Selbstschutz und Erste Hilfe bei CN und CS

Praktische Tips gegen gefährliche Kampfstoffe

Brokdorf, Oktober 1976: Autonome vom Hamburger Fischmarkt legen einen Teppich über die Stacheldrahtrollen, der Bauplatz wird besetzt. Vier Stunden später räumen Polizeikräfte mit massivem CN- Einsatz den Platz.
Wackersdorf, Ostern 1986: Bundesdeutsche CS- Premiere, ein Demonstrant stirbt an einem asthmatischen Anfall.
Brokdorf /Wackersdorf, Juni 1986: Vor den Bauplätzen in der Wilstermarsch und in der Oberpfalz verteidigen Polizei und Grenzschutz das Atomprogramm.

Reizstoff, Distanzmittel, Tränengas - das Zeug hat viele Namen. Nur einer ist zutreffend: Kampfstoff. So bezeichnen die Lehrbücher der Militärchemie die Gruppe dieser chemischen Waffen.

In internationalen Konflikten sind CN (Chlorazetophenon) und CS (ortho-Chlorbenzylidenmalondinitril) verboten, zur Bekämpfung der eigenen Bevölkerung aber weltweit in Gebrauch.

Seit 1981 haben die christlich regierten Bundesländer ihre Polizeieinheiten mit CS ausgerüstet. Das bislang gebräuchliche CN bleibt aber ebenfalls Bestandteil der Arsenale. Die bayerische Polizei setzt am Bauzaun in Wackersdorf CN und CS gleichzeitig ein. Auch die schleswig-holsteinische Polizei bevorratet beide Stoffe.

Verschiedene Trägerwaffen bringen die Kampfstoffe bis 120 Meter weit unter's Volk:

Die chemische Keule (chemical mace): 7m. Das "Pepper-fog-Gerät", das CN oder CS mit Nebel kombiniert: 20 m. Eine "Superkeule", die aussieht wie ein Schädlingsbekämpfungsgerät: 25 m. Wurfkörper: 40 m. Als Zusatz in Wasserwerfern: 65 m. Abschiessbare Behälter bis 120 m. Neueste Variante: hüpfende, auseinanderfallende Granaten und Spezialgeschosse mit CN/CS durchschlagen Fenster und Türen und nebeln dahinterliegende Räume ein.

CN und CS wirken beide auf die Haut und die Schleimhäute der Augen und Atemwege. Schon deshalb sind Menschen mit Vorerkrankungen dieser Organe besonders gefährdet: Schon geringste Mengen an Kampfstoff können heftige Reaktionen auslösen.

In der Regel jedoch verschwinden die Beschwerden bereits nach kurzer Zeit. Einfache Massnahmen gewährleisten guten Selbstschutz und rasche Ersthilfe - die Abschreckung lässt sich unterlaufen.

Selbstschutz

Die Augen werden am besten durch eine luftdicht anliegende Gasschutzbrille geschätzt, eine gut abgedichtete Skibrille tut's auch. Für Brillenträger ist nach unserer Erfahrung darunter am ehesten eine kleine Brille mit Sportbügeln und bruchfestem Glas oder eine sog. Gasmaskenbrille zu empfehlen. Kontaktlinsen können leicht mal verrutschen (v. a. beim Augenspülen), ausserdem kann sich unter den Linsen das CN/CS festsetzen und länger wirken.

Die Atemwege lassen sich perfekt mit einer Atemschutzmaske abdecken. Kleine Modelle, wie sie in Autolackierbetrieben gebräuchlich sind, reichen völlig. Als Kombination von Maske und Schutzbrille kommt natürlich auch eine Vollmaske infrage, die jedoch nach kurzer Zeit das Atmen zur Anstrengung macht. Universalfiltereinsätze halten das Aerosol zurück, müssen aber nach der jeweils vorgeschriebenen Stundenanzahl gewechselt werden.

Mundtücher sind ebenfalls nützlich: Sie sollten möglichst feingewebt sein. Ideal ist ein Dreiecktuch aus dem Verbandkasten. Es lässt sich ausserdem auch für die Erste-Hilfe verwenden und schützt das Gesicht vor unerwünschten Blicken. Das Anfeuchten des Tuches bewirkt zwar eine zusätzliche "Verschliessung" des Gewebes, während auf Dauer jedoch das Wasser durch die Körperwärme allmählich verdunstet, sammeln sich die Kampfstoffteilchen an, die Konzentration schaukelt sich hoch. Hier hilft nur Wechseln des Tuches oder mehrmaliges Ausspülen mit Wasser.

Sämtliche Hautpartien lassen sich am besten durch Ölzeug ("Friesennerz") und wasserdichtes festes Schuhwerk schützen .Lederkleidung muss ausreichend gefettet sein, ist aber bei längeren Wasserwerferduschen nicht unbedingt praktisch. Darauf zu achten ist auch, dass der Kragen . möglichst dicht am Hals schliesst, damit nichts vom Wasser- Kampfstoff- Gemisch hineinläuft und sich in der Unterkleidung festsetzt. Dieser feucht-warme Hautkontakt mit CN/CS trägt nämlich besonders leicht zu grossflächigen Reizungen auf der Haut bei.

Wiederholt weisen wir darauf hin, dass weder das Gesicht noch andere Hautpartien mit Creme oder Salbe (Vaseline, Nivea o. ä.) eingeschmiert werden dürfen. CN ist fettlöslich und wird auf diese Weise vermutlich in die Haut eingelagert, zumindest aber auch durch hartnäckigstes Spülen nicht von der Haut entfernt.

Wichtig ist auch eine hitzefeste Bedeckung der Hände, um gegebenenfalls Wurfkörper gefahrlos aus dem Demonstrationsbereich schleudern zu können: Die wirkungsvollste Präventivmedizin! Arbeitshandschuhe kosten nicht viel, und mit ihnen lässt sich ein Wurfkörper bequem an der nicht erhitzten Seite anfassen.

Essig mit Zitrone

In demonstrationserfahrenen Kreisen wird die Anwendung von Zitronensaft propagiert: Auf das Mundtuch oder um die Augen herum geträufelt soll der Saft den Kampfstoff von Atemwegen und Augen fernhalten und wird allgemein als Mittel der Wahl angesehen. Seit Mitte der 70er Jahre geistert dieser Tip in der Szene herum (auch wir haben ihn zeitweilig mit verbreitet), aber leider ist dieser Ratschlag grundfalsch!

  1. Bei Aufenthalt in CN/CS- Schwaden oder nach Treffern angereicherter Strahlen aus Wasserwerfern sammelt sich der Kampfstoff allmählich im Mundtuch an. Der Zitronensaft spielt dabei die Rolle, die eigentlich unerträgliche verseuchte Luft aufzufrischen, ohne sie zu filtern oder gar das CN/CS zu binden. Im Gegenteil: In zitronenfeuchten erfrischenden Tüchern steigt die Konzentration eher noch an, bis dann endlich eine weitaus höhere (und äusserst gefährliche) Erträglichkeitsgrenze als normalerweise erreicht ist.
  2. Als noch weitergehender Tip wird gehandelt, den Zitronensaft entweder um das Auge herum auf die Haut zu verteilen oder nach Treffern direkt ins Auge zu geben. Dieser Ratschlag geht im wahrsten Sinne des Wortes ins Auge: Der Zitronensaft wird so nur zusätzlich ins Auge oder auf die Haut gebracht, ohne dass dadurch auch nur ein CN/CS- Teilchen herausgespült und unschädlich gemacht wird. Also: Zitronen (endlich!) ganz schnell vergessen und nur noch in der Küche verwenden!
  3. Der neueste Geheimtip, zum Spülen der Augen und Haut nach CS- Treffern Essig zu benutzen, ist ebenfalls Blödsinn.

Wasser bleibt nach wie vor das Mittel der Wahl.

Erste Hilfe

Die Palette der körperlichen Folgen nach CN- und CS- Einsätzen ist vielfältig, und jede der möglichen Auswirkungen bedarf einer raschen Erstversorgung - je länger die beiden Kampfstoffe auf den Körper einwirken können desto grösser ist die Gefahr akuter und chronischer Schäden.

Grundsätzlich bestehen bei der Erstversorgung keine Unterschiede zwischen CN- und CS- Schäden, auch wenn einige Fachbücher und Vergiftungsregister anderer Ansicht sind. Deren Therapievorschläge für Augenverletzungen geben häufig Natriumbicarbonatlösung verschiedener Konzentrationen an.

Doch bei sämtlichen Einwirkungen von Chemikalien (Säuren, Laugen, Reizstoff) auf die Augen ist Wasser das richtige und im Notfall auch vorhandene Mittel der Erstversorgung. Allein durch andauerndes Spülen lassen sich die jeweiligen Stoffe verdünnen und herausspülen. Das kann 10 Minuten und länger dauern. Die einzige Erfolgskontrolle ist dabei der (nachlassende) Schmerz: Tritt er nach einiger Zeit wieder auf, so bedeutet das in der Regel, dass noch immer Reste des Kampfstoffes unter dem Augenlid stecken und ein weiteres Mal gespült werden muss. Aus diesem Grund verbieten sich auch schmerzstillende Tropfen, da durch ihre Anwendung evtl. Kampfstoffreste unbemerkt bleiben können. Treten die Schmerzen allerdings erst nach einer Stunde oder noch später wieder auf, so kann dies ein Hinweis auf ein e (beginnende) Bindehautentzündung sein, die ärztlicher Behandlung bedarf und nicht mehr in das Gebiet der Ersten-Hilfe fällt.

Von CN/CS an den Augen Getroffene eigen vier Hauptsymptome: heftige Schmerzen, Tränenfluss, Verkrampfung der Augenlider und Orientierungslosigkeit bzw. Panik. Grundvoraussetzung der Erstversorgung ist also ruhiges aber beherztes Handeln.

Ein simpler Griff reicht

 

Ein simpler Griff reicht: Schau mir in die Augen, Kleiner!

Es sollte möglichst von hinten gespült werden, auf diese Weise kann der Kopf gut an der Schulter der/ des Helfenden gelagert werden. Gespült wird immer von innen nach aussen, damit keine Spülflüssigkeit in das andere Auge rüberläuft. Dazu wird der Kopf nach schräg hinten gehalten (notfalls mit sanftem Druck) und mit eine Spülflasche in das Augen- Nase- Dreieck gespült. Mit den Fingern wird vorher die Haut ober- und unterhalb des Auges auf der knöchernen Begrenzung der Augenhöhle fixiert und auseinandergezogen (siehe Foto). Mit diesem Griff gelingt es immer, die verkrampften Augenlider mindestens einen Spalt weit zu öffnen, so dass bereits der erste Wasserstrahl das Auge durchschwemmt. Innerhalb von Sekunden lässt der Schmerz spürbar nach, weitere Strahlen spülen die Kampfstoffreste heraus.

Bei direkten Hauttreffern oder vollgesogener Kleidung müssen die Kleidungsstücke frühestmöglich ausgezogen werden und die Haut mit reichlich kaltem Wasser abgewaschen bzw. geduscht werden. Warmes Wasser steigert die Hautdurchblutung und öffnet die Poren, es ist also erst angebracht, wenn nach mindestens fünfminütigem Duschen mit kaltem Wasser wirklich kein Kampfstoffrest mehr auf der Haut ist. Zum Abseifen zwischen den beiden Duschgängen sollte eine neutrale Seife benutzt werden. Reizungen der Haut wie Rötungen oder Bläschenbildung gehören zur weiteren Behandlung in eine hautfachärztliche Praxis.

Nach Demonstrationen ist es wichtig, möglichst schnell aus der durchnässten Kleidung zu kommen, sie luftdicht in einer Plastiktüte zu verpacken und sich zwischenzeitlich in eine Wolldecke zu hüllen. Sonst sorgt die Körperwärme dafür, dass ständig kleine Mengen CN/CS aus der Kleidung verdampfen und (gerade in geschlossenen Räumen) ständig eine weitere Kampfstoffaufnahme über die Atemwege bewirken. In geschlossenen Räumen und Fahrzeugen müssen also die Fenster geöffnet werden!

Bei allen Formen der Atembeschwerden, von Kratzen im Hals über Husten bis zur Atemnot und im schwersten Fall einem Lungenödem, lautet die erste Massnahme: frische Luft! Wer irgendeine chronische Erkrankung der Atemwege mit sich herumschleppt, insbesondere Menschen mit chronischer Bronchitis oder Asthma, muss in solch einer Situation auf jeden Fall schleunigst das Feld räumen und abseits des Geschehens mit erhöhtem Oberkörper gelagert werden. Aber auch alle anderen dürfen mit den Auswirkungen nicht spassen: Das Motto "Mit ein bisschen Husten gehe ich noch lange nicht nach Hause!" steht nur Mackern gut zu Gesicht, vernünftig ist es nicht.

"Kotzgas CS"

Bei CS- Einsätzen ist als eine Besonderheit zu beachten, dass sich ein Gefühl des keine-Luft-mehr-Bekommens einstellen kann. Nach den Erfahrungen aus Nordirland, den Niederlanden, der Schweiz und Bayern scheint die Lunge tatsächlich noch ausreichend Atemluft zu bekommen, individuell kann sich allerdings auch eine objektive Atemnot einstellen. Aus Zürich und Wackersdorf wird berichtet, dass teilweise die von CS Getroffenen in den Schwaden zusammenbrachen und schleunigst aus diesem Bereich gebracht werden mussten, um eine weitere Kampfstoffaufnahme zu verhindern. Bei anderen wiederum wirkte sich das subjektive Gefühl der Atemnot als handfeste Panik aus, so dass in diesem Fall beherztes Zupacken und Abschleppen aus dem Kampfstoffnebel angesagt war. Wenn sich keine weitergehenden Symptome einstellen (schwerer Husten, asthmatischer Anfall etc.) verschwindet das Atemnotgefühl in der frischen Luft meist jedoch ziemlich schnell wieder. Totaler Wahnsinn ist es, die Atembeschwerden vorbeugend oder zwischendurch zwecks besseren Aushaltens des Kampfstoffes mit Asthmaspray zu beheben. Lediglich Asthmakranke sollten ihr Spray in der Tasche haben, um aufkommende Atemschwierigkeiten zu beheben. Bewährt hat sich bei akuten Notfällen die Marke Auxiloson; das Dosier-Aerosol sollte jedoch nur von kundiger Hand eingesetzt werden.

Der zweite schwerwiegende Unterschied von CN und CS ist die verschieden stark ausgeprägte Übelkeit infolge ihres Einsatzes. Während nach CN bereits vereinzelt ein Gefühl der Übelkeit beobachtet werden konnte, insbesondere durch heruntergeschlucktes Wasserwerferwasser oder nach direkten Keulen- Treffern in den Mund, können sich nach CS regelrechte Magenkrämpfe einstellen. Daher erhielt der Kampfstoff auch seinen (verharmlosenden) Namen "Kotzgas". Der genaue Wirkungsmechanismus von CS auf die Magenmuskulatur ist nicht bekannt. In der Regel verschwindet aber auch die Übelkeit bereits nach kurzer Zeit wieder. Es sind allerdings Fälle bekannt, in denen es zu länger anhaltender Übelkeit verbunden mit Kotzen und Würgen gekommen ist. In diesem Fall ist vorsichtshalber ebenfalls eine ärztliche Behandlung angesagt. Auf keinen Fall sollte zu einer Selbstbehandlung mit Medikamenten gegen Übelkeit und Erbrechen gegriffen werden. Unterlassen werden muss auch die prophylaktische Einnahme von Reisetabletten vor Demonstrationen - sie mögen zwar die Übelkeit unterbinden, tragen aber ähnlich wie Zitronensaft im Gesichtstuch nur dazu bei, dass bereits eine u.U. hochgefährliche CS- Dosis aufgenommen wurde, ehe der Körpersein Unwohlsein anzeigt.

Die Reaktionen auf Reizkampfstoffe sind von Mensch zu Mensch verschieden - aber schwerwiegende Folgen wie beispielsweise ein Lungenödem können auch noch Tage später entstehen, abgesehen von den Langzeitschäden wie Allergien, Bindehautentzündungen, Hautausschlägen und Atemwegserkrankungen.

Jedes krankhafte Anzeichen, das über die beschriebenen hinausreicht oder länqer als eine Nacht andauert, bedarf einer ärztlichen Behandlung. Die Massnahmen der Ersten-Hilfe können immer nur die akuten Folgen lindern, eine Behandlung ersetzen sie nicht.

An den mitunter hohen Kampfstoffkonzentrationen bei Demonstrationen lässt sich durch diese Ratschläge zur Selbsthilfe natürlich nichts ändern, aber sie tragen zur Selbstsicherheit bei und mildern die Folgen.

CS-Geschoss beim Verlassen des Demonstrationsbereiches

 

CS-Geschoss beim Verlassen des Demonstrationsbereiches: Wirf weg den Scheiss!


Hamburg im Juni 1986

Kontakt: Sanitätergruppe Hamburg

c/o BI Umweltschutz Unterelbe

Weidenstieg 17, 2 HH 20, 040 /40 04 23