Wo
steht die Türkei in Sachen „Islamischer Staat“?
Cengiz Candar – Journalist
und Autor, Radikal 09.08.2014
Der IS (ehemals ISIS),
der gerade dabei ist, dass unter ihrer Kontrolle stehende Gebiet zu vergrößern,
herrscht aktuell über eine Region, die größer als England ist. Das Gespann
Erdogan-Davutoglu hat regelrecht „Geburtshilfe“ für den „Islamischen Staat“
an der gesamten Südgrenze zu unserem Land geleistet. Dies sollte verhindern,
dass „kein zweites autonomes Kurdistan entsteht und um etwaige Forderungen
der Kurden in der Türkei abzuwenden“.
Die New York Times beschrieb in ihrer Nachricht zu den „begrenzten Luftangriffe“
Obamas gegen den IS (Islamischer Staat) mit folgendem treffenden Satz:
„Präsident Obama hat sich mit dem Aussenden der Kriegsflugzeuge in den
irakischen Luftraum Donnerstagnacht an einem Punkt wiedergefunden, an
dem er niemals sein wollte. Mit dem Ziel, den Krieg im Irak zu beenden,
ist Obama aufeinanderfolgend der vierte Präsident, der mit amerikanischen
Ambitionen den Befehl zum militärischen Angriff auf diesen Friedhof gibt.“
Das Gebiet an der irakisch/syrischen Grenze, wo der IS den Berg Berg Sincar
(Berg Sengal) eingenommen hat, steht einem Völkermord an der ezidischen
Bevölkerung und den schiitischen TurkmenInnen, die sich vor dem Massaker
von Tell Afar dorthin geflüchtet hatten, gegenüber.
Die Einwohnerzahl in der eingenommenen Region beläuft sich auf mindestens
sechs Millionen Menschen. Diese Zahl ist weit höher als die Einwohnerzahl
Dänemarks, Finnlands oder Irlands. Verglichen mit Ländern in der Region,
ist sie höher als im Libanon, den Golfstaaten Kuweit, Bahrein oder Amman.
Sie kommt der Einwohnerzahl Jordaniens nah und wird nur von der Bevölkerung
von Saudi-Arabien oder den Vereinten Arabischen Emiraten übertroffen.
Der IS führt den Krieg an mehreren Fronten gleichzeitig. In Palmyra, Syrien
kämpft er gegen das Regime, in Deir ez-Zor kämpft er gegen den syrischen
Arm der Al-Kaida, Al-Nusra, in Kobane gegen die Kurden, im Irak sowohl
gegen das Regime in Bagdad als auch gegen Schiiten, Christen, Eziden und
Kurden.
Die bewaffneten Peschmergas der Autonomen Region Kurdistan hatten, genauso
wie die irakische, mehrheitlich schiitische Armee Malikis Mossul kampflos
geräumt hatten, Sincar ( Sengal) geräumt.
Nur die HPG, die bewaffneten Kräfte der PKK und die kurdischen Kräfte
Rojavas, die YPG, versuchen Sincar von der IS zurückzuerobern. Der Berg
Sincar ist ein kahler Berg. Auf den Bergspitzen sind mindestens 40000
ezidische Kurden und ein Teil schiitische Turkmenen in der Augusthitze
und bei einem Wüstenklima davon bedroht, an Hunger und einem Massaker
zu sterben.
In der Zwischenzeit hat der IS ebenfalls das Maxmurlager angegriffen,
welches im Dreieck Mossul-Erbil-Kirkuk liegt und von kurdischen Flüchtlingen
aus der Türkei bewohnt wird. Die Kleinstadt Maxmur, die eine Stunde von
Erbil entfernt liegt, ist vom IS eingenommen worden. Zehntausende von
Kurden aus der Türkei, die vor Jahren vor dem türkischen Militär geflüchtet
sind, müssen erneut ihre Hab und Gut zurücklassen und fliehen.
Zum Anfang des Monats hatte der irische Journalist Patrick Cockburn ein
Experte für die Region, in seinem Artikel „IS sichert seinen Platz“ im
London Review of Books eine Analyse „der Geburt eines neuen Staates und
der radikalen, politisch-geografischen Veränderungen des Mittleren Ostens
seit dem Sykes-Picot Abkommen nach dem Ersten Weltkrieg“ vorgelegt.
Cockburn schreibt in seinem wertvolle Information enthaltenden Artikel,
dass es von den Politikern und Diplomaten falsch sei, die IS als „eine
plötzlich aus der Wüste kommenden und nach spektakulären Siegen in ihre
Stellungen zurückkehrende und den Status-quo nicht wirklich verändernde
Beduinengruppe“ zu betrachten, er hebt hervor, dass der IS beginne sich
in der Region zu verwurzeln und damit „die eingenommenen Regionen, über
die er Herrschaft ausübt, vom Iran bis zum Mittelmeer ausdehnen könne“.
Das Ausbreitungspotential des IS können wir am Aufstand der Salafi-Wahabiten
zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegen die Osmanen herleiten. Der „Wahabiten-Aufstand“
begann auf der heutigen arabischen Halbinsel, in der zentral gelegenen
Region Nejd (dort liegen die Wurzel der saudischen Königsfamilie) und
die Wahabiten rückten bis zur Region Nadschaf im Irak vor, wo sie das
Grab des Propheten Ali niederrissen.
Der zweite Aufstand der Wahabiten, bei dem sie sich mit der Sauddynastie
verbündeten, führte nach dem Ersten Weltkrieg zur Gründung Saudi-Arabiens.
Die Bilder der Entwicklung des heutigen IS erinnern an die historischen
Wahabiten und die Geburt Saudi-Arabiens. Eine der Antworten auf die Frage,
„wer hinter dem IS steht?“, ist, Saudi-Arabien. Vor allem die königliche
Familie Saudi-Arabiens und ein Teil des Staats.
Nur Saudi-Arabien? Was ist
mit der Türkei?
Außenminister Ahmet Davutoglu sagte vor einigen Tagen verärgert auf dem
Sender NTV: „Wer sagt, die IS würde von der Türkei unterstützt, ist ein
Verräter. Der größte Verrat ist es, die Türkei gemeinsam mit dieser Organisation
zu nennen. Dies ist unfassbar. Ich bin aufgerührt.“
Nur weil er es so nennt, werden diejenigen, die sagen „IS werde von der
Türkei unterstützt“ jedoch nicht zu „Verrätern“. Weil er dies behauptet,
verlieren die Verbindungen zwischen Türkei und IS nicht an Realität.
Denn dass die ISIS (heutige IS) „Unterstützung von der Türkei erhält“,
haben vor allem diejenigen, die gegen diese Gruppen schon lange Kämpfen,
wie der Vorsitzende der PYD Salih Müslim in Syrien, aber auch dutzende
von Augenzeugen in Ceylanpinar und zuletzt auch Persönlichkeiten wie Ahmet
Türk in der Türkei geäußert.
Ahmet Türk hob hervor, dass „die Türkei eine wichtige Rolle darin hatte,
die Organisation zu vergrößern“ und dass „Militante von ISIS ungestört
und bewaffnet in Ceylanpinar, Kilis und Akçakale herumlaufen“.
Patrick Cockburn geht weiter und schreibt in seinem oben erwähnten wichtigen
Artikel „ISIS Consolidates“, dass „Saudi-Arabien, die Golfmonarchien und
die Türkei die Ziehvähter der ISIS und anderer sunnitischer dschihadistischer
Bewegungen im Irak und in Syrien seien. Dies bedeute nicht, dass die Dschihadisten
keine starken lokalen Wurzeln haben, aber ihr Aufstieg an sich sei von
äußeren sunnitischen Kräften unterstützt worden. Cockburn schreibt, dass
die saudische und katarische Hilfe mehr in privaten Spenden bestanden
hätte, und führt weiter aus:
Die Rolle der Türkei war anders, aber nicht weniger wichtig als die Hilfe
Saudi-Arabiens an ISIS und anderer dschihadistischer Gruppen. Ihre wichtigste
Handlung war das Offenhalten der 510 Meilen langen Grenze zu Syrien. Die
irakische Sicherheit vermutet eine große Unterstützung der 2011 neu aufgebauten
ISIS durch den militärischen Geheimdienst der Türkei. Auch wenn ISIS an
der türkischen Grenze nun nicht mehr so wohl gelitten sein mag, so ist
ISIS durch die vom irakischen Militär eingenommenen Waffen und die beschlagnahmten
syrischen Öl- und Gasvorkommen nicht mehr so stark auf äußere Hilfe angewiesen.
Dessen ungeachtet spricht Davutoglu bei dem Thema ISIS nicht wie ein Außenminister,
sondern wie ein analysierender Akademiker. Diese Worte gehören ihm:
„Das Gebilde ISIS kann den Anschein eines radikalen, terroristischen Gebildes
haben. Es gibt Türken, Araber und Kurden, die sich ihnen angeschlossen
haben. Dieses Gebilde wurde als Reaktion der Empörung auf den vorhergehenden
Missmut geboren. Wären im Irak die sunnitischen Araber nicht ausgegrenzt
worden, fände heute in Provinzen wie Mossul und Anbar keine Empörung statt.
Wäre in Syrien die Führung nicht in der Hand von Vertretern von 12% der
Bevölkerung, wären diese Dinge nicht geschehen. Es gibt eine Gruppe von
Menschen, die sich aus Empörung zusammengetan haben.“
Es gibt Leute, die diese Worte mit der „Legitimierung der ISIS“ kommentieren.
Sie haben damit nicht Unrecht. Weil in diesen Worten keine „politische
Stellungnahme“ enthalten ist, kein bisschen. Das Duo Tayyip Erdogan –
Ahmet Davutoglu hat regelrechte „Geburtshilfe“ bei der Geburt des „Islamischen
Staat“ an der gesamten Südgrenze zu unseren Land geleistet, damit nicht
vor den Augen der Türkei „ein zweites autonomes Kurdistan entsteht und
um etwaige Forderungen der Kurden in der Türkei abzuwenden“.
Wenn man an die Zukunft der Türkei und der Region denkt und dabei überlegt,
dass dieses Duo Erdogan, Davutoglu wahrscheinlich Ministerpräsident und
Präsident werden …
Quelle: http://www.radikal.com.tr/yazarlar/cengiz_candar/turkiye_islam_devletinin_neresinde-1205753
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