Frankfurter Rundschau 20.8.1999

Die Armen zahlen

Es muss befürchtet werden, dass irgendwann auch in Istanbul die Häuser in einem todbringenden Trümmerfeld zusammenbrechen

Von Karl-Heinz Karisch

Die alten Japaner wussten, was zu tun ist. Wenn die Erde bebt, dann geh' in den Bambushain, lautete ihr Rat. Doch auf einer Erdkugel, die mittlerweile sechs Milliarden Menschen mehr schlecht als recht trägt, sind die Haine rar geworden.

Es wird zugebaut. Aufwendig im bebengefährdeten Kalifornien oder Japan, dramatisch unsicher in China, Südamerika, Indonesien oder - wie sich nun als furchtbare Lektion zeigt - in der Türkei. Landflucht treibt dort die Menschen in die Industriestädte im Westen des Landes. Wenn sie zumindest ein Dach über dem Kopf haben wollen, dann wird die Sicherheit zum zweitrangigen Kostenfaktor.

Allein Istanbul muss jährlich rund 400 000 Zuzügler aufnehmen. Überfüllte Wohnungen, Schwarzbauten und aufgestockte Häuser sind das Ergebnis. Kurz vor Wahlen wird in regelmäßigen Abständen das illegal Hochgezogene rasch noch legalisiert. Die Armen mögen wenig Geld haben, aber doch eine Wählerstimme.

Das Wort "Mörder" für skrupellose Baufirmen, die sandigen Zement und dünne Eisendrähte zu tödlichen Beton-Fallen zusammengemischt haben, wurde rasch geprägt. Doch sie sind nur ein Teil innerhalb eines korrupten Systems, das als chronisch chaotisch beschrieben wird. Weder gibt es strenge Bauvorschriften noch strikte staatliche Kontrollen. Wenig erstaunlich ist, dass jahrhundertealte Kirchen und Moscheen den Beben trotzen. Sakralbauten sind von jeher statisch großzügig überdimensioniert worden, da mit ihren gewaltigen Kuppeln und Pfeilern oft architektonisches Neuland betreten wurde.

Dennoch muss daran erinnert werden, dass weder alte Baumeister noch unsere heutige hoch technisierte Welt die Naturkräfte jemals werden zähmen können. Das jetzige Beben in der türkischen Provinz Kocaeli gehörte zu den sehr schweren Erschütterungen. Gegen solche Gewalten, die die Energien mehrerer Atombomben freisetzen, können selbst wohlbetuchte Nationen mit funktionierender Erdbeben-Infrastruktur nur wenig ausrichten. So wurden bei dem katastrophalen Beben vom Januar 1995 im japanischen Kobe als sicher geltende meterdicke Stahlbeton-Pfeiler regelrecht pulverisiert. 5100 Tote, 25 000 Verletzte und 250 000 Obdachlose lautete die damalige Schreckensbilanz. Die entfesselten Naturgewalten hatten den Ingenieuren Grenzen aufgezeigt.

Auch die kulturrevolutionären Chinesen hatten einst neue Demut vor den Naturkräften lernen müssen. Sie bildeten Anfang der 70er Jahre zehntausende Amateurseismologen aus, die durch Natur- und Tierbeobachtungen Beben frühzeitig voraussagen sollten. Aufgrund dieser Beobachtungen wurde am 3. Februar 1975 die Stadt Haicheng evakuiert. Stunden später verwüstete ein schweres Beben die menschenleere Stadt. Der Triumph war groß. Doch der maoistische Staat und seine mobilisierten Volksmassen wähnten sich fälschlich in Sicherheit. Im Juli 1976 kam es in der dicht besiedelten Industrieregion um Tangschan zum verheerendsten Beben dieses Jahrhunderts. Diesmal hatte es keine erkennbaren Vorzeichen gegeben. Nach inoffiziellen Angaben starben 800 000 Menschen.

Es bleibt das bedrückende Fazit: Die Reichen dieser Erde können sich besser schützen als die Armen. Aber warum kann die Wissenschaft Erdbeben bislang nicht voraussagen? Die schlichte Frage ist schwierig zu beantworten. Die Erdkruste ist völlig ungleichmäßig und rechnerisch kaum zu beschreiben, das tiefere Erdinnere gar eine völlige Terra incognita. Es war der "berufsfremde" Meteorologe Alfred Wegener, der vor mehr als einem halben Jahrhundert mit seiner Theorie der Kontinentalbewegung den entscheidenden Impuls für die Erdbebenforschung gab. Tiefbohrungen der vergangenen Jahre bis zu 15 Kilometer glichen mikroskopischen Kratzern in den rund 200 Kilometer mächtigen Kontinentalschollen. Wichtigster Helfer der Forscher sind bis heute ausgerechnet Erdbeben, deren Wellen sich beim Lauf durch den Erdball so verändern, dass sie der Wissenschaft wertvolle Hinweise über den Schalenaufbau unseres Planeten liefern. Diese neuen Erkenntnisse machten die Abkommen zur Abschaffung unterirdischer Atomtests möglich, die heute sicher identifiziert werden können. Sie führten auch zu Sicherheitsabschätzungen beim Bau von Staudämmen und anderen Bauwerken.

Doch Wissenschaft allein vermag wenig, sie ist auf Politik und Gesellschaft angewiesen. Das deutsch-türkische Erdbebenprojekt beispielsweise gehört zu den größten der Vorhersageforschung in Europa. Gewarnt wurde vor dem Beben seit den 80er Jahren. Es hat nur keiner die Konsequenzen daraus gezogen, um die Folgen des Unvermeidlichen zu mindern.

Zu einem Zeitpunkt, da noch verzweifelt nach Überlebenden gesucht wird, liegen bereits neue Warnungen vor. Sie gelten der Millionenstadt Istanbul. Ein Umdenken ist dennoch bislang kaum erkennbar. So muss befürchtet werden, dass irgendwann in den kommenden Jahren auch dort die Häuser und Türme "wogen wie ein Getreidefeld im Wind" - so 1755 ein Zeuge der Zerstörung Lissabons - und in einem todbringenden Trümmerfeld zusammenbrechen.