nachfolgende Kurzaufruf
einladen soll.
„Ein Sieg für Deutschland“
Als vor nur wenigen
Monaten im Juni der deutsche Kanzler Schröder bei den
Gedenkfeiern anlässlich der Landung der Alliierten in
der Normandie und angesichts der Opfer der deutschen
Verbrechensgeschichte nicht einmal mehr den Blick zu
senken gedachte, sondern „erhobenen Hauptes“ (Schröder)
über die Gräber der alliierten Soldaten schritt, war
dies nur einer von vielen – wenn auch ein besonders
symbolträchtiger - Anlass endlich die deutsche
Opfergeschichte erzählen und das neue geläuterte
Deutschland präsentieren zu können. Leider konnte der
Kanzler seinem Volk, dessen Stimme beispielsweise durch
den parlamentarischen Geschäftsführer der
CSU-Landesgruppe Ramsauer oder den so genannten
FDP-Verteidigungsexperten Nolting sprach, nicht jeden
Wunsch erfüllen. Die Niederlegung der Ehrenkränze für
die Gefallenen der Waffen-SS musste noch verschoben
werden. Die Mörder der Wehrmacht dagegen sind heute
sogar für die rot-grünen GeschichtspolitikerInnen
betrauerbar. „Deutsche Soldaten fielen, weil sie in
einen mörderischen
Feldzug zur Unterdrückung Europas geschickt wurden.
Doch in ihrem Tod waren alle Soldaten über die Fronten
hinweg verbunden.“ (Schröder) Die so von ihren Opfern
nicht mehr zu Unterscheidenden, bilden zusammen mit den
„unrechtmäßig“ Vertriebenen, den „bösartig“ und
„sinnlos“ Bombardierten oder einfach allgemein
„bemitleidenswerten“ Kriegsverlierern die deutsche
Opfermasse. Die Auflösung der Opfer-Täter Unterscheidung
im Rahmen der Europäisierung der deutschen Geschichte
ist in vollem Gange. Die Anthropologisierung des Leidens
– bisher der Familiengeschichte des gemeinen Naziopas
vorbehalten - macht neuerdings selbst vor den höchsten
Ebenen der nationalsozialistischen Diktatur nicht halt.
Noch dem Führer selbst wird „Mitleid, das sich
angesichts der Tragödie aufdrängt“ (Tagesspiegel)
zuteil. Mit der bevorstehenden Uraufführung eines Films
über die letzten Tage des „von seinen Getreuen
verratenen“ Adolf Hitler im Führerbunker gelangt die
deutsche Opferperspektive auf eine neue Ebene - und dies
ohne jeden Zweifel für ein Millionenpublikum. Die
Produktion „Der Untergang“ empfiehlt – staatlich
gefördert - „Einfühlung in den Führer" (Berliner
Zeitung). Schon fragt sich die deutsche Presse „Wird man
diesen deutschen Diktator in 200 Jahren nicht ebenso
anerkennend betrachten wie Friedrich den Großen, dessen
Gemälde im Bunker hinter Hitlers Schreibtisch hängt?“
(Tagesspiegel) Zu befürchten ist es. Von Befreiung
jedenfalls wird in Deutschland im Angesicht des
leidvollen „Untergangs“ des Nationalsozialismus nur
abstrakt gesprochen.
Zahlreiche deutsche
NGOs, namentlich der Bund der Vertriebenen oder die so
genannte Preußische Treuhand GmbH, betreiben
unvermindert und maßgeblich beflügelt von neuer
deutsch-europäischer Geschichtsumwidmung eine
schleichende Revision des Potsdamer Abkommens. Ein
„Zentrum gegen Vertreibung“ in Berlin soll sich vor
allem mit deutschen Opfern beschäftigen. Der designierte
Bundespräsident Rau beklagte die Vertreibung aus Mittel-
und Osteuropa bereits im Februar dieses Jahres als
„furchtbares Unrecht“. Die Preußische Treuhand begann
dementsprechend pünktlich mit dem Datum des polnischen
EU-Beitritts am 1. Mai 2004 den Rechtsweg bis hin zum
Europäischen Gerichtshof in Luxemburg einzuschlagen, um
endlich die „deutsche Leidensgeschichte“ zu sühnen. Der
polnische Staatspräsident Kwasniewski – längst in der
Defensive – sah sich schon vor einem Jahr veranlasst,
einen „Appell zur Wahrung des geschichtlichen
Zusammenhangs" zu publizieren, in dem er sich gegen die
von den Deutschen betriebene Umwertung der Geschichte
wandte. Diese Umwertung allerdings ist jedoch integraler
Teil des laufenden Identitätsfindungsprozesses der
Deutschen vor allem auf europäischer Ebene. Wird auch im
Einheitstaumel der Feierlichkeiten in Erfurt aller
Wahrscheinlichkeit nach die nationale Identität als
Deutscher bzw. als Teil des deutschen Kollektivs im
Vordergrund stehen, so entwickelt sich doch gerade auch
in der Linken zunehmend eine Identität als EuropäerIn.
Die nationale und die europäische Identität stehen sich
dabei nicht entgegenstehen, sondern befördern sich
durchaus gegenseitig. Als gleichberechtigtes Opfer
europäischer Leidensgeschichte, sowie gleichermaßen
moralisch Amerika und Israel als „Friedensmacht Europa“
weit überlegen, lässt es sich umso unverkrampfter
deutsch sein. Und so feiern sich die deutschen
EuropäerInnen - moralisch aufgerüstet und bezüglich
ihrer Angriffskriege ein wenig vergesslich - auch in
Erfurt auf Ausstellungen über „15 Jahre Frieden und
Freiheit in Europa“.
Deutschland denken 2004
Dem Bedürfnis der
Deutschen nach Schuldabwehr und einem ungebrochen
positiven Bezug auf ihre Nation wird aktuell also
bestens über die Europäisierung der deutschen
Verbrechensgeschichte entsprochen. Über die Konstruktion
einer gemeinsamen europäischen Geschichte und Kultur
steht diesem Verlangen nach Gemeinschaft heute ein
modernisiertes Identifikationsmodell – gewissermaßen
eine neue Heimat - zur Seite. Im Dienste der
europäischen Gegenwart kann so auch dem Tod alliierter
als auch deutscher Soldaten nachträglich ein höherer
historischer Sinn zugeschrieben werden. Der
Nationalsozialismus fungiert dabei - umgewidmet zur
„europäischen Katastrophe“ - als einer der
Gründungsmythen Europas und Legitimation für die
neuerlich wieder weltweit angelegte deutsche
Einflussnahme. Ob mit Bomben auf Belgrad oder in
vorderster Friedensfront und in kooperativem Dialog mit
IslamistInnen gegen Amerika und Israel.
Gerade letztere
dienen dem vereinigten Europa als Abgrenzungsmodell und
Feindbild. Der tief in der Bevölkerung verankerte
Antiamerikanismus und Antisemitismus bringt
Hunderttausende auf die Straßen, auf denen „die Nation
Europa geboren wurde“. Der Antisemitismus bleibt dabei
ein jederzeit abrufbares Element deutscher Identität.
Wenn auch gegenwärtig in seinen offensichtlichsten
Formen in Deutschland politisch tabuisiert, so doch in
seiner modernsten Form, dem Antizionismus, in
ungekanntem Maße kultiviert.
Während die EU
zunehmend den politischen Bezug verkörpert, findet die
engere kulturelle Identifikation noch vornehmlich mit
der „eigenen“ Nation statt. Die europäische Integration
wird das Konstrukt des Nationalstaats demnach
offensichtlich nicht zerschlagen, sondern ihm vielmehr
ein Überdauern ermöglichen, wenn sich seine Funktionen
auch transformieren. Der deutsche Nationalismus, wie er
in Erfurt zelebriert werden wird, fügt sich so
umstandslos in das europäische Selbstverständnis ein,
mit all den Konsequenzen, die die Konstruktion einer
homogenen Gemeinschaft für all diejenigen hat, die
kategorisch nicht dazugehören können oder wollen. Für
all jene, die zur Zielscheibe der antisemitischen und
rassistischen Projektionen einer Gesellschaft werden,
für deren wiedervereinigtes Erwachen die brennenden
Häuser von Hoyerswerda, Mölln, Solingen und Rostock
stehen. Für deren wiederkehrendes Selbstbewusstsein die
wöchentlichen Schändungen jüdischer Friedhöfe ebenso
stehen, wie die massenhaften antiamerikanischen
Manifestationen der deutschen Friedensbewegung. Einer
Nation, deren wachsender politischer Einfluss in und mit
Europa in dem Maße zunimmt, mit dem die Europäisierung
der deutschen Verbrechen die Grenzen zwischen Opfern und
Tätern verschwimmen lässt. Wenn die Nation der Mörder
von damals heute sowohl ihren Befreiern als auch ihren
Opfern mit moralischer Überlegenheit Ratschläge erteilt,
so gilt dieser Nation unsere uneingeschränkte
Verachtung. Angesichts der fortwesenden deutschen
Zustände drängt sich letztlich die Frage auf, wie die
deutsche Harmonie auch in Erfurt effektiv gestört werden
kann. Wir würden dies sehr begrüßen.
bgr Leipzig, September 2004
Treff in Leipzig: 3.10.04 / 9 Uhr am Connewitzer Kreuz
Beginn in Erfurt: 12 Uhr (www.antifanews.de)
Mehr Infos: www.nadir.org/bgr
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