Aus CONTRASTE Nr. 181 Schwerpunktthema Teil 3
ARBEITSLOSIGKEIT
- Ein soziales Verteilungsproblem?
Zunächst eine Vorbemerkung: Die folgenden Überlegungen erheben nicht den Anspruch wissenschaftlicher Exaktheit und sie sind nicht frei von Widerspruch und Ironie. Es handelt sich jedoch auch nicht um unbegründete Spekulationen. Wer genaue Daten zu den hier vorgetragenen Gedanken sucht, kann solche leicht in den Statistiken der Bundesanstalt für Arbeit, in Sozialberichterstattungen und entsprechenden Analysen der Kommunen und Länder finden. Mir geht es hier lediglich darum, eine Sichtweise zu vermitteln, die helfen soll, die Vorurteile über das Wesen der Arbeitslosigkeit etwas zu entzerren. Es gibt nicht die Arbeitslosigkeit - Arbeitslosigkeit hat, je nach Zählweise, 4 bis 6 Millionen verschiedene Gesichter.
von Rolf Pfeiffer
Im Übrigen sehe ich die Situation "der" Arbeitslosen durch eine doppelte Brille - die der eigenen Arbeitslosigkeit und die der durch mich geleisteten Hilfe für Arbeitslose.
Über einen Zeitraum von 20 Monaten habe ich mit weit mehr als hundert Arbeitslosen wiederholte und ausgiebige Beratungsgespräche zur Abklärung ihrer jeweiligen Berufsperspektiven auf dem Arbeitsmarkt geführt. Die Beratungen fanden in einem Sozialamt einer niedersächsischen Großstadt statt. Die Teilnahme an den Beratungsgesprächen war für die Ratsuchenden in jeder Hinsicht freiwillig. Die Arbeitslosen kamen aus unterschiedlichen früheren Tätigkeitsfeldern - manche waren auch Berufsanfänger. Das formale Bildungsspektrum reichte von Analphabeten bis hin zu Promovierten, das Alter von 18 bis 60 Jahren. Manche hatten keine Berufserfahrung, andere hatten über Jahrzehnte einen Beruf ausgeuebt. Allen war gemeinsam, daß sie eine für sich passende Tätigkeit suchten und unter bestimmten Voraussetzungen durch die Kommunalverwaltung in Verbindung mit dem Arbeitsamt gefördert wurden.
Gemeinsam war ihnen die Arbeitslosigkeit; die Wünsche, die sie hatten, waren dabei höchst unterschiedlich. Die politische Orientierung der Betroffenen rangierte über das gesamte Spektrum des Denkbaren. Mein anfänglicher Versuch, zumindest einige von ihnen zu einer Gesprächsgruppe zum Umgang mit der Arbeitslosigkeit zusammenzufassen, schlug fehl. Die Gründe waren plausibel: die Leute waren in der Hoffnung auf eine Arbeit gekommen und wollten nicht ihre Arbeitslosigkeit besprechen. Außerdem bestanden zwischen ihnen zu große Qualifikationsunterschiede, zu unterschiedliche private Zufriedenheit und Zukunftshoffnungen. Sie hatten nur wenig Interesse daran, die eigene Arbeitslosigkeit strukturell zu sehen, Einzelkämpfertum herrschte vor. Mein Einwand, daß es sich bei dieser Maßnahme nur um eine in der Regel auf ein Jahr befristete Beschäftigung handelte und deshalb auch im Anschluß Arbeitslosigkeit wahrscheinlich sei, wurde verdrängt und eher als negative Haltung eingeschätzt. Dies zeigte wiederum nur allzu deutlich, wie groß der Wunsch und die Hoffnung auf eine längerfristige Anstellung waren.
Ungefähr 90% der Personen, die im Rahmen dieses Projekts in Beschäftigung vermittelt worden waren, wurden nach Ablauf der Förderungsdauer wieder arbeitslos. Die Maßnahmen dienten also nicht dem individüllen Berufseinstieg, sondern der Umverteilung von der Sozialhilfe über die Hilfe zur Arbeit ( 18-20 BSHG) in das Arbeitslosengeld bzw. die Arbeitslosenhilfe. Insgesamt kann gesagt werden: Es ging nicht um die Betroffenen, sondern um die Entlastung des kommunalen Haushalts und zudem um einen teuren volkswirtschaftlichen Mummenschanz, durch den keine regulären Beschäftigungsverhältnisse geschaffen wurden.
Auffallend ist, daß sich Arbeitslose nur sehr selten zu ihrer sozialen Situation äußern. Worin liegen die Gründe dafür? Einerseits ist es die Hemmung, sich zur Arbeitslosigkeit zu bekennen oder die Angst als aufmüpfig und unzufrieden zu gelten und hernach noch schlechter eine neue Anstellung zu finden. Andererseits gibt es für den Umgang mit Arbeitslosen Fachkräfte: Arbeitsberater und -vermittler, Sozialarbeiter, Verwaltungsfachkräfte, Soziologen, Statistiker, Psychologen, Politiker. Manche von ihnen setzen sich sehr engagiert für eine Verbesserung der Situation der Arbeitslosen ein. Sie teilen aber nicht die - ihnen nicht zu wünschende - Erfahrung der Arbeitslosigkeit, sondern sind mit Arbeitslosigkeit beruflich befaßt. Manchen fehlt trotz politischer Vehemenz das nötige Vermögen, sich in Arbeitslosigkeit einzufühlen. Andere tragen zur Individualisierung der Probleme bei, die sicherlich individüll erlebt werden, aber höchstens peripher durch Einzelpersonen beeinflußt werden können. Die gesellschaftspolitische Situation und die strukturellen Hintergründe werden einfach ausgeblendet. Man verlegt sich auf psychologisches Training und den Glauben individüller Machbarkeit, auf daß man nicht auf die ökonomischen Ursachen schauen muß und insgesamt die Sisyphusarbeit mit der Arbeitslosigkeit kein Ende findet. Solche "nützlichen" Zeitgenossen sehen die ihnen arbeitsmarktpolitisch übertragene Machtposition oft nicht strukturell bedingt, sondern als Ausweis persönlicher Handlungskompetenz. Und nicht wenigen der Helfer entgeht der professionell initiierte Beziehungskonsum, in dem sie durch ihre schablonenhafte Sisyphusarbeit verfangen sind. Sie beschäftigen sich mehr mit Personen und weniger mit der Arbeitslosigkeit. Damit soll nicht infrage gestellt werden, daß Einzelfallhilfen manchmal sinnvoll und erfolgreich sind. Sie ändern jedoch insgesamt nichts an dem Elend mit der Arbeitslosigkeit.
Anders als ihre Helfer fühlen sich Arbeitslose nicht durch Arbeit mit der Gesellschaft verbunden und haben auch keine Kollegialität am Arbeitsplatz. Ein stabiler privater Freundeskreis oder die familiäre Bindung kann zwar die Not etwas lindern, aber längst keine reguläre Arbeit ersetzen. Häufig ist auch das Gegenteil der Fall: Freundschaften und Partnerschaften zerbrechen unter der Bürde der Arbeitslosigkeit - das Beziehungsprofil war nicht auf diese Extremsituation hin ausgelegt. Wer konnte es schon vorher wissen? - Deutlich wird, daß durch das verfügbare Einkommen Freizeitaktivitäten im Freundeskreis und damit auch Sozialmilieus beeinflußt werden.
Arbeitslosigkeit zerstört aber auch in anderer Hinsicht soziale Zusammenhänge. Während die Arbeitslosen durch die Abwesenheit von Arbeit bestimmt sind, üben die Beschäftigten eine verbindende soziale Funktionalität aus. Sie sind sozial eingebunden und haben beispielsweise eine gewerkschaftliche Lobby, die über ein ganz anderes gesellschaftliches Potential verfügt als Arbeitslosenzusammenschlüsse. Der von den Gewerkschaften postulierte Kampf gegen Arbeitslosigkeit ist in praxi als Kampf gegen noch mehr Entlassungen einzuschätzen - er ist vorrangig ein Interessenkampf der noch Arbeitenden. Arbeitslose bleiben stärker auf sich selbst zurückgeworfen und der Umgang mit der Arbeitslosigkeit wird auch gesellschaftspolitisch stärker privatisiert. Das ist nur folgerichtig, weil die Qualifikationsund Tätigkeitsmerkmale der Arbeitslosen in ein weites Spektrum beruflicher Möglichkeiten zerfallen. Arbeitslose können sich nur auf der Basis des Mitgefühls für Fremde, die in einer ähnlichen aber dennoch anderen Situation sind als sie, solidarisieren. Diese Fähigkeit scheint in der Breite jedoch nicht sonderlich ausgeprägt zu sein. Daher kommt es - stark vereinfacht - dazu, daß die Arbeitslosen untereinander - mehr oder minder - unverbunden und hilflos bleiben. Und wenn sie sich zusammentun, bleibt Ihre Allianz eine des Defizits. Außerdem leidet die politische Schlagkraft der Arbeitsloseninitiativen durch permanente Fluktuation; Chancen, Illusionslosigkeit und Selbstzweifel bestehen nebeneinander. Arbeitslose haben, so paradox das auch klingen mag, in der Regel eine stark eingeschränkte Planungs- und Zeitautonomie, weil sie ja nicht wissen, wann und wo sie eine neue Arbeit finden werden.
Das Problem der Arbeitslosigkeit ist immer ein gesellschaftliches, das persönlich erlebt wird. Und weil die Gesellschaft mehr als die Summe der sie konstituierenden sozialen Kreise ist - und weiter, weil diese sozialen Kreise sich aufspalten und neue Koalitionen eingehen, ergeben sich für einzelne Arbeitslose überraschende Chancen oder auch vergebliche Mühen. Die Situation eines arbeitslosen Bauarbeiters ist beispielsweise eine vollkommen andere als die der arbeitslosen Alleinerziehenden Akademikerin. Die Risiken in der zurecht als Risikogesellschaft bezeichneten Gesellschaft sind ungleich verteilt. De facto existiert die integrierte Arbeitsgesellschaft nicht mehr, de jure besteht sie bei den (noch) Arbeitenden fort. Manchmal geht es aus der Sicht der von Arbeitslosigkeit Betroffenen bei der Verteilung von Arbeit wie am Roulette-Tisch zu. Es bleibt für sie undurchsichtig, wie sich der Markt entwickelt und wer hier entlassen oder dort vielleicht noch eingestellt wird.
An das Teilen ihrer Arbeit denken scheinbar nur wenige der (von Arbeitslosigkeit bedrohten) Beschäftigten, und wenn es solche Interessen einmal gibt, dann vorrangig bei den Besserverdienenden oder bei denen, die von der Arbeit anderer profitieren. Selbst die meisten Arbeitslosen würden nicht teilen wollen. Sie wünschen sich einen gut bezahlten Job und keine solidarische Aktion. Man will sich schließlich etwas leisten können.
Arbeitslos wird mann/frau, weil die Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr gebraucht wird oder nicht (weiter) bezahlt werden kann. Mit der Arbeitskraft ist es ebenso wie mit den Waren: Arbeitskräfte werden von Interessengruppen eingekauft. Man will mit Hilfe der Arbeitskraft Ideen verwirklichen - dabei kann es sich um ein materielles Erzeugnis oder eine immaterielle Dienstleistung handeln. Vom Auto bis zur fashionable spirituality ist dabei alles möglich. Die Kunden kaufen und kontrollieren damit ein Angebot von Wertschätzungen, mit denen sie sich verbunden fühlen und wodurch sie sich im sozialen Umfeld in Szene setzen.
Die Dinge, mit denen sich Menschen umgeben, verweisen auf die Bedürfnisse ihrer Nutzer. In einer hoch entwickelten Konsumgesellschaft wie der unsrigen kommt es kaum noch darauf an, die Grundversorgung (Essen, Kleidung, Obdach) zu sicheren, sondern an der Börse mit Nutzerinteressen zu spekulieren. Nicht die Ware zählt, sondern die Stimmung, welche sie bei den Nutzern bewirkt. Doch erst die uniforme Exklusivität befriedigt die narzißtische Distinktion der konsumistischen Kreise mit ihren jeweiligen Warenpräferenzen. Es geht längst nicht mehr um existentielle Notwendigkeiten, sondern um die Erwählung des ersehnten Objekts aus der Reichhaltigkeit des schillernden Angebots. Nicht die Waren sind wichtig, sondern das emotionale Design, welches sie verkörpern und in dem sich der Kundenkreis spiegelt. Man kann sagen, die Waren selbst vergegenwärtigen ein fehlgeleitetes spiritülles Interesse an Gemeinschaft und Geborgenheit, das sich in den Kundenwünschen ausdrückt. Man gehört dazu, man kann sich etwas leisten und wird vielleicht sogar selbst für die Anderen zur Ware.
Die Gemeinschaft der Konsumenten huldigt den Waren, die sich wie pseudoreligiöse Reliquien präsentieren: Die Kathedralen des Konsums, die Kaufpassagen, Malls auf der grünen Wiese werden der Innenarchitektur nach Sakralbauten immer ähnlicher. Die Zurschaustellung - besonders der Luxuswaren - erinnert oft an weihevolles Ambiente. Schreine in dezenten Farben und mystischem Licht offenbaren die Exklusivität der Objekte oder der Kunde schreitet unter halogenkalten Sonnen durch lichthohe Hallen mit buntem Dekor. Chrom und Messing, Marmor und Glas täuschen im Strahlkranz der tausend Reflexionen die Kundschaft mit den Surrogaten des Sakralen. Nicht das Konsumgut an sich, sondern die prekäre Gemeinschaft der Kaufsüchtigen stiftet kurzfristig Trost bei Identitätszweifeln und gibt vor, Sinnfragen zu befriedigen. Dies freilich um den Preis permanenten Konsums. Nicht Waren, sondern die damit vermittelten Gefühle sollen gekauft werden - der Konsum als Psychotherapie- oder Religionsersatz.
Diese Interessenströmung wird zur Option auf vielfältige Erfindungen, die noch folgen werden, wenn das heute Neue längst auf den Müllhalden der Zukunft zur einträglichen Rohstoffressource geworden ist - man braucht die Metalle nicht länger aus der Erde zu gewinnen, man hat sie auf dem Schrottplatz parat. An den ökologischen Schaden nicht denkend, begeistert die Transformation der Stoffe die Neugierde der Konsumenten stets aufs Neue. - Hoffentlich bricht der Konsum nicht weg, das würde nämlich noch mehr Arbeitsplätze kosten. Wohl dem, der schon alles hat und weiter kaufen kann!
Die Arbeitslosen gehören in der Regel nicht zu dieser "glücklichen" Kaste. Sie sind - vorausgesetzt sie sind nicht auch ohne Arbeit begütert - auch als Konsumenten stark eingeschränkt. So verlieren sie den Anschluß an die fraglich schöne Welt des Konsums und die Habenden beugen sich, ihren Wohlstand zelebrierend, mit ihren Almosen zu ihnen herab. Kein Wunder, daß viele Arbeitslose genauso - wenn nicht sogar noch mehr - verschuldet sind, wie viele Arbeitende auch - selbst der Staatshaushalt demonstriert dieses Problem. Die konsumorientierte Bedürfnißtruktur ändert sich gewiß nicht durch Arbeitslosigkeit, bei kompensatorischem Konsum ist eher das Gegenteil anzunehmen. Der Konsummensch braucht den Konsum, denn die Waren versichern ihn seines Seins.
Indes ist es ein Problem für die Mehrheit der Arbeitslosen, daß sie auf Hilfen angewiesen sind, die sie nicht wirklich brauchen und möchten, weil sie arbeiten könnten und keine Bittsteller sein wollen. Arbeitslosigkeit verletzt die Menschenwürde. Und niemand hätte die Grobheit, zu sagen, daß es den Übriggebliebenen besser ginge, wenn es keine Arbeitslosen gäbe. Deshalb läßt man sich das soziale Netz noch etwas kosten, anstatt gegenseitige Hilfen zu entwickeln.
Gegenseitige Hilfe würde bedeuten, daß die Arbeit gerecht aufgeteilt werden müßte, wodurch im Gegenzug die Konsumchancen gerechter verteilt würden, allerdings bei den noch Arbeitenden dann reduziert würden und deshalb auf ihre Sozialverträglichkeit hin überprüft werden müßten. Durch so eine Umverteilung / Zurückverteilung könnten vermutlich keine größeren Umsätze erreicht werden. Deshalb haben die Warenproduzenten kein Interesse daran. Ihnen ist es egal, wer die Waren konsumiert, solange die Kasse stimmt.
Den Zugriff auf die Warenstruktur durch die Umverteilung der verfügbaren Arbeit insgesamt zu verändern ist ohnehin wenig realistisch, zumal nicht jede/r jede Arbeit machen kann und will. Es sind jedoch Teilzeitund Rotationssysteme zwischen Arbeitnehmern und befristet Freigestellten denkbar, die sozialverträglich abgesichert sein müßten - von Fragen der Lohngerechtigkeit noch gar nicht zu sprechen.
Immer offenbarer wird dagegen die weitere Spaltung und Polarisierung in gesellschaftliche Gewinner und Verlierer. Eine Wirtschaftsordnung, die nur auf die Starken setzt, erzeugt die Schwachen, die sie braucht. Deshalb wollen auch die meisten Arbeitslosen rein in das herkömmliche System, das sie ausgegrenzt hat - diese Haltung nützt unterdessen den Arbeitslosen selbst am wenigsten. Und jene, die Alternativen ersinnen und einen solidarischen Markt der Armen initiieren wollen, sind den Modernisierungsgewinnern auch nicht ganz unrecht - schließlich gehört der Appell an die Selbsthilfekräfte zur neoliberalen Rhetorik.
Was als Selbsthilfe beginnt, kann in einen sich verhärtenden zweiten Markt und auch zu einem zweitrangigen Arbeitsmarkt führen - das ein weiteres Mal nicht ganz freiwillig. Weniger ist fraglos besser als nichts, weil es doch nicht nur um den Konsum, sondern schließlich um die Sinnhaftigkeit der geleisteten Arbeit gehen soll. Was aber wird geschehen, wenn auch die letzten Nischen gefüllt sind und sich an der konsumistischen Grundhaltung in der Arbeitsgesellschaft nichts ändert? Was bleibt übrig, wenn das Mitgefühl fehlt?
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