Das yezidische
Volk ist nicht allein
Interview mit Nuriye
Kesbir
Im Irak hat sich mit
den gegen Yeziden gerichteten Anschlägen Mitte August das größte Massaker
der letzten vier Jahre ereignet. Dabei haben ungefähr 500 yezidische Kurden
ihr Leben verloren. Als Mitglied des KCK-Exekutivrats hat Nuriye Kesbir,
die selbst Yezidin ist, sich zu den Hintergründen und Zielen des Anschlags
geäußert.
Die Unterdrückung
der yezidischen Kultur und Glaubensrichtung hat mit den jüngsten Anschlägen
die Form eines Vernichtungsschlages angenommen. Wie beurteilen Sie diese
Entwicklung als KCK-Mitglied und als Yezidin?
Als erstes möchte
ich sagen, dass ich die Urheber dieses Massakers in aller Härte verurteile.
Ich möchte allen Familien, die ihre Angehörigen dabei verloren haben,
mein Beileid aussprechen und sie wissen lassen, dass ich ihren Schmerz
teile. Ich spreche auch dem kurdischen Volk mein Beileid aus. Für die
Kurden war es ein sehr schmerzhafter Tag.
Seit vier Jahren, seit der US-Intervention gegen den Irak, sterben jeden
Tag Dutzende Menschen durch Terroranschläge. Dieses war der umfassendste
und blutigste Anschlag.
Ein Blick in die Geschichte Kurdistans zeigt, dass es immer Angriffe gegen
die kulturellen Werte und den Glauben gegeben hat. Bei den Yeziden handelt
es sich um eine Gemeinschaft, die aus der neolithischen Epoche der kurdischen
Gesellschaft hervorgegangen ist und damit die Quintessenz des Kurdentums
repräsentiert. In diesem Sinne geht es um einen Angriff gegen die Quintessenz
der Kurden. Die Yeziden waren immer Angriffsziel für die Mächte, die Kurdistan
beherrschen wollten. Von ihnen ist nur eine Handvoll Menschen übrig geblieben.
Einige Hundert leben in Sengal, weitere in anderen Gebieten Kurdistans
und im Ausland.
Warum werden ausgerechnet
die Yeziden Ziel von Anschlägen, was steckt dahinter?
Es handelt sich um
einen politischen Anschlag, mit dem die Region destabilisiert und die
Widersprüche zwischen den Glaubensrichtungen vergrößert werden sollen.
Die in der kurdischen Gesellschaft vorherrschende Denkstruktur sieht ein
Zusammenleben mit allen vor. Deshalb kann man davon ausgehen, dass hinter
den Anschlägen der Plan herrscht, konfessionelle und ethnische Widersprüche
nach Kurdistan zu bringen. Dafür wird das schwächste Glied, die Yeziden,
ausgesucht. Die Angriffe sind auf Vernichtung und Vertreibung ausgelegt.
Es werden mehrere Ziele verfolgt. Das vorrangige Ziel ist es, den Einfluss
der Yeziden beim bevorstehenden Referendum zur Kerkuk-Frage zu schmälern.
Das Referendum wird nicht nur in Kerkuk, sondern auch in Sengal und Maxmur
stattfinden. Dabei handelt es sich um Gebiete, deren Status noch nicht
geklärt ist.
Bei der Klärung des Status, der Parzellierung des Iraks, wollen die Nachbarländer
des Irak mitreden. Eine Beeinflussung des Referendums in Form dieser Anschläge
hat das Ziel, die Menschen zu vertreiben und ihnen Angst zu machen, damit
sie nicht ihre Rechte fordern.
Am wichtigsten ist vielleicht der Angriff auf die ideellen Werte der Yeziden.
Auch unter Saddam haben sie sich ihre Kultur bewahrt. Es ist diese widerständische
Seite, die gebrochen werden soll. In diesem Sinne handelt es sich um den
Beginn eines neuen Massakers gegen die Kurden.
Von vielen Seiten
ist das Massaker als „ethnische Säuberung“ bewertet worden. Kann es Ihrer
Meinung nach wirklich so geplant sein?
Natürlich handelt
es sich um einen sehr geplanten Angriff mit einem sehr konkreten Ziel.
Bereits im Vorfeld haben einige provokative Aktionen stattgefunden, Dinge,
die es nie gegeben hat in der yezidischen Tradition, Ethik, Kultur und
sogar im yezidischen sozialen Leben. In der yezidischen Kultur hat es
niemals eine Lynchkultur gegen Frauen gegeben. Die yezidische Geschichte
zeigt, dass sie es immer vermocht haben, friedlich mit anderen Glaubensrichtungen
und Völkern zusammen zu leben. Vor einiger Zeit wurde ein yezidisches
Mädchen in einem Dorf gesteinigt, weil sie einen Sunniten geheiratet hat.
Es wurde so dargestellt, als ob der Lynchmob Teil der yezidischen Kultur
wäre, als ob die Yeziden grausam und unmenschlich sind. Direkt danach
wurden 25 yezidische Arbeiter ermordet. Bei diesen Vorfällen handelt es
sich um Provokationen. Es sollte der Eindruck einer ethnischen Säuberung
entstehen, die dann mit dem jüngsten Anschlag tatsächlich stattgefunden
hat. Es passt den Kräften nicht, die gegen das Mosaik der Völker im Mittleren
Osten kämpfen, dass die Yeziden als Ethnie dort leben.
So gesehen handelt es sich um einen Angriff auf das Völkermosaik des Mittleren
Ostens, gegen die Farbenvielfalt und die Geschwisterlichkeit des Mittleren
Ostens. Ein bisschen unterscheidet sich der Mittlere Osten von den Ländern
Europas dadurch, dass so viele Kulturen, Glaubensrichtungen, Minderheiten
in gegenseitigem Respekt miteinander leben. Es ist diese Kultur, die vernichtet
werden soll. Die Yeziden gehen von Moslems als Täter aus, somit wird zwischen
den Religionen Feindschaft gesät. Es ist ein scheußlicher Plan.
Die Angriffe verliefen so, dass zunächst eine Explosion stattfand, und
als sich am Tatort Menschen ansammelten, kam es zur zweiten Explosion.
Dahinter steht ein derartiger Hass, dass keiner da lebend rauskommen soll.
Dieser Hass richtet sich nicht nur gegen ein paar Hundert unschuldige,
zivile Menschen, die sich nicht verteidigen können. Es ist ein Angriff,
der von Kräften ausgeht, die eine neue nationale Einheit des kurdischen
Volkes verhindern wollen.
Und es ist nicht nur eine El-Kaida-Aktion. Alle machen Aktionen und schieben
sie der El-Kaida zu. Mit Sicherheit haben auch andere Kräfte ihre Finger
mit im Spiel, das ist ganz offensichtlich. Bereits zuvor gab es einen
Anschlag gegen die Turkmenen in Tel-Afer. Man muss das eigentlich als
Rache sehen. Es gibt einige Nachbarländer des Irak, die die Rolle von
Koordinatoren im Kampf des kurdischen Volkes spielen wollen. Man kann
das als eine Machenschaft der Kräfte, vor allem der Türkei, bewerten,
die seit vielen Jahren die Kurden unter ihrer Herrschaft halten und immer
gegen einen Erfolg des kurdischen Befreiungskampfes waren.
Abdullah Öcalan
hatte schon vor diesem Anschlag davon gesprochen, dass die kurdischen
Yeziden geschützt werden müssen. Haben Sie als KCK in dieser Hinsicht
irgendwelche Pläne?
Abdullah Öcalan lebt
seit neun Jahren unter Bedingungen, die nur einen sehr eingeschränkten
Kontakt zur Außenwelt zulassen. Trotzdem hat er vor Monaten bereits davor
gewarnt, dass es zu dieser Art von Angriffen kommen kann.
Zu diesem Thema sind tiefgreifende Maßnahmen erforderlich. Es reicht nicht
aus, die Anschläge zu verurteilen und unser Bedauern zum Ausdruck zu bringen.
Es geht darum, Sicherheit zu gewährleisten. Abdullah Öcalan hat die Aufmerksamkeit
darauf gelenkt und einige Vorschläge gemacht, dass die betroffenen Gebiete
von den Volksverteidigungskräften geschützt werden sollten. Als Bewegung
haben wir diese Vorschläge ausgewertet und sind zu ersten Ergebnissen
gekommen. Als ersten Schritt gibt es den Plan, in dieser Richtung Untersuchungen
anzustellen.
Ich möchte noch einmal betonen, dass wir als Bewegung den Yeziden zur
Seite stehen und den jüngsten Anschlag auch als Angriff auf uns selbst
betrachten. Bei den Yeziden handelt es sich um einen Teil des kurdischen
Volkes, der am stärksten gelitten hat. Unsere Bewegung kämpft für eine
Gesellschaft ohne Herrschaft. Wir kämpfen auch dafür, die Kultur und den
Glauben aller Bevölkerungsteile zu stärken und für eine gesetzliche Sicherheit
dessen. Bereits vor dem Anschlag gab es einige Projekte. Vor 15 Jahren
wurde innerhalb der Struktur unserer Befreiungsbewegung zunächst Union
der Yeziden, später die Föderation der Yeziden gegründet. Diese haben
wir immer unterstützt. Sie wurde zunächst in Europa gegründet und später
auf irakisches Gebiet gebracht. Es wurde daran gearbeitet, eine demokratische
kurdisch-yezidische Bewegung zu organisieren. Natürlich waren unsere Bemühungen
sowohl in Hinsicht auf ihre Sicherheit als auch in Hinsicht auf langfristige
Projekte unzureichend. Nach diesem Anschlag müssen wir umfassender dazu
arbeiten. Im Moment bereiten wir das vor. Aber innerhalb der Yeziden herrscht
Durcheinander. Solange sie nicht für ihre gemeinsamen Interessen zusammen
kommen, hat es auch unsere Bewegung schwer, angesichts der Entwicklungen
Maßnahmen zu treffen. Unser Ziel ist es also, unter den Yeziden eine Einheit
zu schaffen. Wenn sie untereinander zu einem Konsens kommen, kann unsere
Bewegung jede Art von Unterstützung gewährleisten.
Nach dem Vorfall haben wir mit verschiedenen Kreisen gesprochen und versucht,
eine Abordnung zu entsenden. Wir haben Beziehungen zu Kreisen in Europa
und im Irak. Auf diese Weise versuchen wir, die Lebensbedingungen der
Betroffenen zu verbessern und Beschäftigungsmöglichkeiten zu errichten.
Wie Sie gesagt
haben, richtet sich der Angriff nicht nur gegen die Yeziden, sondern gleichzeitig
gegen alle Kurden. Welche Botschaft möchten Sie an kurdische Organisationen
richten?
Die kurdischen Organisationen
haben in Form von Erklärungen sofort Stellung bezogen. Angesichts dieses
jüngsten Vorfalls lautet unser Aufruf an die kurdischen Organisationen
und insbesondere an die Kräfte in der Region: Was die Kurden tun müssen,
ist sofort zusammenzukommen und eine nationale Einheit auszurufen. Die
Ideologie und die Pläne der verschiedenen Parteien mögen unterschiedlich
sein. Beispielsweise sind die Programme, Ansichten und Ideologien der
KDP und der PUK in Südkurdistan sehr anders als die der KCK. Aber alle
tragen die gemeinsame Verantwortung für die Schaffung einer Nation und
die Sicherung grundlegender Rechte. Auf unserem dritten Kongress haben
wir die Durchführung einer nationalen Konferenz beschlossen. Wir wiederholen
unsere diesbezüglichen Aufrufe an die anderen Organisationen. Es muss
sofort eine gemeinsame Politik festgelegt werden.
Unser zweiter Aufruf richtet sich an die KDP, die die Yeziden, die auf
den von ihr kontrollierten Gebieten leben, praktisch schützen muss. Die
Sicherheit, die in Hewler herrscht, muss auch in Sengal gewährleistet
werden. Für die Sicherheit der hier lebenden Menschen ist die Regierung
der Region Kurdistan verantwortlich. Die Regierung muss den Fall aufklären.
Das sind langfristig angelegte Dinge. Unsere Bewegung ist eine Bewegung,
die auf der eigenen Kraft aufbaut. Deshalb gilt unser Hauptaufruf dem
gesamten kurdischen Volk. Das kurdische Volk sollte nicht schweigen angesichts
des Angriffs, Proteste und verschiedene Aktivitäten durchführen. Das kurdische
Volk aus allen vier Landesteilen darf die yezidischen Geschwister nicht
alleine lassen. Es muss verhindert werden, dass es erneut zu Konflikten
zwischen den Religionen kommt. Auch sollte es zu materieller und ideeller
Unterstützung kommen.
Dabei fällt die größte Aufgabe und Verantwortung dem yezidischen Volk
zu. An die Yeziden richten wir den Aufruf, eine Einheit zu bilden, Ansprechpartner
festzulegen und langfristige Projekte zu entwickeln.
Als Bewegung sagen wir: Das yezidische Volk ist nicht allein. Als Befreiungsbewegung
stehen wir an der Seite unseres Volkes. Das werden wir in der kommenden
Zeit praktisch zeigen. Wir werden versuchen, Schutzmaßnahmen zu entwickeln.
Quelle: ANF, 18.08.2007,
ISKU
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