bericht | prols 11/2003
wildcats return with a roar
[prol-position]

Zum Poststreik und anderen wilden Aktionen im Vereinigten Königreich

Wir hätten den ersten Teil Überschrift auch bei diversen englischen anarchistischen Publikationen der letzten Wochen leihen können, haben ihn aber letztendlich von der Financial Times vom 6. November 2003 geklaut. Die wilden Streiks sind zurück, nach den Arbeitsniederlegungen am Flughafen London Heathrow (siehe Artikel dazu in der wildcat Nr.67) gab es in den letzten zwei Wochen wilde Aktionen bei den PostarbeiterInnen und Feuerwehrleuten. Wie kommt das?

Die Financial Times schwankt zwischen Panik und Mechanik. Panik: "Die Wildkatzen züchten sich selbst, copy-cat von den Sieben-Uhr-Nachrichten zum Steppenbrand". Mechanik: "Schuld ist das alte Arbeitsrecht der Tories. Wenn die Gewerkschaft Streiks nicht schon 4 Wochen vorher ankündigen müsste, gäbe es auch keinen Grund für inoffizielle 'spontane' Aktionen. Nachregulierung des arbeitsrechtlichen Ablassventils ist erforderlich."

Hier nun ein paar Eindrücke vom Geschehen, zwischen relevanten Zeitungsartikeln, einem morgendlichen Besuch der Streikkette und Gesprächen mit einem Freund, der selbst Briefe austrägt.

Hintergrund

Die Umstrukturierung bei der Königlichen Post zieht sich durch die letzten Jahre, mit einem ständigen Hin- und Her zwischen Verhandlungen und Abmachungen zwischen Gewerkschafts- und Unternehmensführung auf nationaler Ebene und Konflikten und Umsetzungsschwierigkeiten im konkreten Postalltag. Im Zentrum des Konflikts stehen u.a. folgende Rationalisierungsmassnahmen:

* Statt zwei mal soll die Post nur ein mal täglich ausgetragen werden, was die notwendige Arbeitskraft um gut 30.000 reduzieren würde
* Schließung von 3.000 der 9.000 Postämter
* ArbeiterInnen sollen flexibler eingesetzt werden können, z.B. Fahrer sollen Briefe verteilen, wenn es nichts zu fahren gibt
* ArbeiterInnen sollen länger bleiben bzw. früher gehen, je nach Arbeitsaufkommen
* Die Gewerkschaften sollen sich auf Kooperation verpflichten, die Repräsentanten an der Basis soll weniger "arbeitsfreie Zeit" für ihre Gewerkschaftstätigkeiten bekommen

Gleichzeitig versucht das Management die Macht auf lokaler Ebene durch einen technologischen Sprung zu untergraben, womit es bislang aber mau aussieht. Die Inbetriebnahme des modernsten europäischen Postverteilzentrum in der Nähe von London Heathrow sollte eigentlich schon im Januar 2002 stattgefunden haben, verzögert sich aber weiter. Im Mai 2003 wird bekannt, dass die Investitionskosten bereits von geplanten 180 Millionen Pfund auf 380 Millionen Pfund gestiegen sind. Das hochautomatisierte Verteilzentrum soll neun andere Zentren ersetzen, die bislang vor allem als Zentren der ArbeiterInnenmacht Probleme machten.
Im August 2003 rief die CWU (Gewerkschaft der KommunikationsarbeiterInnen) zu einem nationalen Streik für höhere Löhne auf, es folgte ein Monat der internen Repression seitens des Managements und breiter Medienkampagnen gegen das "Post-Chaos", was letztendlich dazu beitrug, dass im September 48,038 Stimmen gegen und nur 46,391 für den Streik gezählt wurden.
Allerdings ist diese Abstimmung gegen einen nationalen Streik, der von der Gewerkschaftsführung eh nur als "punktuell" geplant war, nicht unbedingt ein Zeichen der allgemeinen Desolation der PostarbeiterInnen. Wie sich in den folgenden Wochen rausstellen sollte, vertrauen diese eher auf ihre unmittelbare Macht und Organisiertheit, als auf großangelegte Symbolik.
Kurz nach der "verlorenen" Abstimmung kam es zu mehrtägigen wilden Streiks u.a. in Oxford (siehe Artikel in der wildcat 67) und offiziellen Streiks für einen "Hauptstadtzuschlag" in London. In dieser Situation sah sich das Management in der besseren Position, es rechnete nach der Abstimmung gegen einen nationalen Streik mit einer Isolation der ArbeiterInnen und versuchte auf lokaler Ebene die Bedingungen zu verschärfen. Hier spielen die Postämter in London eine doppelt wichtige Rolle: erstens wird ein Grossteil der nationalen Post in und um London (um-)verteilt, zweitens sind hier die widerspenstigsten ArbeiterInnenkonzentrationen. Nach dem offiziellen Streik in London drückte das Management den jeweiligen Zentren sogenannte "back-to-work-agreements" auf's Auge, neue Vertrage, die z.B. die Überstundenplanung für die liegengebliebene Arbeit regeln, aber auch die Aufgaben einzelner ArbeiterInnen ausweiten. Das war ne klare Provo...

Streik

Der wilde Streik beginnt Ende Oktober 2003 zeitgleich und unabhängig voneinander in einem Postzentrum in Greenford/London, als Reaktion auf einen Konflikt im Verteilzentrum Southhall, und in Dartford/London, nachdem ein Fahrer sich weigert Briefe, die auf Grund des offiziellen Streiks liegengeblieben waren, zu einem mit LeiharbeiterInnen betriebenen Verteilzentrum zu fahren. Er wird daraufhin entlassen, seine 400 KollegInnen reagieren mit spontaner Arbeitsniederlegung, das Management versucht die Arbeit anderen Postzentren aufzudrücken und sorgt so für die Ausweitung des Streiks. Das Management lässt es mit einer kalkulierten Provokation drauf ankommen, rechnet aber nicht mit einer derartigen Reaktion. Innerhalb von elf Tagen sind 20.000-25.000 ArbeiterInnen im Ausstand, die meisten von ihnen in London und Südengland, mehr als 16 Millionen Postsendungen pro Streiktag liegen auf Halde, nach wenigen Streiktagen werden 10.000 überquellende Briefkästen in London versiegelt.
Einzelne Unternehmen beschweren sich öffentlich, u.a. ein Konzern für Filmentwicklung, in dessen Fabrik ganze Schichten mangels Arbeitsmaterial gestrichen werden, der Supermarktriese Tesco droht mit Auftragsvergabe an private Postunternehmen. VertreterInnen von Regierung und Arbeitgeberverbänden treffen sich mit Post-Management und Gewerkschaftsspitze zu "emergency-meetings". Die Unternehmensführung der Post versucht den Streik öffentlich auf das Problem des "Hauptstadtzuschlags" zu reduzieren, um ihn vom Rest des Landes zu isolieren. Am 29. Oktober schickt die Gewerkschaftsspitze der CWU einen öffentlichen Brief herum "Wie das Problem inoffizieller Streiks zu lösen sei", indem sie sich offiziell von den Streiks distanziert, aber das Management für sie verantwortlich macht. Sie ruft zur sofortigen repressionsfreien Wiederaufnahme der Arbeit auf. In einigen Postzentren wurde diese Erklärung vom Management auf Versammlungen vorgelesen, um die Leute zurück an die Arbeit zu bringen. Das Management reagiert ansonsten nicht auf die Forderungen der Gewerkschaft, schickt stattdessen Angestellte aus anderen Landesteilen als Streikbrecher in die Konfliktzone. Sie versuchen vor allem die "lukrativen Postsendungen" zu bearbeiten, geben aber auch dies letztendlich auf. Am 1. November veröffentlicht der Guardian interne Anweisungen von der Postkonzernleitung an das Management, wie mit Streikenden und StreikführerInnen zu verfahren sei. Dabei geht es im Grunde um alle Möglichen Spionagetechniken, von der Nutzung von Videokameras bis zu Mitschnitten von Streikversammlungen, um "rechtliche Schritte" gegen Streikende einleiten zu können. ArbeiterInnen erzählen, dass Manager in Postuniformen verkleidet mit Post-LKWs durch London fahren, um den Eindruck zu machen, der Streik sei gelaufen.
Flankiert werden diese Aktionen mit Mediengleichschaltung, die von der "allgemeinen Rückkehr zur Arbeit" sprechen. Erst nachdem das Management zusichert, dass alle Repressionen, Entlassungen, lokalen Deals etc. zurückgenommen werden, wird der Streik am 3. November abgebrochen. Einen Tag später treten Feuerwehrleute in verschiedensten Regionen des Landes in wilden Streik, nachdem ihnen eine beim letzten Streik (siehe wildcat-Zirkular Nr.65) erkämpfte Lohnerhöhung nicht ausgezahlt wurde...

Streikkette

"Wir waren heute morgen am 31. Oktober bei der Streikkette am großen Verteilzentrum Mount Pleasant in Central London. Es war keine Kette im eigentlichen Sinne, ungefähr 20 Männer im mittleren Alter standen lose vorm Haupteingang herum und unterhielten sich, während einige Angestellte mehr oder weniger hastig das Gebäude betraten. Keine Flugis, Spendendosen, Plakate, Transparente. Ein Security-Typ stand am Eingang, hatte aber wenig Probleme, da es keinen Versuch gab, Leute am Betreten zu hindern. Wir redeten mit einem Streikenden, wahrscheinlich ein Gewerkschaftsvertreter. Er erzählte uns in etwa das, was wir bereits aus den Medien wussten, bzw. was man in so einer Situation fremden Leuten erzählen würde: 'Wir haben versucht, den Streik zu verhindern, aber das Management reagiert mit Repression. Hier in Mount Pleasant sind 99% aller ArbeiterInnen im Ausstand. Der Streik ist lokal organisiert'.
Andere erzählten uns, dass das Management Angestellte aus Birmingham ankarrt, sie im Holiday Inn um die Ecke unterbringt und hier arbeiten lässt. Außerdem schickt die Unternehmensleitung den Leuten ihre interne Polizei auf den Hals, die aus 'postsicherheitsrechtlichen Gründen' auch vor der Privatsspähre nicht halt machen müssen. Manager stehen an allen Toren und lassen Leute rein, damit sie nicht durch den Haupteingang müssen. Die meisten dieser Leute sind 'casuals', also LeiharbeiterInnen oder Leute mit befristeten Verträgen. Die ganze Atmospähre rund um die Streikkette war eher geprägt durch Paranoia, als durch Geschlossenheit. Außer uns war nur noch ein Filmteam da, ein einzelnes Plakat vom SWP (trotzkistische Partei) dominierten 'Postworker' (www.postworker.org.uk) fordert Solidarität. Kein Zeichen der Solidarität von der Feuerwehrwache auf der anderen Straßenseite.
Vielleicht war es noch zu früh am Morgen. Streikketten aus dem Fernsehen machen einen anderen Eindruck, da gibt es gespendetes Bier und über Feuertonnen wird gegrillt..."

Aus dem Inneren

Wenig zufrieden mit der Streiküberlieferung der Medien und etwas ratlos nach der Erfahrung als piqueter@s treffen wir uns zwei Tage später mit einem Freund, der seit ein paar Jahren bei der Post arbeitet und momentan selbst auf Streik ist. Es gibt Lauch-Kartoffelsuppe passend zur Witterung, seine zweijährige Tochter macht Gehversuche.
"Anders als beim inoffiziellen Streik 2001 schien die Unternehmensführung diesmal besser vorbereitet. Dieser Streik hat zu einem gewissen Grad 'lock-out'-Charakter, sie legen es darauf an, in der Hoffnung, die nationalen Vereinbarungen lokal durchsetzen zu können. Andererseits ist diesmal die Konfrontation zwischen Basis und Gewerkschaftsführung geringer, da zwischenzeitlich eine 'radikalere Führung' gewählt wurde. Der Informationsaustausch zwischen den streikenden Zentren läuft über die Basis, über die shop-stewards. Die offiziellen Publikationen der Gewerkschaft sind unbrauchbar. Der Newsletter von der SWP-nahen Basisgruppe 'postworker' bringt es eher.
Bei uns im Zentrum haben wir durch einen Gewerkschaftstypen vom Anfang des wilden Streiks erfahren. Er rief zu einer Versammlung auf, um über die Geschichte zu informieren. Diese Versammlungen finden manchmal in der Kantine, manchmal auf dem Parkplatz statt. Alle Leute gingen dann auch zur Versammlung, allerdings tauchte da erst mal unser Hauptmanager auf und wollte die sich vom Streik distanzierende Gewerkschaftserklärung vorlesen und mit uns über die Geschichte reden, was wir verweigerten. Den Gewerkschaftstypen hatte das Management im Büro festgehalten, was offizielle Linie in solchen Situationen ist. Sie ließen ihn letztendlich sprechen, versuchten aber gleichzeitig rumzuspionieren, um ihm beim 'Anstacheln zum Streik' zu erwischen. Er versuchte dies zu Umgehen, in dem er uns lediglich über den Streik informierte und zum Schluss nur meinte, es läge an uns, wie wir nun reagieren wollen. Als daraufhin ein Typ, der selbst nicht in der Gewerkschaft ist, zum Streik aufrief, meinte der Gewerkschaftstyp: 'Ja, hier haben wir einen Vorschlag, lass uns abstimmen'. Es war dann nur noch ein formales Ding, dass alle die Hand heben und für Streik stimmten. Eine Minderheit hätte vielleicht dafür plädiert, nicht jetzt schon zu streiken, sondern nur die durch den Streik anfallende Extra-Arbeit zu verweigern, aber das stand nicht auf der Tagesordnung. Für die meisten Leute heißt Streik 'zu Hause bleiben'. Es ist eigentlich keine Streikkette erforderlich, weil klar ist, dass keiner arbeiten wird. Von 170 Leuten sind meist 20-30 Leute an der Streikkette. Es gibt auch Leute von Leiharbeitsfirmen bei uns, aber die haben nicht versucht, die Streiklinie zu crossen. Die einzigen, die die Streikkette ignorieren sind die Manager und die Reinigungskräfte, zu denen gibt's keinen guten Draht. Die Atmosphäre bewegt sich momentan zwischen Grillabend, nem Gefühl von 'Wir zeigen's ihnen' und Angst, dass der Streik zu lange andauern könnte.".

Nach Ende des Streiks am 4. November

"Nach den Verhandlungen riefen CWU und Unternehmensspitze zur Rückkehr zur Arbeit auf, es gäbe eine Vereinbarung. Da wir am nächsten Morgen noch nichts über den Inhalt der Vereinbarung wussten, streikten wir weiter. Einen Tag später war klar, es gibt keine Repressionen der Streikenden und keine lokalen 'back-to-work-contracts' über die nicht abgestimmt wurde. Das allgemeine Gefühl ist: wir haben gewonnen. Der Grund des Streiks wurde im Versuch gesehen, die Position der Gewerkschaft zu untergraben, Änderungen ohne Abstimmungen durchzudrücken. Jetzt ist klar, dass sie 'mit uns reden müssen'.
Wenn das Management geschafft hätte, den Streik zu brechen, wären die Dinge jetzt schlechter. Es war ein defensiver, aber erfolgreicher Streik. Wir haben die gewerkschaftsoffizielle 'Anti-Streik'-Politik einmal mehr durchbrochen, und wir waren erfolgreich damit."

Ob nun allgemein von einer Rückkehr der "wildcats" gesprochen werden kann und ob dies nun an einem gesteigerten Selbstbewusstsein seitens der ArbeiterInnen oder an der Anpassungsschwierigkeit des gegebenen gesetzlichen Rahmens liegt, ist schwer zu sagen. Mal sehen, was der Winter bringt, es gibt u.a. angekündigte Aktionen bei der Londoner U-Bahn, der LehrerInnen und im Atomkraftwerk, außerdem die (wieder) anerkannte Wirkung der Überraschung...

London, Mitte November 2003


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