Jens und Fritz vor dem AKW-Brokdorf, Anfang der 80er
Symposium "Wirkung niedriger Strahlendosen", Muenster, 27.2.1988
Die folgende Rede wurde am 20. August 1994 im Konsul-Hackfeld-Haus in Bremen von Fritz Storim vorgetragen. Der Anlaß war ein Treffen von FreundInnen, KollegInnen und GenossInnen von Jens, zu seinem Gedenken und um gemeinsam zu trauern. Fritz kannte Jens über 20 Jahre, hat mit ihm gemeinsam an der wissenschaftlichen Kritik gegen die Atomtechnologie gearbeitet, und sie sind sich häufig bei den Auseinandersetzungen gegen Atomkraftwerke begegnet. In den letzten Jahren haben Jens und Fritz an der "Meßstelle für Arbeits- und Umweltschutz" (MAUS) und in dem Projekt "Herrschende Wissenschaft ist Wissenschaft der Herrschenden" an der Universität Bremen zusammen gearbeitet.
Aus zeitlichen Gründen wurden während des Vortrags einige Passagen gekürzt oder formal verändert.
Jens Scheer ist tot
wir haben uns getroffen, um gemeinsam zu trauern
Als Jens am Montag, den 4. Oktober 93 unmittelbar nach seinem Herzinfarkt noch kurz in der Uni erschien, sich dann von dort ins Krankenhaus fahren ließ, und plötzlich nicht mehr, wie sonst üblich, so selbstverständlich da war, hat uns das doch sehr unerwartet getroffen und erschrocken gemacht - aber auch sehr nachdenklich; nachdenklich darüber, ob wir mit unseren Beziehungen untereinander radikal und genau genug umgegangen sind, uns Auseinandersetzungen zu schnell entzogen und uns zudem zu leicht in unseren Widersprüchen arrangiert haben.
Jens, der meistens schon da war, wenn wir zur Uni kamen, und der oft noch blieb, wenn andere Feierabend machten; der häufig auf einer Couch in seinem Arbeitszimmer übernachtete, der immmer einen vollen Terminkalender hatte, auch mit Terminen, die sich zeitlich überlappten, der keinen festen Lebensrhythmus kannte, und der nur ganz am Rande so etwas wie persönliche Bedürfnisse zu haben schien. Aber darüber haben wir eigentlich nie viel gesprochen - da winkte er ab, da ließ er uns so leicht nicht ran - und darüber wissen wir auch nicht so viel oder nur sehr oberflächlich.
Aber er war immer und für alle da, hatte den Überblick, kümmerte sich um alles was anlag, mischte sich ein, bezog Position, war unbekümmert, liebenswürdig und stets hilfsbereit.
Der Infarkt brachte ihn erst einmal nicht besonders aus dem Gleichgewicht.
Er schrieb später darüber [ 1 ]: »Zu berichten ist noch, daß mein Vater im Sommer 1961 einen sehr schweren Herzinfarkt erlitt, mit 56 Jahren, der sehr viel schlimmer war als mein eigener im Jahr 1993, also mit 58 Jahren.
Sehr langsam genas er jedoch, und nahm in den letzten Jahren vor der Pensionierung sogar seine Berufstätigkeit auf, nicht aus Arbeitswut, sondern um der Familie ein höheres Einkommen zu sichern.
Ihm waren danach noch 28 Jahre vergönnt, bis er im November 1989 starb, nachdem er den Fall der Berliner Mauer noch erleben konnte (die gerade gebaut wurde, als er wegen des Infarktes im Krankenhaus lag).
Wer weiß, wieviele Jahre mir noch beschieden sind?«
Während des Krankenhausaufenthaltes machte Jens sich medizinisch kundig -der Infarkt schien mit einem schon vorher bekannten Herzdefekt zusammenzuhängen-, regelte verschiedene Angelegenheiten an der Uni, so nahm er z.B. eine Doktor-Prüfung ab, und fuhr dann für einige Wochen zur Bypass-Operation und zur Erholung nach Rotenburg a.d. Fulda. Entschied sich dort, wegen der besseren medizinischen Versorgung -wie er meinte- die Operation doch in Bremen durchführen zu lassen.
Als er Ende November aus Rotenburg zurückam, war er verhältnismäßig gut erholt und voller Tatendrang. Er hat dann bis zur Operation voll an der Universität und in seinen politischen Bezügen gearbeitet.
Es war schon ziemlich schwierig, ihn dazu zu bewegen, etwas langsamer zu treten.
Zur Operation, die dann Mitte Januar stattfand, hatte er sich entschieden, um dadurch die Wahrscheinlichkeit eines neuen Infarktes herabzusetzen.
Jens hat sich nach dieser Operation nie mehr richtig erholt. Andauernder Husten und Wasser in der Lunge und an verschiedenen Stellen in seinem Körper haben ihn sehr geplagt; es war ein stetiger Wechsel von gesundheitlichem Auf und Ab. Nach außen gab sich Jens nie resigniert, er schien stets optimistisch und voller Hoffnung zu sein. Was hat ihn beschäftigt, wieweit hat er seine Krankheit an sich herankommmen lassen?
Nach der Operation:
Anfang März zur Rehabilitation nach Timmendorf; wegen ständigem Husten und Wasser im Körper brachte die Kur nicht viel.
Mitte März nahm Jens seine Arbeit wieder auf.
Anfang April wegen Wasser und Herz-Rhythmusstörungen ins Krankenhaus.
Anfang Mai brach Jens in seiner Wohnung zusammen und wurde mit dem Notarztwagen ins Krankenhaus gebracht.
Arbeitete danach kurze Zeit und fuhr Anfang Juni nach Bad Bevensen für 5 Wochen zur Kur.
Hier erholt sich Jens auffällig gut, macht lange Spaziergänge, verfaßt eine Reihe politischer, physikalischer und persönlicher Texte, trifft sich mit FreundInnen und plant, sein Leben grundsätzlich neu zu organisieren.
Bisher wollte er die Krankheit so schnell wie möglich überwinden -die Krankheit war Störfaktor, der Defekt sollte repariert werden-, neue Kräfte sammeln, um dann so weiter zu machen wie vorher. Jetzt, aber da will ich aus einem Brief vorlesen, den er aus Bad Bevensen geschrieben hat [ 2 ]:
»Ich werde den Uni-Stil in der Tat massiv ändern. Es hat sich gezeigt, daß meine MitarbeiterInnen notgedrungen monatelang ohne mich klargekommen sind. ... Meine Pflichtübungen werden also vor allem darin bestehen, mit Schlips und Kragen bei den Gesprächen mit unseren kommerziellen Verhandlungspartnern die Honneurs zu machen, Anträge zu unterschreiben u.s.w. Es bleibt mir die Kür, also Überlegungen zur Quantentheorie zu machen, die mir Spaß machen, und dazu gelegentlich Briefe an auswärtige Kollegen zu schreiben. Und im kommenden Semester mache ich fachlich auch nur ein Semester über Physik und Gesellschaft. ... Ihr seht also, ich habe die Lektion wirklich begriffen, und kein Grund zur Sorge. Ich denke sogar daran, ... mich vorzeitig ganz pensionieren zu lassen, oder aber den Job noch mehr zu verdünnen. ... Noch was zum Zeichen des Bruchs mit der Vergangenheit: Ich hab mein liebes Motorrad verschenkt und werde mir, wenn ich entsprechend fit bin, ein Fahrrad zulegen.«
Am Dienstag, den 12. Juli, holte Klaus -ein Arbeitskollege schon seit Berliner Zeiten- Jens aus Bad Bevensen ab. Er hat sich Tricks überlegt, ihn - um ihn zu veranlassen, sich besser zu schonen - nicht an die Uni fahren zu müssen, was Jens aber nicht abhält, Klaus wiederum auszutricksen und sofort dort zu erscheinen.
Die Möglichkeiten der Uni und die Leute aus seiner Arbeitsgruppe waren für Jens Zuhause und sozialer Bezug.
Wir haben uns sehr gefreut über sein verhältnismäßig gutes Aussehen und waren überrascht und beeindruckt über seine fröhliche, ruhige und gelassene Art und dachten: jetzt ist er über den Berg!
Am Morgen des drauffolgenden Sonntags läßt sich Jens mit dem Notarztwagen ins Krankenhaus fahren. Wieder auf die gleiche Station, auf der er schon so oft war, und wo seine Hoffnung und An strengung auf Genesung immer wieder enttäuscht wurden.
Zuerst scheint sein Zustand nicht dramatisch zu sein - er telefoniert noch mit einigen FreundInnen, auch aus seiner Uni-Abeitsgruppe, läßt sich von einem Arzt aus seiner Familie noch telefonisch beraten - aber seine Situation verschlechtert sich schnell. Jens wird auf die Intensivstation gebracht und dort ist er am Montag gestorben.
Seine Freundin Gerhild konnte in den letzten Stunden noch bei ihm sein.
Wer war Jens Scheer?
Manche von uns sind Jens zu ganz verschiedenen Zeiten begegnet oder haben in ganz unterschiedlichen Bereichen mit ihm zusammen- gearbeitet, oft ohne selbst viel voneinander mitzubekommen.
Ich will versuchen, das für uns zusammenzuführen; und dazu hauptsächlich ihn durch seine eigenen Aufzeichnungen sprechen lassen.
Aber alles Bemühen, von Jens ein Bild zu zeichnen, kann nur unzulänglich, nur Ausschnitt sein; es sind Versuche von Skizzen, geprägt durch meine eigene Geschichte, durch meine Lebenserfahrung und Absicht. Skizzen, die nicht abgeschlossen und zur "Wahrheit" erstarren sollen, sondern in Fluß zu halten sind, im Spannungsfeld zwischen zukünftiger Entwicklung und unserer Sicht auf Jens. Damit meinen sie auch meine Auseinandersetzung mit Jens und mit mir selbst.
Jens wurde 1935 in Hamburg geboren. Sein Vater war Staatsanwalt, seine Mutter bis 1933 Lehrerin, danach - wie Jens ausführt -, als eine Folge der faschistischen Familienideologie, Hausfrau und Mutter.
1941 wurde sein Bruder Jörn, 1943 seine Schwester Karin geboren.
Er schreibt über diese Zeit, die er hauptsächlich in Hamburg ver- brachte: »Viel habe ich als kleines Kind vom Nazismus nicht mitbekommen, wohl erinnere ich mich schlimmer Äußerungen ... : "Wenn nicht all die jüdischen Juristen 1933 entlassen worden wären, hätte unser Vater nicht so leicht eine Stelle bekommen."
Dies entzieht allem Kohl`schen Gerede von der "Gnade der späten Geburt" den Boden, vielmehr muß ich klar sehen, daß ich die problemlose Kindheit in einem Elternhaus mit festem Einkommen der Verfolgung der Juden verdanke.«
Nach dem Krieg, Anfang 1946 kam er aufs Gymnasium.
Jens: »Während mein Elternhaus betont unpolitisch war ("halt dich da raus, wer weiß, wer dir daraus später einen Strick dreht"), er- hielt ich den ersten Politkontakt durch eine Gruppe der Falken, denen ich mich zunächst lediglich anschloß, um Esperanto zu lernen. Zugleich war`s ein Kontakt mit Arbeiterkindern, der mich für alle Zeiten vor etwaigem Standesdünkel feite. Resultat war generelle Orientierung auf die SPD, ....«
Er lernte Wolf Biermann kennen, der einige Jahre jünger war und mit Mutter und Großmutter in seiner Nähe wohnte. Von ihnen bekam er zum ersten Mal "Das Kapital" ausgeliehen.
»Eine Distanzierung von der DDR wurde vor allem verursacht durch die Aufrüstung der NVA, da ich derweil anläßlich der BRD-Aufrüstung zum Pazifisten geworden war und mit großem Eifer in der Internationale der Kriegsdienstgegner arbeitete, etwa ab 1953«
1954 - 1956 Studium in Hamburg
Physik studierte Jens eigentlich nur als Vorbereitung für ein geplantes Astronomiestudium. Astronomie war eines seiner Hobbies. Er besuchte regelmäßig Vorträge im Hamburger Planetarium und hatte sich als 16-jähriger ein Fernrohr gebastelt, mit dem er vom Dachfenster aus die Sterne beobachtete.
Nach dem Vordiplom 1956 in Hamburg setzte Jens sein Studium in Heidelberg fort und schloß es mit dem Diplom 1960 ab.
Aus dieser Zeit stammten auch mehrere Bekanntschaften von KollegInnen, denen er später wieder in Bremen begegnen sollte.
Über diese Zeit Jens: »Damit (gemeint ist ein 35 MeV Betatron, ein Elektronenbeschleuniger) waren wir -Mitte der Fünfziger Jahre- "voll im Trend"; gerade war 1955 die Genfer Konferenz "Atome für den Frieden" gewesen, und in der BRD flossen reichlich Forschungsgelder, um den Anschluß an internationale Standards zu gewinnen. - Naiv, wie wir alle und ich im besonderen waren, glaubten wir, das geschähe alles zum Fortschritt der Wissenschaft um ihrer selbst willen, damit letztlich zu unserem, den Trägern der Wissenschaft, Vergnügen. Erst viele Jahre später erkannte ich, daß das Ganze ein breit angelegtes Manöver war, um die Basis für zivile (und militärische!) Atomenergienutzung zu schaffen. Gerade um diese Zeit wurde ganz in unserer Nähe das Atomforschungszentrum Karlsruhe gegründet; was die da machten, interessierte uns kaum, allenfalls sahen wir als die "reinen Wissenschaftler" auf die "Anwender" hinab.
Viel mehr noch sahen wir in unserer Naivität auf die schon damals vorhandenen GegnerInnen der Atomenergie hinab, die sich Sorgen um die radioaktive Verseuchung der Felder machten. Mit Genugtuung hörten wir, daß es gelungen sei, diese Kritiker aus der Bevölkerung vom Gegenteil zu überzeugen.
Es sollte dann ja auch zwanzig Jahre dauern, bis der Widerstand gegen Atomanlagen Kraft und Elan gewann, und unser tiefverwurzelter Glaube an die Harmlosigkeit der Radioaktivität -unterhalb gewisser Grenzen, versteht sich- zuschanden wurde.
In den Jahren dazwischen diente unsereins, wenn schon mal Bedenken wegen "Vergeudung von Steuergeldern zwecks unseres Vergnügens" aufkam, die Atomenergienutzung als eine vage Rechtfertigung -ganz irgendwie und um zahllose Ecken würde das, was wir machten, vielleicht auch der Anwendung zu gute kommen, doch sollte das nicht unsere Sorge sein!-. Daß das aber, wenn übehaupt, rein zivil sein würde, das war ein unverzichtbares und unerschütterliches Dogma!«
Im Frühjahr 1958 trat Jens in den "Deutschen Jugendbund für Naturbeobachtung" DJN ein, den er als »weit links« beschreibt, auch wegen seines »ganz ungewöhnlich hohen Anteils an Kriegsdienstverweigern«. Hier konnte er ein weiteres Hobby pflegen, das ihn noch in Bad Bevensen - mit Fernglas und Bestimmungsbuch - faszinierte.
Jens engagierte sich in der Bewegung "Kampf dem Atomtod" gegen die von Adenauer und Strauß betriebene westdeutsche Atomrüstung, beeinflußt auch durch die Göttinger Erklärung von 18 Kernphysikern.
Nach dem Diplom 1960 fährt Jens für etwa ein Jahr nach Berkeley ins Lawrence Radiation Laboratory, um an der Aktualisierung des kernphysikalischen Teils des Landolf-Börnstein, einem physikalischen Tabellenwerk, zu arbeiten.
Über diese Zeit schreibt Jens: »In den Südstaaten herrschte damals (1960!) noch Segregation oder Apartheit; makaber die Trennung von Wasserhähnen, Bänken, Toiletten in "white" und "colored". ...
In Berkeley schloß ich mich dem Congress on Racial Equality, akronymical CORE, an, eine landesweit arbeitende Organisation, die als Hauptaufgabe den vor allen von StudentInnen geführten Kampf gegen Segregation im Süden unterstützte. ...
Ein Teil der örtlichen CORE-Mitglieder waren außerdem organisiert in der "Young People`s Socialist League" (YPSL), die lose der winzigen Sozialistischen Partei der USA zugeordnet war. Hier lernte ich nach 10 Jahren Pause wieder marxistische Theorie, jetzt allerings mit mehr Verständnis als weiland bei den Biermanns.«
1962 promoviert Jens mit einer Arbeit am Betatron in Heidelberg und geht anschließend mit Prof. Lindenberger, der einen Ruf an die FU und an das Hahn-Meitner Institut für Kernforschung folgte, nach Berlin.
Er war schon in Heidelberg in den "Sozialistischen Deutschen Studentenbund" (SDS) eingetreten; betätigte sich dann weiter im Berliner SDS.
»Ich war ja zu Beginn der Epoche gerade jenseits des Alters, da man -nach einem verbreiteten Spruch- keinem trauen sollte, nämlich 30, dennoch warf ich mich mit Elan und zunächst ziemlich wenig unterscheidend in die Bewegung, nahm soweit wie möglich an jeder Demo, jedem Teach-in teil, wohl mit dem Wunsch, sonst Verlorenes nachzuholen.
Es war in der Tat hauptsächlich eine Jugendbewegung, die die versteinerten Verhältnisse der Adenauer-Ära zum Tanzen bringen wollte, in dem sie ihr die eigene Melodie vorspielte. Es ist heute kaum mehr vorstellbar, wie verknöchert die Verhältnisse waren, da die Gesellschaft in Westdeutschland und Westberlin sich auf den wirtschaftlichen Aufbau nach dem Krieg konzentrierte, geistig-ideologisch aber die Fundamente der vorangehenden Epoche ziemlich ungebrochen übernahm.«
Als die SPD mit Willi Brandt eine vernichtende Wahlniederlage erlitt, trat Jens mit vielen anderen 1965 in die SPD ein, mit der Hoffnung, »den Kurs noch einmal richtig nach links herumzueißen«. Er sah diesen Schritt aber als gescheitert an und trat wieder aus, nachdem sich die SPD 1966 an der Großen Koalition beteiligte.
Jens nahm aktiv teil an der Studentenrevolte, die sich u.a. aus der Kritik an der Großen Koalition, aus der Solidarität mit den Befreiungsbewegungen - vor allem in Vietnam -, aus der Kritik an den reaktionären Ausbildungs-Inhalten und -Strukturen entwickelte und darüber hinaus über die Utopie einer "Neuen Gesell-schaft" diskutierte.
Er beteiligte sich an den Protesten gegen den Springer-Konzern - "Enteignet Springer!" - und an den Auseinandersetzungen:
- gegen die Ermordung von Benno Ohnesorg auf der Anti-Schah-Demo am 2. Juni 67 durch den - später frei gesprochenen - Polizisten Kurras,
- gegen das Attentat auf Rudi Dutschke durch Bachmann im Frühjahr 68, provoziert auch durch die Pogromhetze der Springerpresse, »die explizit die "freiheitliche Bevölkerung" aufgefordert hatte, im Kampf gegen die "langbehaarten Affen" (Studis), die Drecksarbeit nicht der Polizei zu überlassen"«,
- gegen die Notstandsgesetze.
Nach dem Zusammenbruch der Studentenbewegung und der Auflösung des SDS arbeitete Jens in der Roten Zelle Physik mit, die dann 1971 in den "Kommunistischen Studentenverband" KSV praktisch aufging.
Der KSV war die Studentenorganisation der KPD-Aufbauorganisation die sich im Februar 1970 aus der Kritik an der 1969 gegründeten KPD/ML gründete und die für Jens zur politischen Heimat werden sollte.
»Gegen Ende des Jahrzehnts war ich immer unzufrieden mit unserer sogenannten wertfreien Grundlagenforschung, dagegen trat die Forderung nach gesellschaftlicher Relevanz. Immer weniger hielt ich es aus, in der "Freizeit" mich in revolutionäre Zusammenhänge zu bewegen und im Job so total abgehobene Dinge zu treiben. Wenn wenigstens ein bißchen gesellschaftlicher Nutzen zu erkennen wäre! ...
Dabei waren wir völlig hilflos, was die angesagte Kritik an den eigenen Fachinhalten anging. Wir fanden an unserer Physik absolut nichts zu kritisieren, außer vielleicht - und das auch erst später und ganz langsam - die mangelnde gesellschaftliche Relevanz.>
Jens habilitierte noch in Berlin- erhielt dadurch die Lehr berechtigung - und ging dann 1971 nach Bremen; beteiligte sich dort am Aufbau der Universität.
Er baute den KSV mit auf und schuf eine Gruppe zur Entwicklung von Meßmethoden und -Apparaturen für die Untersuchung von Schwermetallen durch Röntgenfluoreszenz und war beteiligt an der Gründung der Meßstelle für Arbeits- und Umweltschutz. Beide Gruppen arbeiten bis heute, ihre Existenz an der Universität ist jetzt aber -da an die Professur von Jens gebunden und von den Mächtigen des Fachbereichs nicht länger erwünscht- mehr als gefährdet. Das gleiche gilt für das Projekt "Herrschende Wissenschaft ist Wissenschaft der Herrschenden".
Reformuniversität Bremen
Jens zu seinem Umzug von Berlin nach Bremen: »Nach einigen Überlegungen ... fanden wir es der Mühe Wert, sich auf das Bremer Konzept einzulassen....
Die Sozial- und ErziehungswissenschaftlerInnen hatten bereits als wesentlich Neues das Projektstudium entwickelt, mit den Kriterien Interdisziplinarität, gesellschaftliche Relevanz und Berufspraxisbezogenheit. Die Idee war, daß Studis, Assis und Profs verschiedener Fächer gemeinsam mit ihren jeweils fachspezifischen Beiträgen an einem gesellschaftlich wichtigen Problem arbeiten. Und daß die Studis dabei ihre für den späteren Beruf notwendige Fähigkeit und das Kernwissen exemplarisch erlernen sollten, wobei ihnen die gesellschaftlichen Probleme des Fachs zwanglos in den Blick kommen.«
Die Universität hatte mit diesem Anspruch -Wissenschaft und Lehre in die Gesellschaft zurückzuverlagern- durchaus ein eigenständiges und internationales Profil; übte Irritation auf die bestehende Universitätslandschaft aus und rief Faszination und Aufbruchstimmung bei HochschullehrerInnen, Hochschulpersonal und StudentInnen hervor, hatte den Ruf, kritisch und progressiv zu sein.
Aber die Bremer Universität hat aus opportunistischen Gründen ihre Position, ihre Ansprüche verlassen, sich mit den Mächtigen arrangiert, und sich damit in die Konkurrenz zu den traditionellen Universitäten begeben.
Jetzt stellen sich Fragen wie: war das Konzept von Anfang an eine Illusion? Wurden die Ansätze je ernsthaft verfolgt? Wurde nur vordergründig auf die Ansprüche eingegangen? ...
Wohl kann auch die Bremer Universität nicht von den herrschenden Bedingungen isoliert handeln, aber wenn sie die Auseinandersetzung um ihre Ansprüche aufgibt, sich zufrieden gibt, wird die Niederlage zum Scheitern -und was dann übrig bleibt ist das ängstliche Bemühen um Integration, vor der scientific community, der politischen Administration und der Industrie Anerkennung zu finden. Dadurch werden selbst Räume verschlossen, die an den "alten" Universitäten unter dem traditionellen Anspruch von Hu manismus und Wertfreiheit der Wissenschaft -so sehr dieser An spruch auch zu hinterfragen ist- noch offen sind. Und es entwickeln sich Markenzeichen wie: Feudalstrukturen; Mentalität der Pfründe-Sicherung; Verzicht auf wissenschaftlichen Streit und Debatte, um der Gefahr zu entgehen, sich in Frage stellen lassen zu müssen; die Resignierten verkriechen sich in die ihnen (jetzt) noch verbleibenden "Freiräume"; ... .
Diese Entwicklung war für Jens durchaus schmerzhaft -bedeutete sie für ihn, auch selbst Teil dieses Widerspruchs zu sein, auch eigenes Scheitern-, auch wenn er sie politisch voraussah und nie Schwierigkeiten hatte, sie zu interpretieren.
Die Anti-AKW-Bewegung.
AkW-GegnerInnen in Bremen und Umgebung hatten sich zu einem "Arbeitskreis gegen radioaktive Verseuchung" zusammengeschlossen und riefen zum Widerstand gegen das AKW-Esensham auf. Sie forderten u.a. auch Jens auf, dem Anspruch der Uni gerecht zu werden und sie in ihrem Kampf auch seitens der Wissenschaft zu unterstützen. Dies war -wie Jens es selbst schildert- nach anfänglichem Zögern, für ihn, aber auch für andere KollegInnen und StudentInnen der Beginn einer intensiven Auseinandersetzung mit der schon lange laufenden Debatte über Niedrigstrahlen und Nutzung der Atomenergie.
Ein Ergebnis ist eine Broschüre, die im Rahmen des Projekts "Schadstoffbelastung am Arbeitsplatz und in der Industrieregion Unterweser" entstand.
Sie war eine Antwort auf die Propagandaschrift von HEW und NWK - "Zum besseren Verständnis der Kernenergie, 66 Fragen, 66 Antworten" - und sie nannten sie: "Zum richtigen Verständnis der Kernenergie, 66 Erwiderungen".
Diese Broschüre wurde zu einem Standartwerk für die Anti-AKW-Bewegung.
Seitdem war Jens nicht mehr wegzudenken aus dem Widerstand gegen Atomanlagen, ob bei Vorträgen, Gutachten, Erörterungterminen, Demonstrationen oder mit wissenschaftlichen Kommentaren, ob in Esensham, Wyhl, Brokdorf, Lichtenmoor, Grohnde, Gorleben, Kalkar, Wackersdorf, Stade oder in einem anderern Standort, ob bei den Katastrophen in Harrisburg oder Tschernobyl, ... .
Jens: »Will man den riesigen Erfolg der Anti-AKW-Bewegung richtig e-messen, muß man sich vor Augen führen, daß laut eines Planungspapiers aus der Atomforschungsanlage Jülich für die BRD nicht weniger als 598 AKWs geplant waren. Diese Zahl betrifft nicht etwa mögliche alternative Standorte, wie vielfach vermutet wird, sondern da die Gesamt-Watt-Zahl (fast 1000 GW = 1TW) angegeben wird, sollten sie einmal alle gleichzeitig laufen (!).
Dagegen wurden gerade 20 durchgesetzt, natürlich sind das 20 zu viel, wegen der Gesundheitsschäden im Normalbetrieb und der so ungeheuer verharmlosten Unfallgefahr, aber dennoch!
Natürlich spielt auch die immer deutlicher werdende ökonomische Unsinnigkeit eine wachsende Rolle beim Rückzug aus den wahnsinnigen Atomprogrammen.«
Jens Scheer war an diesem Erfolg entscheidend beteiligt -wobei ich Erfolg sicher nicht nur an der Statistik festmachen will-, er warf seine gesamte Autorität als Physik-Professor in die Waagschale -gleichermaßen hat er die gesellschaftliche Rolle und Bedeutung von Autoritäten durchaus kritisiert-, setzte sich dadurch ständigen Angriffen, auch von innerhalb der Universität, aus.
Berufsverbot
Gestützt auf den Brandtschen Radikalenerlaß, beantragte Jens` Dienstherr, der Bremer Senat bei dem dafür zuständigen Disziplinargericht, 1975 seine Entfernung aus dem Dienst und zwar wegen Unterstützung der KPD. Zugleich wurde er vom Dienst suspendiert, auf halbes Gehalt gesetzt, Forschung und Lehre wurden ihm verboten. Nur der Solidarität einiger KollegInnen ist es zu verdanken, daß er in dieser Zeit und zwar unter ihrem Namen, sich weiter an Forschung und Lehre beteiligen konnte.
Im Kontext mit der Auflösung der KPD -für Jens, nach seinen eigenen Aussagen, ein furchtbarer Schlag-, einer persönlichen Einlassung auf die Anklage, aber sicher hauptsächlich durch eine internationale Solidaritätskampagne mußte das Berufsverbotsverfahren nach 5 Jahren 1980 eingestellt werden.
Während dieser Zeit liefen noch 4 Strafverfahren ("RCDS", "Routier", 2-mal "Brokdorf") gegen Jens, die bis auf eine Verurteilung zu 4 Monaten mit Bewährung, mit Freispruch endeten.
Diese Erfahrung führte bei Jens -nach seinen eigenen Aussagen- zu einer uneingeschränkten Bereitschaft zur Solidarität mit politisch Verfolgten. Ich selbst habe ihm auch da viel zu verdanken.
Außer mit der Entwicklung der Röntgenfluoreszenzmethode, mit Fragen der radioaktiven Strahlung und der Atomkraft und des darauf basierenden Lehrgebäudes, der Betreuung von DiplomandInnen und DoktorandInnen und seiner Ausbildungsverpflichtung hat sich Jens noch mit sehr unterschiedlichen Projekten befaßt:
- Arbeiten im Bereich von Erkenntnistheorie, Wissenschaftskritik
und Naturphilosophie:
- zur gesellschaftlichen Prägung der Naturwissenschaft, angeregt durch Alfred Sohn-Rethel,
- zur technischen Utopie, angeregt durch Ernst Bloch,
- zur Dialektik von Mensch, Gesellschaft, Natur, angeregt
durch Karl Marx.
- Arbeiten zur ideologischen Prägung der herrschenden Auffassung
der Quantentheorie inspiriert durch David Bohm.
- Und sicher nicht zuletzt dachte er über den Aufbau einer neuen
KPD nach und traf sich mit GenossInnen - wie er sagte:
»mit denen der Aufbau einer KPD, die den Namen verdient,angepackt werden kann. Deren Fehlen halte ich weiterhin für eine
Hauptursache für die ideologische Verworrenheit und Perspektivlosigkeit der Linken in Deutschland«.
Zusammenfassend schätzt sich Jens selbst ein:
»Experimentelle Kernphysik -ohne sichtbaren Nutzen für die Atomenergie- hat mir in all den Jahren riesigen Spaß gemacht und mein Leben weithin erfüllt.
In der Tat läßt sich nicht leugnen: Ich bin ein Physiker, der politisch einigermaßen aktiv war und ist, und nicht andersherum.«
Einerseits ein extrem diszipliniertes, auf die Verwirklichung politischer Vorstellungen ausgerichtetes Leben, ständiges Treffen mit vielen Menschen und Gruppen, "Reisender" in politischen Fragen, »Zeit ist eine Frage der Priorität« und seine Priorität war Teilhaben am politischen Geschehen und darauf Einfluß nehmen, aber andererseits gehen dadurch auch leicht die Möglichkeit und Bereitschaft verloren, sich auf andere Menschen tiefer einzulassen, sich zu öffnen und gleichheitlich kollektiv zu werden, zuzuhören, sich greifbar, nachvollziehbar und kritisierbar zu machen; Nähe herzustellen, die dich auch trägt und verändert.
Wer von uns selbst kennt diesen Widerspruch nicht, der viele Aktivitäten selbst wieder in Frage stellt; der leicht zum Verlassen des Spannungsfeldes führt -in dem du dich bewegst und entwickelst- und der sich dann als antagonistisch herausstellt.
Dies ist möglicherweise eine der Schnittstellen, wo wir nicht bereit sind, das Risiko zu leben einzugehen.
Trauerfeier
Wir haben zu diesem Treffen eingeladen, um gemeinsam zu trauern. "Gemeinsam trauern", was verbinde ich damit?
Sicher nicht: Betäubung, Vergessen oder Rührseligkeit;
aber sicher auch nicht: durch Anekdoten, Mythenbildung, personalisierte Dogmenbildung die kritische Sicht auf Jens und damit auch auf die weiterhin zwischen uns bestehenden Widersprüche und Konflikte zu verstellen, zu tabuisieren.
Jens jetzt auf ein Podest zu heben, ihn über Lobeshymnen zu gedenken, hat nichts mehr eigentlich mit ihm zu tun, sondern es geht dann dabei hauptsächlich darum, ihn jetzt für die eigenen Interessen zu nutzen, sich selbst "ins rechte Licht zu rücken", die eigene Position zu dogmatisieren.
Wir reden immer von uns, auch wenn wir andere als Zeugen anrufen, und die Auseinandersetzung mit Jens ist jetzt eine Auseinandersetzung, die wir mit uns selbst und untereinander führen.
Jens muß angenommen werden als Partner, zu dem wir auch weiterhin ein kritisches Verhältnis haben dürfen.
Trauer also, als Aufforderung an uns alle, in die Gegensätze einzusteigen, mit ihnen genauer und selbstverantwortlicher umzugehen.
In der gemeinsamen, solidarischen und radikalen Kritik Nähe und Zärtlichkeit entwickeln als eine Grundlage für unsere Emanzipation, für den "neuen Menschen", für die "neue Gesellschaft". Das ist zumindest meine Erfahrung und so verstehe ich auch mein Verhältnis zu Jens; nie verwirklicht aber ansatzweise versucht - so habe ich auch einen Freund verloren.
Es ist heute hier sicher nicht der Ort, die Auseinanderesetzung aufzunehmen, aber vielleicht läßt sich hier der Ort öffnen, um Berührung zwischen den verschiedenen Positionen, Wegen und Methoden wieder herzustellen.
"Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern".
Dieses Zitat von Karl Marx haben wir als Leitmotiv für diese Feier gewählt.
- Rückblickend auf das Leben von Jens, der die dialektische Einheit zwischen Theorie und Praxis, die diese Äußerung meint, er kannte und vertrat, weist es auf den Widerspruch hin, den Jens -wie er selbst immer wieder äußerte- nicht ausreichend lösen konnte zwischen:
wissenschaftlicher Arbeit und politischem Kampf, zwischen politischem Anspruch und persönlichem Leben.
- Und ist auch Frage und vorwärtsweisende Aufforderung an uns, die wir mit den gleichen Widersprüchen leben.
Theorien sind ja oft so wunderbar in sich schlüssig, logisch, widerspruchsfrei und rational zwingend vorführbar, aber deshalb müssen sie mit unserer Wirklichkeit, mit unseren Utopien noch lange nichts zu tun haben. Auf den Alltag, auf die Menschen, auf uns selbst bezogen, bleibt davon dann oft nicht viel übrig - be sonders wenn wir nicht bereit sind, das wahrzunehmen und zuzulassen!
"Beim nächsten Mal wird alles besser!"
Mit diesem Spruch, der seit der Beseitigung der Mauer auf dem Marx-Engels-Denkmal im Osten Berlins gesprüht steht, pflegte Jens in letzter Zeit oft seine Vorträge zu beenden.
Ich weiß nicht, wie die AutorInnen dieses Spruchs ihn verstanden, aber Jens meinte ihn ernst, im wörtlichen Sinne.
Jens sinngemäß auf einer Veranstaltung [ 3 ]:
»Der RGW-Sozialismus mußte scheitern, weil ein falsches Verständnis der Marx-Lenin-Mao-Ideen vorherrschte und so die richtigen Prinzipien falsch angewandt wurden - es besteht nach wie vor Bedarf nach Veränderung dieser Gesellschaft - die grundsätzlichen Ideen vom Kommunismus sind nicht falsch - es bedarf einer neuen Analyse und eines neuen Anfangs - dafür müssen wir unnachgiebig eintreten!«
Ich will als Schluß diesen Spruch "beim nächsten Mal wird alles besser" mit einem Zitat vielleicht etwas anders füllen. Es stammt aus einem Buch, welches wohl das letzte Buch war, das Jens noch in Bad Bevensen gelesen hatte. Die Auseinandersetzung darüber hätte ich gerne auch mit ihm geführt; ich hoffe sie wird uns in Zukunft noch intensiv beschäftigen.
Das Buch hat Paul Feyerabend geschrieben und heißt: " Wider den Methodenzwang". Das Zitat [ 4 ]:
"... Ganz wie ein gut dressiertes Haustier seinem Herrn gehorcht, wie verwirrt es auch immer sein mag, genauso gehorcht ein gut dressierter Rationalist dem Vorstellungsbild seines Herrn, er hält sich an die Grundsätze des Argumentierens, die er gelernt hat, und zwar auch dann, wenn er sich in der größten Verwirrung befindet, und er kann überhaupt nicht erkennen, daß das, was er als »die Stimme der Vernunft« ansieht, nichts anderes ist als eine kausale Nachwirkung seines Trainings. Es kommt ihm nicht in den Sinn, daß die Berufung auf die Vernunft, der er sich so bereitwillig unterwirft, ganz einfach ein politisches Manöver ist.
Daß Interessen, Macht, Propaganda und Gehirnwäschemethoden in der Entwicklung der Erkenntnis und der Wissenschaft eine viel größere Rolle spielen, als allgemein angenommen wird, das läßt sich auch an einer Analyse des Verhältnisses von Denken und Handeln erkennen. ...
... Es ist beispielsweise zu erwarten, daß die Idee der Freiheit erst im Verlauf jener Handlungen klar wird, die nötig sind, um die Freiheit zu schaffen. ... "
[ 1 ] Persönliche Aufzeichnungen von Jens Scheer, 1994. Persönliche Äußerungen von Jens werden mit "»...«" gekennzeichnet.
[ 2 ] Brief an Mimi und Conny, Bad Bevensen, 28.06.94.
[ 3 ] Gemeinsame Veranstaltung des Projekts "Herrschende Wissenschaft ist Wissenschaft der Herrschenden" an der Universität Bremen und des Projekts "Morphologie der telekratischen Gesellschaft" an der Hochschule für bildende Künste - Hamburg, Hamburg 10. und 11.01.93.
[ 4 ] Paul Feyerabend, "Wider den Methodenzwang", Suhrkamp, 1983, S. 24,25.
Lieber Jens!
Kein Nachruf kann Deinem vielseitigen Leben, Arbeiten und Kämpfen gerecht werden. Für uns warst Du zuerst und vor allem ein engagierter Physiker, der Maßstäbe setzte nicht nur fürs Arbeiten innerhalb dieses Fachs sondern gerade auch für die Beschäftigung mit seinen Grenzen und mit seinen Auswirkungen darüberhinaus.
Vor 30 Jahren hast Du Deine jüngeren Kollegen und Studenten begeistert angeleitet, die Welt der Atomkerne mit Hingabe bis ins Einzelne zu erforschen, und hast schon in der beginnenden Berliner Studentenbewegung für eine moderne Physikerausbildung gestritten (der erste "Grundkurs Physik"). Wachgerüttelt und voller Kritik an der zweifelhaften gesellschaftlichen Relevanz unserer Wissenschaft konntest Du diese Arbeit in die Gründung der Uni Bremen einbringen und wurdest hier bald der erste "Anti-Atomphysiker".
Du konntest großzügig und liebevoll Sicherheit geben, aber auch schonungslos kritisch sein, so daß es Dir weder an Freunden noch an Feinden mangelte, gerade auch innerhalb der Universität. Sogar Freundschaften wurden dabei manchmal in Mitleidenschaft gezogen. Du selbst wurdest schonungslos verfolgt, hast aber nie gewankt, wenn es darum ging, die Wissenschaft da zu denunzieren und zu bekämpfen, wo sie mit der Beherrschung von Menschen zu tun haben sollte-. seien es autoritäre Formen der Lehre und der Prüfungen, oder die Aufrechterhaltung von Lehrmeinungen des Establishments gegen abweichende Befunde, oder eben wissenschaftliche Ergebnisse als direktes Hilfsmittel von Herrschaft.
Nicht nur Deinen Arbeitskollegen hast Du damit Maßstäbe gesetzt, beständig hast Du auch Studenten und Studentinnen angezogen und in diesem Sinne ausgebildet: da wird der Physik in Bremen künftig etwas fehlen.
Bremen, den 20. Juli 1994
Ingo Bareth - Leoni Begemann - Klaus Begemann -Jörn Bleck-Neuhaus - Ute Boikat - Dieter von Ehrenstein - Rolf Goedecke - Holger Heide - Werner Herzer - Marlies Krüger - Frieder Nake - Hans Niedderer - Cornelius Noack - Peter Plath - Rüdiger Schäfer - Inge SchmitzFeuerhake - Hannelore Schwedes - Wolfram Thiemann - Michael Vicker - Ralf Wehrse
(ArbeitskollegInnen von Jens Scheer aus dem Studiengang Physik seit 20 Jahren oder länger und aus anderen Bereichen der Universität)
Mit Erschütterung haben wir die Nachricht erhalten, daß unser Kollege
Prof. Dr. Jens Scheer
am Montag, dem 18. Juli 1994 gestorben ist.
Nach schwerer Herzoperation Ende vorigen Jahres, von der er sich nur langsam erholte, schien er gerade in der letzten Woche noch guten Mutes, die Krise nun überwunden zu haben.
Jens Scheer, geboren 1935 in Hamburg, hatte in Heidelberg als Schüler von Hans Kopfermann und J. Hans D. Jensen (seinem Onkel!) 1962 promoviert. Er ist dann - nach 'Wanderjahren', die ihn auch ans Lawrence Berkeley Laboratory geführt hatten - zum Hahn-Meitner-Institut an der FU Berlin gegangen, wo er sich 1970 für Experimentalphysik habilitierte. Im gleichen Jahr schon aber wurde er Mitglied der Planungskommission "Naturwissenschaften" an der neuzugründenden Universität Bremen und hat sich so als einer der Hochschullehrer "der ersten Stunde" von Anfang an für den Aufbau der Physik in Bremen eingesetzt.
Jens Scheers politisches Engagement und sein öffentliches und uneingeschränktes Eintreten gegen die Nutzung der Kernenergie hat, so scheint es, sein internationales Renommee als Physiker im eigenen Hause immer etwas in den Hintergrund treten lassen. Dabei hatte er sich dieses Renommee schon lange vor seinem Ruf nach Bremen erworben, vor allem mit der autoritativen Kompilierung und Aufstellung der Termschemen (Spektren) der schweren Atomkerne (A=213 bis A=257), die in Band 1 der "Neuen Serie" des Landolt-Börnstein erschienen ist.
Die wissenschaftliche Arbeit Jens Scheers in Bremen konzentrierte sich auf zwei Gebiete. Experimentell ist da die Methode der Spurenanalyse (z.B. von Schadstoffen) mit Hilfe der Röntgenfluoreszenz zu nennen, die er im Laufe der Jahre immer weiter verfeinert hat. Zum andern aber hat ihn ein theoretisches Problem schon in seiner Studienzeit fasziniert und dann sein Leben lang nicht mehr losgelassen: die Interpretation der Quantenmechanik. Sein eigenes, originelles Interesse an diesen höchst schwierigen und auch heute, nach fast 70 Jahren, noch immer nicht zufriedenstellend beantworteten Fragen bestand darin, Ideen und Konstellationen zu ersinnen, die experimentelle Antworten auf die offenen Fragen gestatten sollten. Es wurde so seine große Liebe zur Experimentalphysik deutlich, gerade auch da, wo seine Vorschläge andere Kollegen nicht zu überzeugen vermochten.
Jens Scheer hat aber auch in den hochschulpolitischen Auseinandersetzungen - heftig in der Gründungsphase der Universität, in den späteren Jahren dann kollegialer, aber gleichzeitig mit ironischer Distanz, - nie locker gelassen. Er hat uns alle, gerade auch da, wo wir nicht mit ihm übereinstimmen konnten, immer wieder zur selbstkritischen Überprüfung und Begründung der eigenen Positionen veranlaßt.
Sein unermüdlicher Einsatz aber für 'seine' Studenten und sein Engagement für ihre Belange hat ihn für viele zu einem Vorbild werden lassen.
Wir werden ihn nicht vergessen.
Bremen, den 19. Juli 1994
Für den Fachbereich 1 und den Studiengang Physik:
(Prof.Dr. Cornelius C. Noack)
in Stellvertretung des Sprechers
Liebe Besucherinnen und Besucher des heutigen Kolloquiums,
wie sie wahrscheinlich wissen, ist der heutige Termin als Gedenkkolloquium für den im Sommer verstorbenen, als Professor an diesem Fachbereich tätig gewesenen Jens Scheer gedacht. Und obwohl mit dem heutigen Vortrag an einen auch für ihn wichtigen Abschnitt seiner Laufbahn - seine Zeit am Hahn-Meitner-Institut in Berlin erinnert wird, muß doch an der Themenwahl enttäuschen, daß damit seine über zwanzigjährige Tätigkeit an diesem Fachbereich -die bekanntermaßen sehr umstritten aber auch anerkanntermaßen sehr produktiv war - ausgeblendet wird. Wir befürchten, daß damit Jens Scheer auch nach seinem Tode eine Auseinandersetzung mit seinem Wirken an diesem Fachbereich verweigert werden soll. Eine Auseinandersetzung, die schon zu seinen Lebzeiten kaum jemals inhaltlich mit ihm geführt wurde, sondern nur mit administrativen Mitteln von den längeren Hebeln der Fachbereichs- und Staatsmacht aus.
Deswegen wollen wir an dieser Stelle noch einmal an seine Tätigkeit hier, die ja immerhin bereits als Mitglied der für diesen Studiengang zuständigen Planungskommission begann, erinnern:
Schon während seiner Zeit am HMI hatte sich ihm immer mehr die Frage der gesellschaftlichen Relevanz der von ihm betriebenen Forschungen gestellt. Ein frühes Resultat dieses Nachdenkprozesses war seine Beteiligung am Aufbau eines PIXE-Meßstandes am HMI mit dem Spurenanalytik im Umwelt- und Arbeitsschutzbereich betrieben werden sollte. Der Bereich der Spurenanalytik wurde von ihm auch nach seinem Wechsel an die Universität Bremen weiterbetrieben, jetzt allerdings mit der Methode der Röntgenfluoreszenzanalyse, deren (erfolgreiche) Weiterentwicklung wohl bis zum Schluß sein (und seiner Arbeitsgruppe) Hauptgebiet war.
Die ersten Akzente in Bremen hatte er allerdings bereits auf einem anderen, nämlich auf dem fachdidaktischen Gebiet gesetzt. Er gehörte zu den MitbegründerInnen des Bremer Reformkonzeptes für die Physikausbildung. Dabei sollten Wissen und Fähigkeiten problemorientiert in Projekten erlernt werden, unterstützt durch "Systematisierungsphasen", in denen das ad hoc Gelernte systematisch durchdrungen werden sollte. obwohl dieses System durchaus Erfolge aufwies, erlag es schließlich dem politischen Anpassungsdruck von außerhalb der Universität, aber auch den Störmanövern von sich nach ihrer alten Ordinarienherrlichkeit zurücksehnenden HochschullehrerInnen innerhalb derselben.
Geprägt waren die siebziger Jahre aber zweifellos von seinem theoretischen und praktischen Engagement in der Anti-AKW-Bewegung. Dabei ging es ihm weniger darum, Betroffene vor Ort als "wissenschaftlicher Experte" zu beraten, sondern vielmehr diese selber zu "ExpertInnen" heranzubilden. Gleichzeitig sollte auch deren in der Praxis erworbenes Wissen wieder in den Wissenschaftsbetrieb eingebracht werden, der damit aus seinem Elfenbeinturm herausgelöst und in den Dienst der Gesellschaft gestellt werden sollte.' In diese Jahre fiel auch seine erste Beschäftigung mit der biologischen Wirkung geringer Strahlungsdosen, ein Thema zu den
von ihm und seiner Arbeitsgruppe in der Folge immer wieder Beiträge erbracht wurden.
In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre wurde seine wissenschaftliche Arbeit durch ein gegen ihn - wegen seiner Mitgliedschaft in der damaligen KPD - anhängiges Berufsverbotverfahren stark erschwert, war ihm doch während der Dauer dieses Verfahrens die Ausübung seiner Professur untersagt. Trotzdem konnte er - auch aufgrund der Solidarität einiger KollegInnen seine Arbeit und sein Engagement fortsetzen.
Nach der Aufhebung des Berufsverbotsverfahrens betrat er zu Anfang der achtziger Jahre ein neues Forschungsgebiet, das sich wohl auch zwangsläufig aus dem Zusammentreffen von Anti-AKW-Bewegung und universitärer Wissenschaft ergeben hatte. Es ging dabei um die gesellschaftliche Bedingtheit der Theorieentwicklung in den Naturwissenschaften. Also um die Frage, wie eine bestimmte Art und Weise, Naturphänomene zu beschreiben (und zu untersuchen) mit dem Denken der ForscherInnen zusammenhängt, das ja von der eben jene ForscherInnen umgebenden Gesellschaft geprägt ist. Seine (und der Arbeitsgruppe) Arbeiten bezogen sich dabei insbesondere auf das Gebiet der Quantentheorie und die physikalische und wissenschaftshistorische Hinterfragung der sogenannten "Kopenhagener Deutung". Offensichtlich stellten diese Arbeiten das wissenschaftliche Selbstverständnis mancher seiner KollegInnen am Fachbereich so sehr in Frage, daß sie ihm schließlich - trotz erfolgreicher Publikationstätigkeit - in der Folge die Betreuung von Diplomarbeiten und Dissertationen auf diesem Gebiet untersagten.
Seit Mitte der achtziger Jahre schließlich wandten er und seine Arbeitsgruppe sich wieder verstärkt der Weiterentwicklung der Energiedispersiven Röntgenfluoreszenzanalyse und deren Anwendung im Bereich des Umwelt-und später des Arbeitsschutzes zu. Gerade als sich hier Erfolge abzuzeichnen begannen, verstarb er dann viel zu früh in diesem Sommer.
Wir wissen, daß Jens Scheer bei den meisten seiner KollegInnen am Fachbereich nicht sonderlich populär war. Sein Insistieren darauf, den Wissenschaftsbetrieb als Teil der Gesellschaft zu sehen und Wissenschaft deswegen im Dienste der Bevölkerung zu betreiben stand natürlich im Widerspruch sowohl zur bequemen Elfenbeinturmmentalität als insbesondere auch zu allen Versuchen, den Fachbereich zur staatlich subventionierten High-Tech-Entwicklungsanstalt für die deutsche Wirtschaft zu funktionalisieren. Eine Auseinandersetzung mit seiner Auffassung von Wissenschaft - die nicht zuletzt auch gerne verschwiegener Teil der Gründungsgeschichte dieses Fachbereiches ist - hätte dem heutigen Kolloquiumstermin sicher besser angestanden. Daß sich darum gedrückt wird, sagt einiges über die Lage in der Bremer Physik aus. Aber Jens Scheers Kampf ist noch lange nicht verloren!
Die Arbeitsgruppe von Jens Scheer
Meßstelle für Arbeits- und Umweltschutz e.V. (M.A.U.S.)