land in sicht ordnungswidrige aktionstage 16. bis 22. august 2002 in hamburg

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Erklärung einiger hamburger Frauen zu Sexismusdebatte

17.06.2002 - Anonym

Einleitung

Dieser Text entstand im Rahmen der bundesweiten Vorbereitungstreffen des Hamburger Land-in-Sicht Camps. Wir beziehen uns ausdrücklich nicht auf Vorfälle und daraus resultierende Diskussionen auf dem Frankfurter Grenzcamp oder vorangegangenen Grenzcamps, an dem bzw. denen wir nicht beteiligt waren und über die wir nur gerüchteweise informiert sind. Dieser Text entstand, weil auf dem ersten Vorbereitungstreffen des Hamburger Land-in-Sicht-Camps im Zusammenhang mit einer Diskussion über eine Auseinandersetzung auf dem Frankfurter Grenzcamp zum Thema Sexismus der Satz fiel, es "habe sich nicht um eine Diskussion über Sexismus, sondern um eine über Sexualität gehandelt". Daraufhin verließen zwei anwesende Verterterinnen eines Frauenzusammenhangs das Treffen mit der ausdrücklichen Ansage, dies geschehe auch wegen dieser Aussage. Diese Kritik und der Weggang der Frauen ist auf keinem der nachfolgenden Treffen mehr ein Thema gewesen. Statt dessen wurde weiterhin gefordert, eine Diskussion über Sexismus / Sexualität müsse Teil des Camps sein.

Die fortgesetzte Herstellung dieses Zusammenhangs und damit einhergehend das Desinteresse an der Kritik der beiden Frauen scheint es daher angezeigt sein zu lassen, auf=B4s neue zu erklären, dass eine Diskussion über Sexismus nicht in eine über Sexualität umgedeutet werden darf und dass sexualisierte Gewalt mit Sexualität erst einmal gar nichts zu tun hat. Die Äußerung scheint uns aber darüber hinaus ein weiterer Hinweis auf eine implizite Forderung zu sein, "es müsste eigentlich über Sexualität geredet werden." und, da diese mit einer Debatte in Zusammenhang gebracht wurde, bei der es eigntlich um Sexismus ging, "warum reden wir denn immer über Sexismus statt einfach mal über Sexualität."

Diese Haltung führt zu solch eigenartigen Auswüchsen, wie wir sie im zweiten Abschnitt dokumentieren, dass nämlich bürgerliche Medien Differenzierteres und letztendlich Fortschrittlicheres zum Thema Pornographie zu sagen haben, als linksradikale.

Zwei Zeitungsmeldungen

Hier ein etwas gekürzter Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 24. April:

"Königin widerwillen Zum Tode der Pornodarstellerin Linda "Lovelace" Boreman Eine traurige Pornoqueen muss Linda "Lovelace" Boreman gewesen sein - mit "Deep Throat" wurde sie 1972 der erste Star, den die entsprechende Industrie hervorgebracht hat. Ihre Fangemeinde hat schlecht mit dem leben können, was sie später zu sagen hatte und in ihren Büchern geschrieben hat - über diesen Film, den ihr erster Ehemann Chuck Traynor mit ihr drehte, und über die Porno-Industrie: "Pornographie sei ein Verbrechen ohne Opfer, sagt man... WennSie sich "Deep Throat" ansehen, schauen Sie zu, wie ich vergewaltigt werde. Es ist ein Verbrechen, dass der Film noch immer gezeigt wird, auf meinen Kopf war die ganze Zeit eine Pistole gerichtet."...

Nun die Meldung der sich als linksradikal verstehenden Wochenzeitung Jungle World:

"Endgültig PorNo Spätestens seit Alice Schwarzer wissen wir ja, dass Pornos ganz arg pfui sind. Wegen der Ausbeutung der Frauen und so. Raus aus der Schmuddelecke in den Videotheken ist der Balzfilm ja auch wirklich nie gekommen. Mit einer Ausnahme vielleicht. Der Porno "Deep Throat" von 1972 ist längst Kult und hat die Aufnahme in so manches Programmkino mit Kunstanspruch gefunden. Vor allem weil es darin eine Art Handlung gibt, eine bizarre bis surreale noch dazu. Das Tolle an der Protagonistin des Films, die von Linda "Lovelace" Boreman verkörpert wird, ist außerdem, dass sie ihren G-Punkt nicht dort hat, wo er im allgemeinen zu finden ist, sondern in ihrer Kehle. Was den gemeinen Blowjob um einiges schillernder erscheinen lässt. Boreman, die später zur erbitterten Pornogegnerin wurde, starb in der vergangenen Woche im Alter von 53 Jahren an den Folgen eines Autounfalls."

Das hätte auch die Bildzeitung nicht besser hingekriegt! Herzlichen Glückwunsch an dieser Stelle nach Berlin! Frau könnte noch vieles zu diesem Text anmerken, verkneift es sich aber, denn die beiden Artikel sollen nur exemplarisch zeigen, zu welchen Entgleisungen der Versuch ach so lustvoll und allem Sexuellen aufgeschlossen zu sein, führen kann. Das was die patriarchale Gesellschaft in den meisten Fällen unter befreiter Sexualität versteht, hat nämlich mit Lust so viel zu tun wie der Kapitalismus mit der befreiten Gesellschaft. Ich kann die Rahmenbedingungen nicht ausblenden, die Sexualität definieren und in denen wir alle unsere Sexualität "gelernt" haben. Sonst kommt so eine Unsäglichkeit wie Meldung Nummer zwei dabei heraus.

Sexismus

Sexismus bedeutet für uns, einer Person qua Geschlecht bestimmte Eigenschaften zuzuweisen, die Erwartungshaltung zu hegen, dass die Person sich auch entsprechend dieser Zuweisung verhält und die Nichteinlösung dieser Erwartungen zu sanktionieren. Diese Eigenschaften sind aber nicht immer andere, sondern im Patriarchat ganz klar definiert. Da die Bandbreite jener zugeschriebenen Eigenschaften von der körperlichen Erscheinung über soziale Normen bis hin zur Ebene der subjektiven Gefühle reicht, würde es hier zu weit führen, sie alle aufzuzählen. Wir denken auch, dass diese allen bekannt sein dürften, da dies ja die Realität ist, mit der wir täglich konfrontiert sind.

In vielen "Sexismus-Debatten" wird der Begriff aber für sexuelle Übergriffe, sexualisierte Gewalt oder sogar Vergewaltigung synonym verwendet. Dies führt dann dazu, dass etwas verwirrte Geister glauben, sexualisierte Gewalt habe etwas mit Sexualität zu tun. Sexualisierte Gewalt ist patriarchale Gewalt, die im Gewand der Sexualität daherkommt, da dies der Bereich ist, in dem Menschen logischerweise am verletzlichsten und angreifbarsten sind. Sexualisierte Gewalt hat nichts mit Sexualität zu tun, sondern damit, einen anderen Menschen zu demütigen, ihn sich gefügig zu machen, ihn seines Selbstwertgefühls zu berauben und umgekehrt, sich dadurch aufzuwerten, die eigene Identität dadurch zu stabilisieren und eben auch, gesellschaftliche Machtverhältnisse zu sichern.

Sexualität

Sexualität ist nicht einfach naturhafte und lebendige Energie. Schon mit der in frühester Kindheit beginnenden geschlechtsspezifischen Sozialisierung geht auch eine Prägung der Sexualität auf Geschlechterdualismus und Sexismus einher. Damit ist Sexualität Abbild der gesellschaftlichen Realität von Sexismus und patriarchaler Machtausübung. Sexuelle Befreiung setzt daher gesellschaftliche voraus und ist keine individuelle Entscheidung. Und Sexualität ist nur diskutierbar im gesellschaftlichen Kontext.

Ausklang

Allgemein hat sich in den letzten Jahren in der Linken eine Art schleichender Konsens herausgebildet. Es sei, so scheint die allgemeine Ansicht, in der Vergangenheit ein wirklich emanzipatorischer Umgang mit Sexualität und Lust innerhalb der Linken nicht möglich gewesen, da dieser von zu vielen Tabus und dem ständigen Damoklesschwert des Sexismus-Vorwurfes unmöglich gemacht worden sei. Anders gesagt, die gesamte Linke hätte sich einem ausschweifenden Liebesspiel und der befreitesten Sexualität hingeben können, wären nur nicht die bösen Feministinnen gewesen, die dies mit dem ständigen Hinweis auf Patriarchat und Gewalt zu verhindern gewusst hätten. Dieser Paradigmenwechsel vollzieht sich zeitgleich mit einer rasanten Sexualisierung des öffentlichen Lebens. Die angeblich so lustvoll befreiten Aktivitäten innerhalb der Linken gleichen dabei denen der bürgerlichen Gesellschaft auf geradezu lächerliche Weise.

Uns scheint aber, dass es sich genau umgekehrt verhält. Die Diskussionen über die den Verhaltenscodices und Sexismusdebatten innewohnende "Lustfeindlichkeit" hat weniger den Lustgewinn im Sinn, als vielmehr das schrittweise Entsorgen von erkämpften Freiräumen für Frauen als da wären:

Dabei wird so getan, als sei schon viel zu oft über Sexismus und sexualisierte Gewalt diskutiert und sich auseinandergesetzt worden. Das stimmt nicht. Eine wirklich substanzielle Auseinandersetzung über diese Themen und auch über die damit zusammenhängende Machtfrage ist nicht kontinuierlicher Teil linker Diskussionen. Und solange das nicht so ist, kann auch nicht mal eben in gemischtgeschlechtlichen Zusammenhängen über Sexualität gesprochen werden

Vier Thesen

  1. Sexualisierte Gewalt hat NICHTS mit Sexualität zu tun.
  2. Sexualität hat aber sehr wohl mit Sexismus zu tun
  3. Erkämpfte Tabus und Freiräume, worunter auch ideelle Räume zu verstehen sind, in denen sich Frauen entspannt bewegen können (z. B. die Abwesenheit pornografischer Bilder, das Einfordern eines bestimmte Verhaltens), sind richtig und sinnvoll und haben nichts mit Lustfeindlichkeit zu tun.
  4. In einem gemischtgeschlechtlichen Zusammenhang ist Sexualität (noch?) nicht diskutierbar

Einige Frauen aus Hamburg, Mai 2002