Kampagne für
Pinar Selek:
Petition mit mehr als hundert UnterstützerInnen aus über 20 Ländern veröffentlicht
Mehr als 130 Einzelpersonen und Organisationen aus über zwanzig Ländern,
darunter 23 Parlamentsabgeordnete sowie viele Persönlichkeiten aus Wissenschaft
und Zivilgesellschaft, haben in einer Petition ihre Besorgnis über das
seit acht Jahren andauernde Verfahren gegen die türkische Soziologin Pinar
Selek zum Ausdruck gebracht und die Forderung erhoben, dass die Anklage
gegen Frau Selek angesichts nicht vorhandener Beweise endlich fallengelassen
wird.
Die Petition mit der Liste der UnterstützerInnen und das dazu gehörige
fact sheet können in deutscher
und türkischer
Sprache heruntergeladen werden.
Pınar
Selek
Der feministischen
Soziologin und Friedens-aktivistin Pınar Selek droht in der Türkei eine
lebenslange Haftstrafe aufgrund einer Tat, die sie nicht begangen hat.
Zur
Person:
Pınar Selek, geboren 1971 in Istanbul, studierte in Ankara Soziologie
und absolvierte in Paris ihren Master. Ihr Vater ist ein bekannter Rechtsanwalt
in Istanbul. Sie begann früh, sich mit den bestehenden Problemen und Widersprüchen
in ihrem Land auseinander zu setzen, arbeitete als freie Soziologin mit
Straßenkindern und veröffentlichte in Buchform eine Studie über die Gewalt
an Transsexuellen und Transvestiten in Istanbul. Nebenbei übersetzte sie
ein Buch des Zapatista Marcos ins Türkische. Bei soziologischen Studien
zu den Hintergründen des in der Türkei seit langen Jahren andauernden
Krieges
zwischen der türkischen Armee und der kurdischen PKK zog sie die Aufmerksamkeit
des Staates auf sich. Sie wurde festgenommen, unter Folter verhört und
ins Gefängnis gesteckt. Nach zweieinhalb Jahren wurde sie aus der Haft
entlassen und arbeitet seitdem aktiv in der Frauen- und Friedensbewegung.
Sie ist Mitgründerin der Frauenkooperative Amargi und organisierte nach
ihrer Haftentlassung sehr erfolgreich „Frauentreffen“ für einen Dialog
und Austausch in kurdischen Städten, zu denen sie mit anderen engagierten
Frauen aus den türkischen Metropolen fuhr. Auch die Aktion „Frauen laufen
aufeinander zu“, bei der aus verschiedenen Städten der Türkei Frauengruppen
zu langen Fahrten ins zentral gelegene Konya aufbrachen, wurde von Pınar
Selek mit initiiert. Weiterhin engagierte sie sich für Gewaltopfer wie
im Fall von Gülbahar Gündüz, die von Polizisten verschleppt und vergewaltigt
worden war, und in der Organisierung der Frauenbewegung. 2004 veröffentlichte
sie das Buch „Barışamadık“ (Wir haben keinen Frieden geschlossen), in
dem sie die Friedensbewegung und den Militarismus in der Türkei analysiert.
Sie schreibt außerdem für die Tageszeitung „Ülkede Özgür Gündem“.
Zum
Prozess:
Wessen sie angeklagt wurde, erfuhr Pınar Selek anderthalb Monate nach
ihrer Verhaftung, als sie nach Folter und Verhören im Gefängnis Nachrichten
schaute. Sie wurde verantwortlich gemacht für eine Explosion in einem
belebten Basar in Istanbul am 9. Juli 1998, bei dem sieben Menschen
ums Leben kamen und weitere 120 verletzt wurden. Seit sieben Jahren läuft
ein Prozess gegen sie und weitere 14 Angeklagte, von denen sich zur Zeit
noch drei in Haft befinden. Der Prozess war von Beginn an geprägt von
Ungereimtheiten, die das Konstrukt der Anklage immer deutlicher werden
ließen. So ließ das Gericht im Laufe der Jahre immer neue Sachverständigengutachten
anfertigen, die aber stets das gleiche Ergebnis lieferten: Ursache der
Explosion in dem Basar sei eine geplatzte Gasflasche gewesen, keine Bombe.
Auf Drängen des Innenministeriums und der Istanbuler Polizeidirektion
wurde schließlich von der Kriminalabteilung der Jandarma ein neues Gutachten
erstellt, von dem Professorin Inci G. Gökmen von der Technischen Universität
Mittlerer Osten erklärte, sie sei aufgefordert worden, es zu unterschreiben,
nachdem zwei weitere Dozenten es bereits abgesegnet hatten. Sie lehnte
ab und veröffentlichte am 10.07.2002 ein eigenes Gutachten, in dem die
These vertreten wird, dass die Explosion im Zusammenhang mit einer defekten
Gasflasche steht. Unter Folter erpresste Zeugenaussagen gegen Pınar Selek
sind inzwischen wieder zurück genommen worden. Bei der letzten Hauptverhandlung
am 28.12.2005 forderte der Staatsanwalt in seinem Abschlussplädoyer zur
Verblüffung aller Prozessbeobachter für Pınar Selek und vier weitere Angeklagte
eine lebenslängliche Haftstrafe. Die Verhandlung wurde auf den 17. Mai
2006 vertagt.
Der
bisherige Verlauf des Prozesses macht deutlich, dass Pınar Selek mit einer
konstruierten Anklage zum Schweigen und zur Untätigkeit verurteilt werden
soll. Ähnlich wie in den bekannt gewordenen Fällen des Schriftstellers
Orhan Pamuk und des armenischen Verlegers Hrant Dink geht es um die Unterdrückung
unliebsamer Positionen. Zweck des Prozesses gegen Pınar Selek ist die
Verhinderung ihrer politischen Arbeit, die sich nie darauf beschränkte,
gesellschaftliche Probleme anzuprangern, sondern Menschen zusammenbringt,
um über ein gegenseitiges Verständnis Wege für ein friedliches Zusammenleben
aller zu ebnen.
Pressemitteilung:
ISKU | Informationsstelle Kurdistan e.V.
Hamburg, 12.Januar 2006
Anhang:
„Ein völlig absurder Prozess!“
Von Müjgan Arpat, aus: Gündem Frauenbeilage, 07.01.2006, ISKU
„Wir sind Zeuginnen“
Unterstützungserklärung Intellektueller aus der Türkei
pdf-Datei:
Pressemitteilung
"Ein völlig absurder Prozess
weitere
Texte und Artikel:
Sie
haben das beschmutzt, was für uns von größter Reinheit war
Tag
des Urteils für Pinar Selek
Prozesse
wegen Meinungsfreiheit in der Türkei
Erneut
kein Urteil im „Misir-Basar-Prozess“
Schlussplädoyers im „Misir-Basar-Prozess“
jW:
Verhandlung gegen Pinar Selek vertagt
Kein
Urteil im Prozess gegen Pinar Selek
Verteidigung
Pinar Seleks in der Verhandlung am 17. Mai 2006
jW:
Komplott gegen Pinar Selek
Pinar
Selek legt heute ihre Verteidigung vor
"Gebt
mir wenigstens die Erlaubnis, wie eine Kakerlake zu leben"
„Ich
lebe, trotz allem…“
Interview
mit Pinar Selek in der türkischen Tageszeitung Sabah
Anzeige
gegen Unterstützer von Pinar Selek
Pınar
Selek: Stoppt dieses Grauen...
Pinar
Selek: Die Herrschaft der Angst
282
ZeugInnen für Pınar Selek!
Freiheit,
gibt es das?
DTP
und die Hoffnung
Pinar
Selek: Trotz allem Soziologie
Pinar
Selek: Frieden?
Ermittlungsverfahren gegen
Gündem-Journalisten
Reinheit
und Aufrichtigkeit
20
Fraueneinrichtungen zeigen
Solidarität mit Pinar Selek
Soviele Fehler kann ein
Rechtsstaat nicht ertragen
Lebenslange
Haft beantragt
36
weibliche Intellektuelle unterstützen Pinar Selek
Der Nationalstaat basiert auf Assimilation
Der Frieden hängt von uns ab
Drohungen…
PINAR SELEK: Ich bereue...
Aus
dem Funken ist ein Feuer entstanden
Ein Weg aus bunten Tüchern
Die
Bündel mit Worten von Freiheit füllen
Verschleppt und vergewaltigt
Länderbericht zur Türkei von amnesty international
Der Kulturrevolution entgegen
Interview mit Pinar Selek
Frauen wollen Frieden
Auch
wir haben einen Tanz
weitere Initiativen:
American
Association for the Advancement of Science | mit vorgefertigten Protestschreiben
an türkische Politiker in englischer Sprache
|
|
|
|
Initiative
„Solidarität mit Pinar Selek“
c/o ISKU e.V.
Schanzenstraße 117
20357 Hamburg
eMail: pinarselekledayanisma@nadir.org
Hamburg, 8. Juni 2006
Pressemitteilung
- Freispruch für Pinar Selek -
Heute fand vor dem 12. Schweren
Strafgericht in Istanbul-Besiktas die Urteilsverkündung im Prozess um
die Explosion im Misir-Basar im Jahr 1998 in Istanbul statt. Die Soziologin
Pinar Selek wurde freigesprochen.
Das Gericht erklärte, es gebe
keine konkreten Beweise dafür, ob die Explosion durch einen Bombenanschlag
oder durch ein eine defekte Gasflasche verursacht wurde. Der Anklagepunkt
„Unterstützung einer illegalen Organisation“ gegen Pinar Selek und weitere
Angeklagte wurde wegen Verjährung fallen gelassen. Drei der insgesamt
15 Angeklagten wurden wegen „Mord im Auftrag der PKK“ in einem anderen
Fall zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt, zwei weitere zu
jeweils 12,5 Jahren und einer zu fünf Monaten.
Pinar Selek war bei der Urteilsverkündung
nicht anwesend, sondern nahm in der gleichen Zeit an einem von Antimilitaristen
organisierten Antigewalttraining teil.
Auch in Pinars Namen bedanken
wir uns bei allen, die unsere Kampagne für einen Freispruch unterstützt
haben. Der Verlauf des acht Jahre andauernden Prozesses hat gezeigt, dass
ein Freispruch ohne die hergestellte Öffentlichkeit sehr fraglich gewesen
wäre. An dieser Stelle möchten wir daran erinnern, dass in der Türkei
nach wie vor zahlreiche Prozesse gegen unliebsame AktivistInnen geführt
werden, um diese mundtot zu machen. Auch in diesen Fällen mit z.T. weniger
prominenten Angeklagten ist eine kritische Beobachtung durch die internationale
Öffentlichkeit gefordert.
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Ein
völlig absurder Prozess!
Von
Müjgan Arpat
Als
Pınar Selek vor fünf Jahren aus dem Gefängnistor trat und sagte: „Trotz
allem werde ich meinen Kampf für Frieden fortsetzen“, haben wohl aufgrund
ihrer Erlebnisse wenige, außer den Menschen ihrer näheren Umgebung, daran
geglaubt. Denn es war ja auch kein leichter Brocken, den sie zu schlucken
hatte: In der Öffentlichkeit wurde sie, eine Frau, die feministisch, antimilitaristisch,
gegen jede Art von Gewalt produzierenden Machtmechanismen eingestellt
und in ihrem Kampf nicht oberflächlich und rhetorisch blieb, sondern sich
mitten hinein stürzte, plötzlich der Öffentlichkeit als Bombenlegerin
präsentiert. Sie war festgenommen, mit Stromschlägen bearbeitet, am Palästinenserhaken
aufgehängt und weiteren Foltermethoden ausgesetzt worden. Während ihrer
zweieinhalbjährigen Haftzeit erlebte sie das Todesfasten und die berüchtigte
Gefängnisoperation vom 19. Dezember 2000. Die Polizisten, die sie festnahmen,
sagten zu ihr: „Du wirst schon sehen, du wirst es nicht aushalten können
und dich umbringen“.
Aber
Pınar Selek fand im Gefängnis die Möglichkeit, mit Kriegsopfern zusammen
zu kommen und ihren Kampf noch besser zu begreifen. Als sie das Gefängnis
verließ, war sie stärker als zuvor. Lachend merkt sie an, dass das Gefängnis
für eine Soziologin „ohnehin ein Paradies“ sei. Sofort nach ihrer Entlassung
setzte sie ihren Friedenskampf dort fort, wo sie ihn vor zwei, drei Jahren
unterbrechen musste – zum Missfallen vieler.
Eine
Auflistung ihrer Projekte und Arbeit würde den Rahmen dieses Artikels
sprengen. Die LeserInnen dieser Zeitung kennen sie ohnehin. Trotzdem möchte
ich ein paar Beispiele nennen. Direkt nach ihrer Freilassung gründete
Pınar Selek mit feministischen Frauen die Frauenkooperative „Amargi“.
Sie arbeitet in verschiedenen Feldern der Friedens- und Frauenbewegung.
Bevor sie ins Gefängnis kam, hatte sie eine Untersuchung zur Gewalt gegen
Transsexuelle und Transvestiten in Istanbul begonnen, die sich nach ihrer
Haftentlassung abschloss. Diese Arbeit wurde als Buch veröffentlicht.
Danach veröffentlichte sie das Buch „Wir haben keinen Frieden geschlossen“,
in dem sie mit feministischem Blickwinkel die Friedensbewegungen und den
Militarismus im Land hinterfragte und untersuchte.
In
dieser Zeit habe ich Pınar kennen gelernt. Ich kam gerade aus dem Ausland
und war auf der Suche nach etwas, das ich tun könnte. Und ich fand Pınar.
Sie schien nicht aus diesem Land zu kommen. Normalerweise beschäftigen
sich die Menschen leider nur mit den eigenen Problemen. Pınar hatte zu
allen „anderen“, allen Diskriminierten, allen Unterdrückten etwas zu sagen.
Sie bezog Stellung und kämpfte. Sie war einer der wenigen Menschen, die
das, was sie sagen, auch leben. Sie war zu einem Teil des Kampfes gegen
den Krieg geworden, der in diesem Land seit Generationen andauerte. Mit
den Soziologen, die am Schreibtisch Wörter produzieren und Feldforschung
betreiben, ohne mit den Menschen, denen ihre Untersuchung gilt, den geringsten
Kontakt zu haben, hatte sie keine Ähnlichkeit. Können Sie sich vorstellen,
während Sie mit Straßenkindern arbeiten, monatelang mit ihnen auf der
Straße zu leben und zu schlafen? Oder während einer Untersuchung zu Gewalterlebnissen
von Transsexuellen und Transvestiten mit ihnen zu leben, die gleichen
Reaktionen aus der Gesellschaft zu erfahren und den Moment mit zu erleben,
wenn diese gezwungen sind, sich selbst zu verkaufen? Haben Sie jemals
die Bedingungen geschaffen, auf Treffen und Versammlungen die gleichen
Männer, die jetzt als Demokraten und Revolutionäre auftauchen, sehen und
dabei die Scheinheiligkeit der Gesellschaft erkennen zu können? Pınar
ist eine, die mit denen lebt, arbeitet und kämpft, die zu „anderen“ gemacht
wurden.
Weder
in ihren Untersuchungen noch in ihrem politischen Leben kommt Oberflächlichkeit
vor. Wort und Leben sind eins bei ihr. Auf welchem Gebiet sie auch arbeitet,
zunächst geht sie mit der Neugier eines Kindes zwischen die Menschen,
die zu „anderen“ gemacht werden, die diskriminiert oder unterdrückt werden.
Sie hört ihnen zu, versucht zu begreifen und sagt erst dann, was sie zu
sagen hat.
Das
Komplott, mit dem sie zur „Bombenlegerin im Misir-Basar“ gemacht worden
ist, ist meiner Meinung nach genau aus diesem Grund konstruiert worden.
Pınar wollte immer untersuchen, welche Gründe es für den seit Jahrzehnten
herrschenden Krieg in diesem Land gibt, welche Kräfte einen Frieden verhindern,
wer von einer Fortsetzung des Krieges profitiert, was die PKK als eine
der Kriegsparteien zu diesem Thema denkt und was für eine Politik sie
verfolgt. In ihrem Buch „Wir haben keinen Frieden geschlossen“ zitiert
sie Quincy Wright mit folgenden Worten: „Wenn ein Krieg beendet werden
soll, müssen zunächst die Gründe dafür verstanden werden. Um zu verstehen,
muss man das Thema untersuchen“.
Als
feministische und antimilitaristische Soziologin wollte Pınar Selek genau
das tun. Um den Krieg zu begreifen, wollte sie seine Ursachen untersuchen
und eine Antwort auf die Frage finden: „Wie können wir die Gewalt aus
den gesellschaftlichen Beziehungen ausschließen und Frieden schließen?“.
In ihrem Buch sagt sie: „Wir haben keinen Frieden schließen können. In
diesem Land wird Politik seit Tausenden von Jahren mit Waffen gemacht.
Die Unbewaffneten werden zuerst isoliert, dann wie Sekten an das System
gebunden. Das lang andauernde Schweigen schärft die Wut wie ein Messer.
Die eigene Geschichte wird aus dem Nebel heraus gefiltert und denen gegenüber,
die diese Geschichte nicht kennen, laut heraus geschrien. Ohne die Geschichte
der Aufstände, Verbote, Kerker, Massaker und Völkermorde [...] zu kennen,
können wir auch die Motivation derer nicht begreifen, die Waffen in den
Händen halten und ihr Leiden herausschreien. Es wurde nie darüber diskutiert,
warum die Frau, die sich 1996 in einer Gruppe von Soldaten in die Luft
sprengte, Zilan hieß. Dabei gibt es immer noch Menschen, denen die Traueroden
aus dem Massaker am Bach Zilan in den Ohren klingen“.
Warum
ist Pınar in dieses Komplott geraten? Pınar Selek erkannte bei Gesprächen
mit PKKlern, dass auch diese nach Möglichkeiten suchten, den Krieg zu
beenden und einen Kampf ohne Waffen zu führen. Aber diese Suche passte
den militaristischen Kräften nicht, die von einer Fortsetzung des Krieges
profitieren. Sie entwarfen ein Komplott-Szenario für Pınar Selek, das
sie umgehend in die Tat umsetzten. Ihre Forschungsarbeit wurde ihr weggenommen.
Ganze anderthalb Monate nach ihrer Festnahme wurde sie erstmalig mit der
Anschuldigung konfrontiert, eine Bombe im Misir-Basar gelegt zu haben.
Bei ihrer Festnahme und während der unter Folter stattfindenden Verhöre
wurde keine einzige Frage im Zusammenhang mit der Explosion gestellt.
Sie selbst erfuhr von der Anschuldigung, die Verantwortliche für die Explosion
zu sein, in den Nachrichten im Fernsehen, nachdem sie verhaftet und ins
Gefängnis überstellt worden war. Das Szenario für das Komplott wurde aus
unter Folter erpressten Aussagen, vorschriftswidrigen Verhören und gefälschten
Protokollen erstellt.
Ich
finde den Prozess gegen Pınar Selek im Zusammenhang mit der Explosion
im Misir-Basar immer noch so absurd, dass ich ihn gar nicht weiter ernst
genommen habe, weil ich immer davon ausgegangen bin, dass sie früher oder
später freigesprochen werden muss. Es ging mir mehr um den Zeitpunkt,
damit diese Gewalt, die gegen Pınar ausgeübt wird, ein schnelles Ende
findet. Aber wie alle anderen auch, wurde ich am 28. Dezember 2005 durch
das Schlussplädoyer des Staatsanwaltes eines Besseren belehrt. Die Staatsanwaltschaft
forderte eine lebenslange Haftstrafe für Pınar Selek. Als ob der gesamte
Prozess nicht stattgefunden hätte, als ob die gesamte Anklage nicht mit
Beweisen, wissenschaftlichen Gutachten und Zeugen widerlegt worden wäre,
wurden im Plädoyer lediglich die Anklagepunkte vom Anfang wiederholt.
Ich würde gerne wissen, ob der Herr Staatsanwalt noch ruhig schlafen kann.
In
den Akten und an den Verhandlungstagen sind so viele Dokumente und Beweise
hervor gebracht worden, die belegen, dass es sich bei der Anklage um ein
erdachtes Szenario handelt, dass es mir schwer fällt, zu entscheiden,
welchen Punkt ich zuerst nennen soll. So wurde Pınar Selek in Kurtulus
festgenommen, aber im Polizeiprotokoll steht als Festnahmeort Beyoglu,
Oda Kule. Im Protokoll findet sich unter den Gegenständen, die bei ihr
bei der Festnahme gefunden und beschlagnahmt worden sind, kein Schlüssel,
aber im Protokoll zur Tatortbegehung ist vermerkt, dass die „Werkstatt
mit dem bei Pinar Selek aufgefundenen Schlüssel geöffnet“ worden ist.
Mit
wissenschaftlichen Gutachten, die während des Prozesses von verschiedenen
Institutionen erstellt worden sind, wird belegt, dass Ursache der Explosion
nicht eine Bombe, sondern eine Gasflasche gewesen ist. Abdülmecit Öztürk
als einer der Zeugen hat ausgesagt, dass er Pınar Selek nicht kennt, gefoltert
worden ist und seine unter Folter erpresste Aussage falsch ist. Es hat
sich herausgestellt, dass es sich bei denjenigen, die unter Folter gegen
Pınar Selek ausgesagt haben, nicht um PKK-Überläufer handelt, sondern
um Sedat Pekers Männer [Nationalistischer Krimineller, der trotz mehrerer
Anklagen und längerer Untersuchungshaft niemals rechtskräftig verurteilt
wurde]. Und so wurde Pinar Selek nach zweieinhalb Jahren aus der Haft
entlassen, als das Komplott durch Gutachten und andere Beweise aufflog
und auch die Öffentlichkeit nicht mehr an ihre Schuld glaubte.
Nach
ihrer Freilassung intervenierten sowohl das Innenministerium als auch
die Istanbuler Polizeidirektion in der Besorgnis, weitere Details des
Komplotts könnten bekannt werden, auf illegale Weise in das Gerichtsverfahren,
indem sie ohne in irgendeiner Weise vom Gericht dazu aufgefordert zu sein,
trotz etlicher bereits bestehender Gutachten die Forderung aufstellten,
eine neue Abordnung aus Wissenschaftlern müsse zusammen gestellt werden.
Damit übten sie Druck auf das Gericht aus und beeinflussten den Verlauf
des Prozesses.
Trotz
des Einspruches der Verteidigung, diese Intervention sei illegal und dürfe
nicht in die Akten eingehen, erfüllte das Gericht die Forderung und schickte
die Akte auf Beschluss vom 27.02.2002 an das im Rahmen der EU-Anpassungsgesetze
inzwischen aufgehobene Staatssicherheitsgericht (DGM) in Ankara – als
ob es in Istanbul keine Fachleute für dieses Thema gebe – und forderte
von einer fünfköpfigen Kommission, in der sich auch zwei Jandarma-Angehörige
befanden, ein neues Gutachten. Prof. Inci G. Gökmen von der Technischen
Universität Mittlerer Osten gab daraufhin eine Erklärung ab, sie sei in
die Kriminalabteilung der Jandarma zitiert worden, wo sie aufgefordert
worden sei, ein Gutachten zu unterzeichnen, das von der Jandarma erstellt
und von zwei weiteren Dozenten bereits unterschrieben worden sei. Dieses
habe sie abgelehnt. In einem eigenen Gutachten, das die Professorin am
10.07.2002 veröffentlichte, wird die These vertreten, dass die Explosion
im Zusammenhang mit einer defekten Gasflasche steht.
Von
Anfang an wurde mehrmals versucht, auf rechtswidrige Weise in das Verfahren
einzugreifen. Verschiedene Abteilungen der Polizei und andere Gruppen
bemühten sich, eigene Schreiben als Beweise in die Akten aufnehmen zu
lassen. Ein weiterer Beleg dafür, dass der Prozess unter Druck von oben
verläuft, ist die Tatsache, dass aus unbekannter Stelle innerhalb des
Justizministeriums eine kontinuierliche Berichterstattung über den Verlauf
des Prozesses angefordert und vom Gericht aus dieser Forderung nachgekommen
wird.
Es
ist alles getan worden, damit der zu einer Lügengeschichte gewordene und
seit sieben Jahren andauernde Prozess kein Ende findet. Staatsanwaltschaft,
Polizei, Innen- und Justizministerium haben Druck gegen das Gericht ausgeübt.
Der
Prozess zur Explosion im Misir-Basar wird immer noch selbst von der demokratischen
Öffentlichkeit nicht wie die Prozesse, die nach den die Meinungsfreiheit
einschränkenden Paragraphen 301 oder 305 eingeleitet worden sind, bewertet.
Meiner Meinung nach sollten die Intellektuellen und Demokraten der Türkei
dem Prozess gegen Pınar Selek, der auf einem Komplott beruht, das aufgrund
der wissenschaftlichen Arbeit Seleks inszeniert wurde, die gleiche Aufmerksamkeit
schenken wie den anderen Prozessen, in denen es um Meinungsfreiheit geht.
Sie sollten Pınar in ihrem Kampf nicht allein lassen.
Ich
frage mich auch, wie die Türkei auf dem Weg in die EU diesen Prozess Europa
erklären will.
Quelle:
Gündem Frauenbeilage, 07.01.2006, ISKU
Wir
sind Zeuginnen
Wir,
die Unterzeichnenden, sind Zeuginnen dafür, dass
Pınar
Selek
eine
feministische, antimilitaristische Gewaltgegnerin und Forscherin
ist. Wir sind davon überzeugt, dass sie mit den Anschuldigungen,
die ihr seit Jahren zur Last gelegt werden, nichts zu tun hat und
fordern,
ihre Arbeit und ihre Forschung im Rahmen der Gedankenfreiheit zu
bewerten.
Ihre Arbeit kann nicht als Straftat betrachtet werden.
Wir erklären hiermit, dass wir deshalb an der Seite der Soziologin
Pınar Selek stehen.
Prof. Aksu Bora, Aslı Altan, Aslı Erdoğan (Autorin), Ayfer Tunç
(Autorin), Yrd. Doç. Ayşe Parla, Ayşe Günaysu (Dolmetscherin), Berat
Günçıkan (Journalistin), Esra Kahraman (Journalistin), Doç Dr. Filiz
Kardam, RA Filiz Kerestecioğlu, Filiz Karakuş, Filiz Koçali (SDP-Vorsitzende),
Gaye Boralıoğlu, Güldal Kızıldemir, Güler Kazmacı (Journalistin),
Gülnur Savran (Autorin), Prof. Jale Parla, Jülide Kural (Theaterschauspielerin),
Karin Karakaşlı (Autorin), Müjgan Arpat (TV-Korrespondentin), Neşe
Şen, Nevin Sungur (TV-Korrespondentin), Nilgün Yurdalan, Nilüfer
Akbal (Sängerin), Perihan Mağden (Autorin), Pınar İlkkaracan (Psychotherapeutin),
Dr. Selma Acuner, Prof. Dr. Semra Somersan, Prof. Sibel Irzık, Sırma
Köksal (Verlegerin), Prof. Şebnem Korur Fincancı, Talin Sucuyan
(Journalistin), Yaprak Zihnioğlu (Autorin), Yüksel Selek (Philosophin),
Zeynep Atikkan (Journalistin), Zeynep Tanbay (Tanzkünstlerin).
Unterstützungserklärung
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