Selektive Empathie und gefährlicher Nationalismus: „Kurdische Terroristen, türkische Revolutionäre“? Auf keinen Fall stelle ich die Legitimität der Gezi-Park-Proteste infrage. Die überwältigenden Demonstrationen in Istanbul, die sich nun im ganzen Land verbreitet haben, verdeutlichen, dass die Bevölkerung in der Türkei die menschenrechtsverletzende, autoritäre AKP-Regierung zunehmend ablehnt. Diese Proteste brauchen Solidarität – sie sind notwendige und positive Entwicklungen. Es war schließlich auch höchste Zeit, dass sich die Bevölkerung erhebt! Doch ohne die Bewegung an sich anzugreifen, muss ich die globalen Medien fragen: Wo wart ihr bei den Tausenden von kurdischen Protesten und Aufständen, die den Gezi-Park-Protesten vorausgingen? Kurden wurden während ihrer Protestaktionen jahrzehntelang in der Türkei getötet, geschlagen, verhaftet und gefoltert (sogar mit Unterstützung der Bevölkerung) – und das sogar viel schlimmer als auf den Bildern, die wir heute sehen. Millionen von Kurden gingen dieses Jahr in der Türkei auf die Straßen und diese Art der schrecklichen Polizeigewalt ist für sie überhaupt nichts Neues. Der Unterschied ist, dass sich niemand darum kümmerte. Warum? Man hört Geschichten von Demonstranten, die Dinge wie "Die Polizei greift uns an, als wären wir Terroristen" von sich geben. Diese seltsame Arroganz ist sehr problematisch. Würden diese Proteste, anstelle von Istanbul, in den kurdischen Städten im Südosten der Türkei stattfinden, wären die Demonstranten wieder einmal als "Terroristen", "Separatisten" und "Verräter" abgetan worden, während die Polizisten als Helden gepriesen würden! Ich wünsche natürlich kein Leid herbei, aber vielleicht erzeugen diese Proteste etwas Empathie und öffnen die Augen der türkischen Bevölkerung, sodass sie erkennen, womit die Kurden tagtäglich in der Türkei konfrontiert sind. Wenn sie, auch wenn es nur für ein paar Tage ist, in den Schuhen derjenigen laufen, von denen sie der Staat und seine Medien entfremdet hat, derjenigen, die sie jahrzehntelang als „Terroristen“ bezeichnet haben, doch in deren Situation sie sich nun wiederfinden, löst das vielleicht eine Bewusstseinsänderung aus. Wie der kurdische Abgeordnete Selahattin Demirtas erklärt: "Es ist für euch an der Zeit, die Kurden zu verstehen." Wie gesagt bin definitiv ich nicht gegen diese Proteste. In der Tat verfolge ich die Ereignisse leidenschaftlich und hoffe auf echte Veränderungen. Aber wo war die Welt und die Wut der türkischen Bevölkerung nach den mörderischen Massakern in Roboski (Uludere) oder Reyhanli? Wer kümmerte sich um die kurdischen Mütter, die, die Lungen mit Pfefferspray gefüllt, kollektiv auf der Straße geschlagen wurden, nur weil sie Newroz, das mesopotamische Neujahrsfest, feiern wollten? Wo ist die Empörung über die Lynch-Aktionen an Kurden und Aleviten in Istanbul? Wo war die Türkei, als das Militär jeden Baum im kurdischen Osten niederbrannte? Waren all diese kurdischen Demonstrationen, die von Millionen von Menschen über Jahrzehnte hinweg besucht wurden, es nie wert, modegemäß als "Frühling" bezeichnet zu werden? Warum erschüttert die Polizeigewalt an Kurden niemanden? Wie viele Nachrichtenagenturen berichteten über den 19-jährigen Sahin Öner, der vor ein paar Monaten von einem Panzer in Amed (Diyarbakir) getötet wurde? Verdienen Kurden nicht die gleiche Solidarität und Aufmerksamkeit der Medien? Warum existiert solch eine selektive Empathie, wenn es darum geht, wer in der Türkei Widerstand leistet? Ein weiterer beunruhigender Faktor ist die zunehmend nationalistische Färbung, die diese Proteste annehmen. Obwohl es ignorant wäre, diese facettenreiche Bewegung, vor allem in Anbetracht der komplexen politischen Kultur der Türkei, zu verallgemeinern, ist es dennoch wichtig, sich der Gefahren bewusst zu sein, die ein Erstarken der säkular-nationalistisch motivierten Anti-AKP Strömung herauf beschwören könnte, indem bestimmte Parteien die Unruhen für ihre Zwecke ausnutzen. Türkische Flaggen, Nationalhymnen – nur um sich der AKP zu widersetzen, greifen einige auf die altbekannte "Wir-sind-die-Soldaten-Atatürks"-Mentalität zurück, die jedoch für den weitverbreiteten Rassismus und zahlreiche Menschenrechtsverletzungen in der Türkei verantwortlich ist. Bestimmte Gruppen scheinen einen Verlust des "Türkentums" unter der regierenden AKP zu befürchten, weil sie Erdogan mit seiner zunehmenden Islamisierungspolitik als einen autoritären osmanischen Sultan betrachten, der Mustafa Kemal Atatürks republikanischem Prinzip des Säkularismus trotzt. Aber Erdogan hat das "Türkentum" in seinen Augen nie degradiert; tatsächlich hält er die Traditionen seiner säkularen Vorgänger aufrecht, indem er nicht-türkische Gruppen weiterhin unterdrückt und diejenigen bestraft, die es wagen, das Türkentum oder die Türkei zu beleidigen. Eine reaktionäre Antwort auf das autoritäre Regime der islamisch-konservativen AKP scheint erneut im guten alten säkularen, kemalistischen Nationalismus gesucht zu werden. Jedoch ist keiner von beiden als Verfechter der Menschenrechte bekannt – die Kurden wissen das nur zu gut. Was als Protest gegen die Zerstörung der Bäume im Gezi-Park anfing, wird von einigen als Chance betrachtet, die sichtbaren Anti-AKP-Impulse für ihre eigenen Zwecke auszubeuten. Es ist falsch, diese Aufstände in einem vereinfachten schwarz-oder-weiß-Rahmen wie "politische Religion vs. Säkularismus" zu analysieren. Natürlich ist Säkularismus notwendig, aber Säkularismus um des Säkularismus willen, reicht nicht aus, um eine echte, adäquate Demokratie zu etablieren. Vor allem in der Türkei haben säkulare Regierungen viele Menschenrechte verletzt, weil sie von einem gnadenlosen nationalistischen Chauvinismus begleitet wurden, der in seiner Assimilations- und Vernichtungspolitik gegen alle Nicht-Türken diskriminierte. Gab es denn unter laizistischer Herrschaft vor Erdogan keine Menschenrechtsverletzungen, unaufgeklärte außergerichtliche Tötungen, Dorfzerstörungen, Massenmorde und Massaker in der Türkei? Eine Art des Faschismus mit einer anderen zu ersetzen würde nur die Uhr der türkischen Geschichte ein paar Jahre zurückdrehen. Diese berechtigten Proteste dürfen keinesfalls für solche Interessen ausgenutzt werden. Widerstand ist gut, Widerstand heißt Leben. Aber Demokratie in der Türkei kann nur durch die Einheit und Gleichheit der Völker zustande kommen, nicht etwa durch Nationalismus oder der Verherrlichung des Türkentums. Es gibt viele Faschisten unter den Demonstranten, die sich "devrimci" (Revolutionäre) nennen, nur weil sie sich der AKP-Regierung widersetzen. Die wahren Revolutionäre der Türkei, die von denselben Parteien, die sich heute als „revolutionär“ bezeichnen, hingerichtet worden sind, würden sich im Grabe umdrehen! Ein neues, alternatives Denken muss sich im türkischen Bewusstsein entwickeln, das demokratisch und säkular ist, ohne die Schädel der ethnischen und religiösen Gruppen zu zermalmen, die nicht dem Mythos des glorreichen Türken entsprechen. Meine Hoffnung ist, dass die Demonstranten in Istanbul und in der ganzen Türkei von diesem Paradigma des Türkentums ablassen. Natürlich beschuldige ich nicht jeden Demonstranten des Rassismus, aber selbst ein kleiner Anstieg des türkischen Nationalismus könnte gefährlich sein. Immerhin hat er eine mörderische Geschichte. Einige Parteien, die die Friedensgespräche zwischen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der türkischen Regierung verhindern wollen, könnten diese Bewegung ausnutzen, um den Friedensprozess zu stören. Das darf nicht passieren. Stattdessen muss dieser Aufstand KurdInnen, TürkInnen, LazInnen, AraberInnen, AlevitInnen, SunnitInnen, YezidInnen, ChristInnen und Orthodoxe aller Geschlechter vereinen, um wahre Demokratie in der Türkei anzustreben. Während viele revolutionäre Zitate und Bilder, die normalerweise mit der kurdischen Bewegung und dem linken Spektrum der türkischen Politik assoziiert werden, zahlreich in sozialen Netzwerken geteilt wurden, schmückten vor ein paar Nächten zwei türkische Hashtags gleichzeitig die weltweite „Top-Trends“-Liste auf Twitter. "Schön, dass es dich gibt, Atatürk" und "Schön, dass es dich gibt, Tayyip". Beide Strömungen massakrierten, inhaftierten, folterten und zensierten Kurden und andere Gruppen und Dissidenten. In solch einer ethnisch und religiös vielfältigen Region sollten die Menschen nicht zwischen zwei Übeln wählen müssen ... Soziale Medien, internationale
Solidarität, innovative Protestformen – dies sind erstaunlich wirksame
Mobilisierungsmittel in diesem Zeitalter. Es ist toll, eine so frische,
dynamische, kreative und umfassende Unterstützung für die Demonstrationen
in Istanbul zu sehen. Aber trotz hunderten von überwältigenden Protesten
in Kurdistan und der kurdischen Diaspora wurde die kurdische Bewegung
marginalisiert. Diese selektive Empathie und Aufmerksamkeit sind entmutigend,
wenn man bedenkt, dass die legitimen Forderungen der Kurden, die von Jung
bis Alt seit Jahrzehnten politisiert sind, nie so viel Aufmerksamkeit
oder Solidarität bekommen haben, egal wie viele Tonnen Tränengas ihre
geschlagenen Körper eingeatmet haben. Die globalen Medien, die sich nun
wundern, warum es keine Demokratie in der Türkei gibt, müssen sich zuerst
selbst für ihr eigenes Schweigen zur Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung
kritisieren. Die Demokratisierung der Türkei muss die Kurden einschließen.
Wenn dieser türkische Widerstand die Kurden zurücklässt, so wie der sogenannte
„Arabische Frühling“ Frauen und ethnische Minderheiten zurückgelassen
hat, können wir nicht von einer Revolution im wirklichen Sinne sprechen.
Die Tyrannei würde dann nur erneut ihr Gesicht ändern. enn die erstaunliche Energie von „#OccupyGezi“ von nationalistischen Gruppen vereinnahmt wird, werden die gleichen Demonstranten, die in den letzten paar Tagen ihre inneren Revolutionäre entdeckt haben, wieder ihre Fußballspiele schauen, während die Kurden morgen wieder Tränengas schlucken. Möge dieser Aufstand Einheit und Gleichheit in bedeutsamer, demokratischer Weise erzeugen, die jede Gruppe in der Türkei umfasst. In diesem Sinne, leiste Widerstand, Gezi-Park, aber leiste Widerstand für alle! Dilar Dirik, 6. Juni 2013, http://dilar91.blogspot.de/ |