Karl Lamers Peter Hintze Klaus-Jürgen Hedrich
Mitglied des Deutschen
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Mitglied
des Deutschen
Bundestages
Bundestages
Bundestages
Außenpolitischer Sprecher der
Europapolitischer Sprecher
der Entwicklungspolitischer
Sprecher der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion
CDU/CSU-Bundestagsfraktion
CDU/CSU-Bundestagsfraktion
Der politische Prozess zur Befriedung
und Stabilisierung der Balkan-Region muss jetzt beschleunigt werden. Weiteres
Zuwarten erschwert nur eine politische Lösung. Vorstellungen einer
jahrzehntelangen internationalen militärischen Präsenz im Kosovo und auf
dem Balkan sind unrealistisch. Die westlichen Demokratien sind nicht
bereit, die finanziellen und politischen Kosten einer solch langen Präsenz zu
tragen und die Bevölkerung in der Region ist nicht bereit, diese zu e r tragen.
Die merklich abgenommene
Zustimmung des Deutschen Bundestages am 1. Juni d.J. zum Antrag der
Bundesregierung auf eine Verlängerung des KFOR-Mandates für die Bundeswehr um
ein weiteres Jahr (82% gegenüber 89% im Jahr 2000) - die FDP-Fraktion stimmte
bis auf eine Ausnahme geschlossen dagegen - ,die Drohung der CDU/CSU-Fraktion
in ihrem Entschließungsantrag, ohne deutlich bessere Ausstattung der Bundeswehr
im nächsten Jahr ihre Zustimmung zu verweigern, und der nach dem Sieg Präsident
Bushs gewachsene Druck der USA, ihre Truppen aus dem Balkan zurückzuziehen,
sind erste öffentliche Warnsignale.
Ohne erhebliche Fortschritte bei der
Errichtung einer selbsttragenden politischen Ordnung auf dem Balkan in
absehbarer Zeit und damit die Möglichkeit zu einer drastischen Reduzierung der
militärischen Präsenz bis auf einen kleinen - für den Notfall schnell aufwuchsfähigen
- Rest, droht das Balkan-Engagement des Westens zu einem Fehlschlag und zu
einer schweren Belastung vor allem für die Europäische Union zu werden, die
hier vor der größten Bewährungsprobe ihrer erst im Werden begriffenen
Außenpolitik steht.
Der Stabilitätspakt Südosteuropa
verliert zunehmend an Dynamik. Eine Desillusionierung der Menschen auf dem
Balkan muss jedoch vor dem Hintergrund der Notwendigkeit, dass sie sich aktiv
für den Frieden und den Aufbau ihrer Länder engagieren, unbedingt verhindert
werden. Ihnen muss schnell eine Perspektive auf Befriedung und Stabilisierung
sowie auf eine Verbesserung ihrer Lebenssituation geboten werden.
Deswegen ist die vorrangige Forderung
der CDU/CSU-Fraktion, den politischen Prozess auf dem Balkan zu beschleunigen
und ihm eine konkrete Perspektive zu geben, nur allzu berechtigt. Wir wollen
hierzu einen Beitrag leisten, mit dem wir eine intensive Diskussion in
Deutschland und in Europa anzustoßen hoffen.
1. Die Lage
im Kosovo und in der ganzen Region erfordern eine Beschleunigung des
politischen Prozesses.
1.1. Im Kosovo
halten die Spannungen zwischen Albanern und Serben unverändert an; jeder zweite
KFOR-Soldat ist zum Schutz der Minderheit der weniger als 100.000 dort
verbliebenen Serben abgestellt. Diese lebt in ghettoartiger Isolierung, ohne
ausreichende Sicherheit vor albanischen Übergriffen. Eine Chance zum Überleben
und eine Perspektive auf eine gute Zukunft, ohne oder mindestens mit einem drastisch
reduzierten Schutz durch die KFOR, werden die Serben im Kosovo, wenn überhaupt,
nur wieder haben können, wenn die Kosovo-Albaner absolut sicher sein können,
dass eine wie auch immer geartete Rückkehr serbischer Staatsgewalt nicht zu
befürchten ist. Diese Garantie sehen sie nur in der Unabhängigkeit des
Kosovo; diese aber steht im Widerspruch zur UN-Sicherheitsratsresolution
1244 und zur Position des Westens. Dessen tatsächliche Politik eines
eigenen Rechts- und Währungsraums für den Kosovo sowie des Ausschlusses
jeglicher jugoslawischer Staatsgewalt - alles unvermeidliche Maßnahmen - führt
jedoch zu dessen faktischen Unabhängigkeit.
Die für den 17. November im Kosovo vorgesehene
Parlamentswahl wird von den Kosovo-Albanern zu einem Plebiszit für die Unabhängigkeit
gestaltet werden. Danach werden sie demokratisch legitimiert diese Forderung
verstärkt erheben. Das Ausweichen vor der Status-Frage wird somit immer
schwieriger. Es wird auch riskanter, weil es die Entfremdung zwischen der
KFOR und den Albanern und damit die Gefährdung der KFOR-Soldaten mitsamt
den Rückwirkungen auf ihre Heimatländer zu beschleunigen droht. Vom Befreier
und Geburtshelfer der Unabhängigkeit des Kosovo droht die KFOR sich in den
Augen der Albaner zum Besatzer und Verhinderer des nationalen Traums zu
entwickeln.
Der Haupteinwand gegen die Unabhängigkeit des Kosovo
wird in der Gefahr möglicher Auswirkungen auf Mazedonien und Albanien
d.h. der Entstehung eines "Groß-Albaniens“ mit gerade einmal ca. 5,3
Millionen Einwohner gesehen. Richtig ist, dass nach der Lösung der slowenischen
und kroatischen Frage sowie in gewisser Weise auch der serbischen Frage die
"albanische Frage" zur Schlüsselfrage für die weitere Entwicklung der
Region geworden ist. Das zeigt auch der plötzlich mit Gewaltsamkeit
ausgebrochene Konflikt in Mazedonien. Doch fordern weder die Albaner in
Mazedonien, noch die in Albanien und noch jedenfalls bislang die im Kosovo,
einen Zusammenschluss des Kosovo mit Teilen Mazedoniens oder beider mit
Albanien. Die wirtschaftlichen und kulturellen mentalen Unterschiede sind
jedoch erheblich. Aber ausschließen lässt sich eine solche Entwicklung
natürlich nicht - so ehrlich ist auch Präsident Rugova, selbst in öffentlichen
Statements. Sie wird aber durch weiteres Zuwarten nicht verhindert, sondern
eher befördert, denn Nichtstun heißt, dem, was man nicht will, eine Chance zu
geben. Es ist schwer vorstellbar, wie man den Kosovo-Albanern die Unabhängigkeit
verweigern will, nachdem man sie Slowenen und Kroaten hat gewähren müssen. Wenn
man sie gewährt, müsste sie allerdings in den Rahmen einer neu zu
schaffenden, regionalen Strukturreform, welche die möglichen negativen Folgen
auffängt und Stabilität in der gesamten Region befördert, eingebettet werden.
1.2. Die Zeit drängt umso mehr, ein solches
umfassendes Gesamtkonzept für die Region zu entwickeln, als die erwähnte Gefahr
einer Entfremdung zwischen der KFOR und den Kosovo-Albanern durch die positive
Politik des Westens gegenüber dem demokratisch gewandelten Serbien und die erfolgreiche
Zusammenarbeit mit ihm gegen die aufständischen Albaner in der
Ground-Safety-Zone im am Kosovo angrenzenden serbischen Gebiet gefördert wird.
So erfreulich die Entwicklung in Serbien natürlich grundsätzlich ist, so
erschwert sie doch zugleich eine Lösung des Kosovo-Problems, insofern diese gegen
ein demokratisches Serbien nicht möglich erscheint; gegen ein
Milosevic-Serbien wäre sie leichter denkbar gewesen.
Die Annahme der westlichen Staatengemeinschaft, dass ein
Offenhalten des Status-Frage, dass Zeitablauf und eine demokratische
Entwicklung Serbiens helfen würden, das Kosovo-Problem zu lösen, stimmt somit
uneingeschränkt und generell nicht. Der Zeitdruck ist jedenfalls gewachsen -
die Chancen einer einvernehmlichen Lösung aber auch, letzteres allerdings nur
unter der Bedingung, dass eine Lösungsperspektive angeboten wird, die
sowohl für die Kosovo-Albaner wie für Serbien annehmbar ist, die für
Mazedonien eine Lösung des Konfliktes zwischen seiner slawischen und
albanischen Bevölkerung erleichtert und für die ganze Region verheißungsvoll
erscheint. Das scheint wie eine Quadratur des Kreises, ist bei näherem
Hinsehen aber sehr wohl möglich, wenn der Westen seine Denkschablonen ablegt
und ein wenig Phantasie einbringt; denn bei weiten Teilen der neuen serbischen
Führung ist die Einsicht verbreitet, dass Serbien durch Milosevics nationalistischen
Größenwahn den zehnjährigen Krieg verloren, der Kosovo sich für sie vom Traum
zum Alptraum entwickelt hat und Serbien für seine absolut vorrangigen Probleme
auf die Hilfe des Westens angewiesen ist. Jede andere Lösung als die der Unabhängigkeit
des Kosovo wäre tatsächlich eine außerordentliche politische, wirtschaftliche
und mentale Belastung Serbiens. Das aber sehen natürlich noch bei
wietem nicht alle Serben so. Hier schlummert ein gewaltiges Revanche-Potential,
das durch den unzureichenden Schutz für die serbische Minderheit im Kosovo
ständig genährt wird. Ihre Sicherheit würde sich nach Gewährung der
Unabhängigkeit wahrscheinlich verbessern, wenn daneben natürlich besondere
Vorkehrungen getroffen würden. Das Revanche-Potential aber würde nicht
zuletzt dadurch eingedämmt, dass Serbien ein angemessener Platz in der Region
gesichert wird.
Dabei ist von einer Feststellung auszugehen: die militärische
Niederlage Serbiens hat paradoxerweise fast dasselbe zum Ergebnis, welches das
Kriegsziel der serbischen Führung war: alle Serben in einem Staat zu vereinen.
Insofern ist die serbische Frage gelöst. Nur ist dieser Staat nicht
Groß-Serbien, sondern Klein-Serbien. In ihm leben etwa 750.000 serbische
Flüchtlinge vor allem aus der Krajina, aus Bosnien, 230.000 davon allein
aus dem Kosovo. Ihr Anteil an der Bevölkerung beträgt 9-10% und die
Wahrscheinlichkeit, dass sie wieder in ihre Heimat zurückkehren, ist bis auf
eine sehr kleine Zahl äußerst gering, die Gefahr einer Destabilisierung
Serbiens durch ein so gewaltige Zahl von Flüchtlingen dagegen groß. Dem kann
nur durch eine Politik aktiver Integration entgegengewirkt werden. Dazu
muss die Europäische Union Serbien ermutigen, statt auf die jedenfalls in
absehbarer Zukunft unrealistische Rückkehr dieser Flüchtlinge zu setzen.
In Deutschland haben wir die Erfahrung gemacht, dass
Vertriebene und Flüchtlinge sogar ein besonders dynamisches Element beim
Wiederaufbau der Wirtschaft sein können, deren Zustand in Serbien ähnlich
katastrophal ist, wie im Nachkriegsdeutschland. Auch sonst gibt es bei allen
Unterschieden im Einzelnen und in der Dimension durchaus grundlegende Parallelen
zwischen Nachkriegsdeutschland und Nachkriegsserbien. Der Verlust von
Territorien (Kroatien, Bosnien...,noch nicht endgültig im Falle des Kosovo)
als Folge eines in nationalistischer Verblendung verbrecherisch geführten
Krieges und die daraus folgende Notwendigkeit, die eigene Schuld einzusehen
als wichtigste Voraussetzung, eine gute Zukunft gestalten zu können. In dieser
Hinsicht mehren sich ermutigende Anzeichen.
Die wichtigste Lehre aber, welche der Westen aus der
deutschen und europäischen Geschichte nach 1945 für die Behandlung Serbiens
ziehen kann, ist der ungeheure Erfolg der wirtschaftlichen Hilfe der USA für
den Wiederaufbau Europas einschließlich Deutschlands und noch wichtiger, ja
entscheidend, das Angebot der Westmächte, dem ehemaligen Feind einen
gleichrangigen Platz in einer, die Vergangenheit überwindende,
zukunftsträchtigen politischen Ordnung anzubieten: Der europäischen
Integration. Das Erstere, wirtschaftliche Hilfe, leisten Europäische Union und
USA im Falle Serbiens auch schon jetzt. Das Zweite, Serbien eine angemessene,
konkrete politische Perspektive zu bieten, steht noch aus. Das aber ist
entscheidend, wie die Erfahrung zeigt, denn der politische Rahmen entscheidet
auch über die wirtschaftliche Entwicklung. Die Zeit drängt. Die nächsten
Wahlen in Serbien finden in weniger als drei Jahren statt.
1.3. Auch die Lage in Mazedonien zwingt dazu, j e t z t und nicht in ferner
Zukunft eine Vorstellung von der politischen Ordnung auf dem Balkan zu
entwickeln, in deren Rahmen das mazedonische Problem lösbarer wird.
Für eine Bewertung der Vorgänge in der Region muss zunächst
festgehalten werden, dass die Warnungen, die Status-Frage des Kosovo noch nicht
aufzugreifen, weil sonst Unruhen in Mazedonien ausbrächen, sich als eine der
vielen Fehleinschätzungen der internationalen Gemeinschaft erwiesen haben. Die
Unruhen sind ausgebrochen, ohne dass die Status-Frage berührt wurde und
liegen letztlich darin begründet, dass die slawisch-mazedonische (Noch-)
Mehrheit den Staat als den ihren betrachtet und in der albanischen Bevölkerung
eine widerwillig geduldete und gefürchtete (Noch-) Minderheit sieht.
Insofern überrascht der Konflikt nicht. Auch wenn die Mittel der
Aufständischen, und ihre Unterstützung aus dem Kosovo zu verurteilen sind - die
Albaner in Mazedonien bilden ein Viertel, wahrscheinlich schon heute ein
Drittel der Bevölkerung und werden in zwei bis drei Jahrzehnten wahrscheinlich
die Mehrheit bilden. In ihnen eine Minderheit mit minderen Rechten, statt einer
staatstragenden Mit-Nation zu sehen, ist abwegig und nicht haltbar. Dieser Staat
hat nur eine Zukunft, wenn die Noch-Mehrheit zu einer entsprechenden
Verfassungsänderung mit gleichen Rechten für die Albaner bereit ist. Ob die
schwache slawisch-mazedonische Politiker-Klasse dazu bereit und in der Lage
ist, erscheint zweifelhaft.
Für beide Seiten, slawische Makedonen wie makedonische
Albaner, könnte es leichter sein, den gemeinsamen Staat zu akzeptieren, wenn er
in eine regionale Ordnung eingebunden ist, die ihnen so viel Gemeinsamkeiten
wie irgendmöglich mit ihren jeweiligen Verwandten jenseits der Grenzen erlaubt.
Der unerwartet, obwohl vorhersehbar, ausgebrochene Konflikt in Mazedonien muss
ein weiterer Anlass sein, jetzt eine konkrete Vorstellung von einer politischen
Ordnung für die g a n z e Region zu entwickeln. Niemand ist bereit, sich nach
Bosnien und dem Kosovo auch noch in Mazedonien militärisch zu engagieren. Aber
um nicht eines Tages doch noch dazu gezwungen zu werden oder zuzusehen und die
Folgen eines Bürgerkrieges zu tragen, ist es höchste Zeit, die
lobenswerten und richtigen Anstrengungen von Europäischer Union und NATO für
eine innermakedonische Lösung durch eine regionale Konzeption zu ergänzen.
1.4. Auch Bosnien-Herzegowina
hat als gemeinsamer Staat von muslimischen Bosniaken, Serben und Kroaten nur
eine Zukunft, wenn es in einen regionalen Rahmen eingefügt wird, der es
den Serben in der Republika Srpska und den Kroaten in der
kroatisch-muslimischen Föderation erlaubt, die im Daytoner-Vertrag vorgesehenen
"besonderen parallelen Beziehungen" zu Serbien bzw. zu Kroatien mit
Leben zu erfüllen. Diese Bestimmungen, ungewöhnlich wie die ganze Konstruktion
des bosnischen Staates, könnte solcherart ein Vorbild für die ganze Region
bilden, relativiert sie doch die Bedeutung staatlicher Grenzen und erlaubt
es, Gemeinsamkeiten mit der "Mutter-Nation" zu pflegen, ohne ihr
anzugehören. Heute ist Bosnien ein Protektorat der OSZE, deren Vertreter
über die Einführung selbst gemeinsamer Autokennzeichen entscheiden, weil diese
als Symbol der abgelehnten Einheit angesehen werden. Da die politische
Grundordnung von zwei der drei ethnischen Gruppen in Bosnien abgelehnt wird,
gibt es keine selbsttragende politische und deswegen auch keine selbsttragende
wirtschaftliche Entwicklung. Trotz 5 Milliarden Dollar Investitionen der
Staatengemeinschaft in fünf Jahren (laut Weltbank-Bericht), leben die Bosnier
im Wesentlichen von den 400 NGOs im Lande und der SFOR. Letztere ist und
bleibt, wenn keine grundlegend neuen Rahmenbedingungen geschaffen werden für
eine unabsehbar lange Zeit die einzige Garantie für die Existenz des
bosnischen Staates.
2. Die
Zielrichtung des politischen Prozesses bedarf der Klärung grundsätzlicher
Positionen.
2.1. Den betroffenen Bevölkerungen kann keine
Lösung von außen auferlegt werden. Nicht möglich wäre eine Art Wiederholung der
Berliner Konferenz oder der Londoner Botschaftskonferenz. Aber ganz offenkundig
sind die Betroffenen ohne Hilfe von außen unfähig, eine zukunftsweisende Idee
für ihre Region insgesamt zu entwickeln. Zu tief verwurzelt sind Unverständnis,
Misstrauen, ja Hass und Feindschaft. Deswegen muss der Westen, vor allem die Europäische
Union eine konkrete Perspektive entwickeln, die für alle Betroffenen eine
gerechte Lösung ihrer Anliegen und für die Region eine gute Zukunft verspricht.
Sie muss in einem vielseitigen, politischen Prozess vermitteln und sich
dann an der Umsetzung der vereinbarten Lösung politisch und finanziell
beteiligen. Ein Patentrezept gibt es für den Balkan ebenso wenig, wie für
andere politische Konflikte, aber die Kernidee muss einfach und einleuchtend
sein, auch wenn es komplizierter Einzelmaßnahmen und mancher Sonderregelungen
bedarf.
Ein solcher Ansatz bedarf der Einigkeit des Westen und vorab
in der Europäischen Union. Da Deutschland seit Beginn des Konfliktes im
früheren Jugoslawien eine aktive, von seinen Partnern zuweilen als treibend
empfundene Rolle gespielt hat, sollte es jetzt eine ebenso aktive
Rolle bei der Suche nach einer langfristig tragbaren Lösung des Konfliktes
übernehmen.
2.2. Die Fehler und Irrtümer der westlichen
Balkanpolitik beruhen nicht nur auf Unkenntnis, Unfähigkeit und Uneinigkeit,
sondern auch auf einer grundlegend falschen Wahrnehmung der Natur der
dortigen Konflikte, die korrigiert werden muss, will man zu realistischen
Konzepten gelangen.
2.2.1. Nicht alle Menschen, die zur selben Zeit
leben, leben auch i n derselben Zeit. Der Westen aber geht von der
grundlegend irrigen Annahme aus, die Völker auf dem Balkan lebten in der
postnationalen Zeit West-Europas. In Wirklichkeit leben sie in unterschiedlichen
Stadien nationaler Selbstfindung und ihre Prioritäten sind offenkundig andere
als die unsrigen. Diese Ungleichzeitigkeit ist nicht selbstverschuldet, und die
Erinnerung an die eigene Vergangenheit sollte uns vor Überheblichkeit warnen.
2.2.2. Das Bestehende ist nicht identisch mit dem
Stabilen. Eine jede politische Ordnung ist so stabil wie sie auf dem
Einverständnis der Betroffenen beruht. Das war und ist für die heutige
Ordnung auf dem Balkan nicht gegeben. Deswegen ist es trotz der widersprüchlichen
Ziele der Betroffenen besser, nach einer neuen, auf mehr Einverständnis
beruhenden, Ordnung zu suchen, als den aussichtslosen Versuch zu unternehmen,
sich am Status Quo festzuklammern, ihn quasi zu diktieren.
Nicht neue Grenzen an sich sind das Problem, sondern, wenn
sie aus Gewalt erwachsen und wenn sie ab- und ausschließen; nicht kleine
Staaten an sich haben keine Zukunft, sondern nur nicht integrierte. Neue Grenzen hat die internationale Gemeinschaft mit der Anerkennung
Sloweniens, Kroatiens, Bosniens und Mazedoniens bereits anerkannt. Die
Gewährleistung des Selbstbestimmungsrechtes aber vom Status im früheren Jugoslawien abhängig zu machen ist willkürlich
- rechtlich wie politisch.
2.2.3 Niemand kann zu seinem Glück
gezwungen werden. Das multi-ethnische Zusammenleben empfinden die Völker
auf dem Balkan nicht als Glück, eher als Überforderung, wenn nicht
als Zumutung. Man muss dies nicht gutheißen, aber klar ist auch, dass es das
multiethnische Zusammenleben in der vom Westen geträumten Weise weder auf dem
Balkan, noch im Westen je gegeben hat. Der Westen hat die größte
"ethnische Säuberung" auf dem Balkan, die der Kosovo-Albaner,
rückgängig machen können. Alle anderen Vertreibungen und Fluchtbewegungen, einschließlich
der von 100.000 Serben aus dem Kosovo, hat man weder verhindern, noch wird man
sie je rückgängig machen können, von der stillen, schleichenden Separierungen
ganz zu schweigen.
So niederdrückend diese Bilanz ist, sie steht in
Übereinstimmung mit den Erfahrungen der zahllosen Vertreibungen des
vergangenen Jahrhunderts und damit allerdings auch der Erfahrung, dass Trennung
Grundvoraussetzung für Versöhnung ist. Die Realitäten auf dem Balkan zum
Ausgangspunkt für politische Gestaltung zu nehmen, heißt nicht, nachträglich
die Mittel zu legitimieren, mit denen sie geschaffen worden sind, sondern nur
Konsequenzen aus der Einsicht zu ziehen, dass wir zu mehr nicht in der Lage
sind. Und was man nicht kann, das muss man auch nicht.
2.2.4. Sympathie und Antipathie für das ein
oder andere Volk auf dem Balkan sind unangebracht und ein schlechter Ratgeber.
Die Erfahrung zeigt hinlänglich, dass die Bereitschaft zu Gewaltanwendung
keine Frage ethnisch bedingter Veranlagung, sondern der Stärkeverhältnisse ist.
2.2.5. Militärisch gestützte
Protektorate von unabsehbar langer Dauer sind keine Lösung. Sie
"erziehen" zur Unmündigkeit und ziehen die Ablehnung der Betroffenen
auf sich. Jede politische Ordnung ist nur so weit zukunftsfähig, wie sie den
Betroffenen die Chance gibt, eigenverantwortlich zu handeln und sie
gleichzeitig zwingt, mit anderen zu kooperieren.
3. Der Balkan erfordert eine übergreifende
Kooperationsstruktur
3.1. Auch wenn man die Fragmentierungen der
bisherigen politischen Strukturen im früheren Jugoslawien als Folge
verspäteter Nationenbildung und insofern als historisch notwendig und in den
Fällen Slowenien und Kroatien auch als gelungen ansieht, so sind die Gefahren
und Nachteile doch nicht zu übersehen. Gefahren ergeben sich vor allem aus den
nicht oder noch nicht gelungenen und den weiter zu befürchtenden Ergebnissen
des Zerfalls-Prozesses, nicht nur auf dem Gebiet des früheren Jugoslawiens,
sondern auch in seiner Nachbarschaft. Obwohl inzwischen eine weitgehende
Separierung der Ethnien stattgefunden hat und auch in Zukunft zu erwarten ist,
so macht es doch auch ihre jetzige räumliche Verteilung nicht möglich,
staatliche Grenzen exakt entlang dieser ethnischen Grenzen zu ziehen. Es
verbleiben Minderheiten, die es zu schützen gilt und die einen Herd neuer
zwischenstaatlicher Konflikte bilden können, wenn sie sich als Teil einer
benachbarten Mutter-Nation verstehen.
Aus Gründen der Stabilität wie der Überlebensfähigkeit der
entstandenen und wahrscheinlich weiter entstehenden neuen politischen
Strukturen bedarf die Region des Balkan deswegen einer übergreifende
Kooperationsstruktur.
4. Wir schlagen die Bildung einer
Südost-Europäischen Union für den Balkan vor
4.1. Die
Südost-Europäische Union (Südost-EU) soll
- einen Ordnungsrahmen für die
Teilnehmerstaaten bilden;
- die
wirtschaftlichen, politischen und psychologischen Nachteile der fragmentierten,
kleinteiligen Struktur der Region aufheben, indem sie zuständig wird für
alle Fragen
der
regionalen Kooperation und dadurch den Grenzen ihren trennenden Charakter
nimmt und
sie durchlässig macht;
- bestehende
staatliche Strukturen (zum Beispiel Mazedonien und Bosnien) zu er-
halten
helfen und ein Auffangnetz, bzw. einen Stabilitätsrahmen für die Fälle bieten,
dass dies nicht gelingt und die
Fragmentierung fortschreitet oder sich andere
Entwicklungen aus der jetzigen Struktur ergeben;
- den Schutz
der jeweiligen Minderheiten supranational verankern und ihnen helfen,
ihre Rechte durchzusetzen.
4.2. Die Südost-EU soll nach dem Modell der
Europäischen Union im Prinzip wie die EU organisiert sein. Die EU
kann einen ständigen Ko-Vorsitz der Südost-EU stellen, der im Falle einer
Nichteinigung ihrer Mitglieder unter näher zu bestimmenden Voraussetzungen ein
Alleinentscheidungsrecht hat. Die Südost-EU erhält einen eigenen Status
innerhalb der EU.
4.3. Die Südost-EU bildet zunächst eine
Freihandelszone jedoch mit der Zielbestimmung eines Binnenmarktes. Sie ist zuständig
für alle Fragen der wirtschaftlichen Kooperation und für solche der inneren
Sicherheit, die von transnationaler Bedeutung sind (supranational organisiertes
Verbrechen). Sie ist auch zuständig für Fragen der äußeren Sicherheit im
Verhältnis zueinander, d.h. für sicherheitspolitische Vereinbarungen untereinander,
Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie vertrauensbildende Maßnahmen.
4.4. Die Minderheiten erhalten eine
eigene Vertretung in der Südost-EU (Ausschuss). Sie erhalten ein kollektives
und individuelles Klagerecht entweder bei einem bestehenden internationalen
Gericht oder bei einem zu schaffenden Südost-EU-Gerichtshof. Ausgehend von den
einschlägigen Konventionen des Europarates werden ihre Rechte in
den Teilnehmerländern konkretisiert. Minderheiten werden von
Mit-Staatsnationen abgegrenzt. Für die serbische Minderheit im Kosovo und die
dortigen serbischen Kulturgüter bedarf es eines internationalen Schutzes.
4.5. Teilnehmer in der Südost-EU
sind die aus dem früheren Jugoslawien hervorgegangenen Staaten sowie Albanien,
Rumänien und Bulgarien, Ungarn und Griechenland. Die beiden Letztgenannten
sind durch Nachbarschaft und Minderheiten involviert, sie können stabilisierend
und wie Ungarn durch seine Minderheiten-Politik beispielgebend wirken. Eine
individuelle Mitgliedschaft der Teilnehmerländer in der EU ist möglich.
Griechenland ist bereits Mitglied, Ungarn und Slowenien werden bald folgen. Für
die anderen gilt, dass ihre vorherige Mitgliedschaft in der SOEU Bedingung für
eine spätere Mitgliedschaft in der EU ist und diese beschleunigt.
5. Den Stabilitätspakt zur Südost-EU
weiterentwickeln
Es genügt nicht, den Völkern auf dem Balkan einzelne
Projekte der Kooperation - wie im Stabilitätspakt - vorzuschlagen und sie zur
Zusammenarbeit einzuladen, sondern man muss ihr Zusammenwirken organisieren und
institutionalisieren. Es reicht nicht, ihnen eine ferne und vage europäische
Perspektive zu geben, sondern man muss ihnen heutige und konkrete Optionen
geben, die sie in die Lage versetzen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu
nehmen und ihre Zukunft selbst zu gestalten.
Deshalb gilt es nicht nur, die im Rahmen des
Stabilitätspaktes Südosteuropa angekündigten Infrastruktur- und
wirtschaftlichen Projekte schneller als bislang zu realisieren, sondern den Stabilitätspakt
Südosteuropa insgesamt politischer auszurichten, ihn zu institutionalisieren
und zur SOEU weiterzuentwickeln.
Die westliche Politik kann nicht länger warten und sich
gegen Realitäten stellen, sondern muss diese erkennen und anerkennen, um sie
zu überwinden. Mehr als 10 Jahre nach dem Ausbruch des Konfliktes im früheren
Jugoslawien ist das Fehlen eines Gesamtkonzeptes für einen politischen
Prozess zur Befriedung und Stabilisierung der gesamten Region nicht mehr
entschuldbar. Eine zeitnähere politische Lösung des Konfliktes auf dem
Balkan ist möglich und nötig, um die internationale militärische und
zivile Präsenz auf dem Balkan im Westen legitimieren und ihre Akzeptanz bei der
Bevölkerung vor Ort erhalten zu können.