Den Berg aushöhlenVorletzten Dienstag, am 30. September, beschäftigte sich das Bundeskabinett anhand des Berichtes von Innenminister Kanther mit dem Zustand der deutschen Jugend. Im Kantherschen Bericht heißt es unter anderem: Das "ausländerfeindliche und rassistische Gedankengut sei häufig die banale Aneinanderreihung von Phrasen und Vorurteilen, die auch außerhalb der (...) Szene in der Bevölkerung anzutreffen sei" (zitiert nach Süddeutsche Zeitung v. 02.10.97). Nun gut, was die Bundesregierung deshalb erwähnt, um es zur Entlastung der jugendlichen deutschen Rassisten ins Feld zu führen, sollte Antifaschisten einmal mehr Anlaß sein, die Bevölkerung nicht in Schutz zu nehmen, wie es erst am Montag dieser Woche die linke Tageszeitung junge Welt hinsichtlich der antisemitischen Ressentiments durch die Bewohner des brandenburgischen Gollwitz ekelerregend praktizierte. Was uns hier in Saalfeld an Antipathie und Ignoranz hinsichtlich der Inhalte dieser Demo seitens des Saalfelder Volkes entgegenschlägt, kennen wir zur Genüge aus vielen anderen deutschen Nestern und Städten. Nicht zuletzt aus dem sächsischen Wurzen, wo wir vor fast genau einem Jahr die dort stattgefundene Demo maßgeblich organisierten. Und wieder einmal kommt es uns so vor, als wäre die deutsche Bevölkerung geklont. Fast wortgetreu finden wir hier in Saalfeld Äußerungen wieder, die wir nur allzugut kennen: "Die Gewalt gehe eigentlich von den Linken aus." "Es gebe doch gar keine Nazis in Saalfeld" Und so weiter und so fort. Deshalb auch, finden wir es sehr legitim, unter dem Slogan "Den rechten Konsens durchbrechen" hier zu demonstrieren. Wenn wir über die "rechte" Hegemonie jugendlicher deutscher Rassisten in Saalfeld oder sonstwo sprechen, so sollten wir, angesichts der landläufigen deutschen Normalität, uns davon wegbewegen, krampfhaft jegliche rassistischen Aktivitäten, Strukturen oder Denkweisen unbedingt in die Naziecke zu drängen. Denn nicht von ungefähr gelingt es Antifas seit Jahren immer schwerer, den Nachweis zu erbringen, daß die, die wir meinen, tatsächlich die Nazis sind, die wir in ihnen sehen wollen. Wenn sich Antifas nicht vor der zwingend notwendigen gesellschaftlichen Analyse drücken, wie es leider allzuoft der Fall ist, läßt sich nur unter Anführung von halben Wahrheiten vertuschen, wie normal das Morden und Brandschatzen als Ergebnis eines tatsächlichen rassistischen Volkskonsenses ist. Und so ist es auch hier im Vorfeld dieser Demo passiert. Nimmt der Aufruf der Saalfelder Antifa wenigstens noch mit einem Satz auf das rassistische Wohlwollen der Saalfelder "Normal-Bevölkerung" Bezug, so wird dieser Aspekt im Aufruf der Antifaschistischen Aktion/Bundesweite Organisation vollends ausgespart - und daher klingt ihr Aufruf wie die Darstellung eines aufgesetzten Verschwörungszenarios von "oben", sozusagen als Futter für den möglichen Klassenkampf. Schlimmerweise hat diese Darstellung von Zusammenhängen seit fast einem Jahrhundert System in der deutschen Linken. Weder die Toten im Landwehrkanal, die Shoa, die 68er oder 1989 konnten als Schlüsselereignisse ein Umdenken bewirken. Nahezu ungebrochen macht man einen großen Bogen um alles, was der romantischen Träumerei von einem monolithen Klassenkampf im Wege sein könnte. Dafür opfert man auch großzügig den Glauben an das zur Emanzipation fähige Individuum. Mit Erschrecken erlebten wir dies beispielsweise auf der Demo gegen den Rudolf-Hess-Marsch am 9. August dieses Jahres in Quedlinburg. Viel scheint die Antifa (M) aus Göttingen vom selbstbestimmten Individuum nicht zu halten. Jedenfalls sprachen sie in Quedlinburg von ihm, als wäre das Individuum eine salopp zu vernachlässigende Größe. Von der "offensiven Propagierung kollektiver Ideen, die im totalen Gegensatz zu Vereinzelung, Zersplitterung und Individualisierung" stehen müßten, war dort die Rede. Und weiter Antifa (M): "...die Nazis haben ja die gleichen Probleme, wie die linken Organisationen, in einer Gesellschaft der Vereinzelung, Unverbindlichkeit und Individualisierung Leute ernsthaft politisch einzubinden. Nur das gesellschaftliche Klima steht derzeit günstig auf rechtem Zeitgeist." Was der Antifa (M) scheinbar nicht auffallen will, und dafür werden sie uns, wenn wir dies an dieser Stelle sagen, ganz bestimmt nicht lieben, ist, daß hier eine Nähe zur faschistischen Argumentation von der Gemeinschaft hergestellt wird. Wir wollen der Antifa (M) nicht die bösesten Absichten unterstellen, eher gehen wir von politischer Unbedarftheit aus. Fakt ist aber, mit solchen Äußerungen, mit meteorologischen Beschönigungen des rassistischen Konsens in Deutschland, verabschiedet sich die "M" von ernstzunehmender Gesellschaftsanalyse. Aus unserem Selbstverständnis, das wir darüber hinaus für eine Linke als unumgängliche Prämisse betrachten, rufen wir alle Linken dazu auf, keinen Deut von der Verantwortung und Bedeutung individueller Entscheidungen abzurücken. Erst von dieser Position aus darf über Perspektiven linker Politik überhaupt diskutiert werden, da ansonsten nach unserer Einschätzung der Rückfall in antiquierte Uniformitäten und blinde Massenanbiederungen vorprogrammiert scheint. Eine krampfhafte Suche nach dem Subjekt, welches aufgrund seiner Gruppenzugehörigkeit per se antifaschistisch ist, scheidet für uns aus. Jedoch nicht etwa, weil wir uns dem Nihilismus verpflichtet fühlen, sondern weil Antifaschismus unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Verhältnisse immer eine individuelle Entscheidung sein muß, für die einstmals die Floskel von der Politik der ersten Person gefunden wurde. Das heißt, daß wir nicht als Propheten zum Berg gehen wollen, sondern den Berg auszuhöhlen, das ist unser Ziel. Dabei ist die eigene individuelle Sozialisation, die uns zu Antifaschisten macht oder gemacht hat, Ausgangspunkt weiterer Überlegungen. Das ist die historische Wahrheit, die uns erst jüngst Daniel Jonah Goldhagen vermittelt hat und mit der sich durchaus neu über linken antifaschistischen Ansatz reden läßt. Er schreibt: "Die Deutschen konnten zum Massenmord nein sagen. Sie haben dazu entschlossen, ja zu sagen".[ 1 ] Wenn es gelingen sollte, aus dieser historischen Feststellung eine antifaschistische Praxis abzuleiten, die sich gegen Verkürzungen auf die "Herrschenden" insofern sperrt, als dahinter die Einzelverantwortlichkeit nicht verschwinden kann, so ist uns um die Zukunft der Linken, ehrlich gesagt, viel weniger bange. Und das wäre doch was. Oder etwa nicht? Bündnis gegen Rechts Leipzig [ 1 ] Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996, S. 446 |
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