Geisterfahrt?

Ermittlungen in Sachen Günter Sare voller Merkwürdigkeiten

"Ich kann mir keinen Menschen, keinen Polizisten vorstellen, der sozusagen bewusst einen Menschen vor sich herjagt, ihn vorsätzlich überfährt oder das Überfahren auch nur in Kauf nimmt …" formulierte Hessens Innenminister Winterstein (SPD) die offizielle Lesart bereits eine Woche nachdem in Frankfurt Günter Sare von einem Wasserwerfer überrollt worden war. Der 36jährige hatte am 25. September 1985 im Gallusviertel an einer Kundgebung und Blockade gegen eine Veranstaltung der NPD teilgenommen, die in dem überwiegend von Einwanderern bewohnten Stadtteil eine Versammlung durchführte.

Massive Polizeikräfte, zu denen auch Wasserwerfer gehörten, gingen in den Abendstunden dazu über, die Strassen von Gegendemonstranten zu räumen. Im Verlauf dieses Einsatzes geriet Günter Sare unter gezielten Wasserwerferbeschuss, versuchte zu fliehen, stürzte und wurde von einem zweiten Wasserwerfer überfahren.

Die Polizei verweigerte zuerst Demosanis und Ärzten die Hilfeleistung und vertrieb unter Schlagstockeinsatz weitere Hilfswillige. Ein Notarztwagen traf verspätet ein. Kurz darauf starb der Schwerverletzte.

Die Angehörigen Günter Sares, Mutter und Schwester, erhielten erst am folgenden Tag von einem Zivilbeamten mehr nebenbei offiziell Kenntnis vom Tod ihres Sohnes und Bruders. Unter Mühen gelang es ihnen, eine Zweitobduktion der Leiche durchzusetzen und dem Gutachter wurden wochenlang wichtige Untersuchungsergebnisse des hessischen Landeskriminalamtes vorenthalten.

Verschiedene Versionen über die Todesursache wurden umgehend in Umlauf gesetzt: So soll sich auf der Kreuzung, wo der Vorfall stattfand, eine Menschenansammlung befunden haben, die die Polizei attackierte. Dann hiess es, Günter Sare sei von einem Stein am Kopf getroffen worden, gestürzt und dann unter die Räder geraten. Als nächstes wurden Günter Sare ein Stein und später ein Rundholz angedichtet, das er auf den Wasserwerfer geschleudert haben soll. Die Meldungen dienten vor der Öffentlichkeit als Begründung, in den kommenden Tagen jegliche Protestversammlungen in der Frankfurter Innenstadt auseinanderzutreiben-, zeitweilig glich die Mainmetropole einer Polizeifestung.

Fast ein dreiviertel Jahr später legte die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungsergebnisse vor: Danach war die Kreuzung im Gallusviertel hell erleuchtet und übersichtlich, und Günter Sare stand allein dort, als er unter gezielten Beschuss zweier Wasserwerfer geriet. Der Todeswasserwerfer stand nicht unter Bewurf und aus dem Inneren des Fahrzeugs boten sich beste Sichtverhältnisse.

Doch die beschuldigte Wasserwerferbesatzung will Günter Sare nicht gesehen haben, weder vor dem gezielten Wasserstrahl, noch, als der Getroffene zu entkommen versuchte. Alle fünf Besatzungsmitglieder hatten ihr Augenmerk angeblich gleichzeitig in eine andere Blickrichtung gelenkt.

Merkwürdig bleibt auch, dass die Tonaufzeichnungsanlage, die den Funkverkehr mit anderen Einsatzkräften aufnehmen soll, just in diesem Augenblick funktionsuntüchtig gewesen sein soll. Auch Videobilder der Dokumentationstrupps liegen nicht vor. Eine Erklärung steht ebenfalls aus für die Öffnung des Fahrtenschreibers unmittelbar vor und nach dem tödlichen Einsatz. "Dies legt den Verdacht der Beweismittelmanipulation nahe", schreibt Rechtsanwältin Waltraud Verleih, die die Angehörigen Günter Sares in einer Nebenklage vertritt, in einer Presseerklärung. "Nach diesem Ermittlungsergebnis hat das 26 Tonnen schwere Tatwerkzeug eine Geisterfahrt hinter sich gebracht", kommentiert die Anwältin.

Sie hat deshalb unter anderem Beschwerde dagegen eingelegt, dass die Ermittlungen gegen drei der fünf Besatzungsmitglieder des Todesfahrzeuges eingestellt wurden. Auch mit der Einstellung der Anzeige gegen die verantwortliche Frankfurter Polizeiführung will sich Waltraud Verleih nicht abfinden und kündigt an, die Verhandlung für eine umfassende Klärung des Tatgeschehens zu nutzen. Die Staatsanwaltschaft selbst hat lediglich gegen den WaWe- Kommandanten und den Fahrer Anklage erhoben: wegen "fahrlässiger Tötung". Für ein vorsätzliches Handeln gäbe es keine Anhaltspunkte, erklärt die Anklagebehörde, mehr noch, der Vorwurf habe sich als "ausgesprochen absurd" herausgestellt.

Genau das hatte der Innenminister ja auch schon festgestellt.

Foto - gif (59k)

Niemand will ihn gesehen haben: Günter Sare im gezielten Strahl