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Ein Beitrag von Dr. Hans Coppi (Historiker und Vorstandsmitglied des VVN/BdA Berlin)
Antifa 60 Jahre Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Die VVN feierte vor wenigen Wochen ihren 60. Geburtstag – und doch sind weit mehr als 60 Jahre Erfahrungen antifaschistischen Kampfes in ihr aufgehoben, die unterschiedlicher kaum sein können: Widerstand und Verfolgung unter den extremen Bedingungen der Naziherrschaft, demokratischer Neubeginn im Kalten Krieg, zivilgesellschaftlicher Protest in der Bundesrepublik, Gestaltung eines neuen Deutschland im Osten samt Fehlern und Versäumnissen und dessen Niedergang – und dann ein weiterer Neubeginn im nun vereinten Deutschland. Der Beginn

»Unsere Organisation muss eine überparteiliche und überkonfessionelle sein, da sie sonst jeden Sinn verlieren würde«, erklärte im November 1946 Karl Raddatz, Leiter des Berliner Ausschusses der Opfer des Faschismus (OdF) vor Verfolgten des Nazi-Regimes in Berlin. Für den Kommunisten und Überlebenden des KZ Sachsenhausen war diese tiefe Überzeugung Resultat bitterer Erfahrungen und Lehre aus zwölf Jahren Nazidiktatur. War es doch weder gelungen, durch ein breites Bündnis den Hitlerfaschismus zu verhindern, noch durch eine geeinte deutsche Widerstandsbewegung das Naziregime aus eigener Kraft zu stürzen. Die oft erst in der Haft entstandene Kameradschaft prägte nach der Befreiung die Zusammengehörigkeit von ehemals Verfolgten, ihren respektvollen Umgang miteinander auch über Partei- und Konfessionsgrenzen hinweg.

Gleichberechtigt arbeiteten sie in den Opfer des Faschismus (OdF)-Ausschüssen, in denen ehedem selbst Verfolgte für Überlebende des NS-Terrors praktische Lebenshilfe organisierten, aber auch politische Forderungen an die Nachkriegsgesellschaft stellten und ihren moralischen Führungsanspruch bei der Gestaltung eines demokratischen Neubeginns formulierten. Doch sie befanden sich in der Minderheit und fürchteten, erneut an den Rand gedrängt zu werden. Scham über die eigene Schuld und Verantwortung, der Wunsch nach Neubeginn um den Preis des Vergessens, die Erfahrungen von Bombardierung und Vertreibung hatten eine tiefe Kluft zwischen den Verfolgten des NS-Regimes und der großen Mehrheit der Bevölkerung geschaffen. Mancherorts wurden die Opfer von einst sogar offen angefeindet, jüdische Geschäfte mit Hakenkreuzen beschmiert, Friedhöfe geschändet, OdF-Denkmäler zerstört.

Die Gründung

Für den Aufbau eines neuen Deutschlands und in den bevorstehenden Auseinandersetzungen der Nachkriegsgesellschaft wollten die Verfolgten des Nazi-Regimes schon bald über eine eigene, vom Behördenapparat der OdF-Ausschüsse unabhängige Organisation verfügen, die ihre Interessen und politischen Forderungen vertreten könnte.

Bereits im Juli 1946 waren in Frankfurt am Main die entscheidenden Weichen gestellt worden. Der Name der künftigen Organisation: »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes « wie auch der Grundsatz der Überparteilichkeit wurden festgeschrieben. In den folgenden Monaten gründeten sich in allen Besatzungszonen Landes-, Kreis- und Ortsverbände der VVN, deren Kernaufgaben sich überall glichen: Aufklärung über die Verbrechen des Faschismus, Würdigung und Dokumentation des Widerstandes, der Kampf für eine Welt ohne Krieg und Faschismus, die Zusammenarbeit aller antifaschistisch-demokratischen Kräfte, der Aufbau eines demokratischen Deutschlands unter Beteiligung der Verfolgten des Naziregimes, die Entfernung aller Nazis aus dem öffentlichen Leben, die Bestrafung aller NS-Verbrecher, Entschädigung aller Opfer des Faschismus, die Zusammenarbeit mit Verfolgtenorganisationen anderer Länder.

Eine Konstitution der VVN auf gesamtdeutscher, interzonaler Ebene scheiterte jedoch an den Westalliierten, die Zusammenschlüsse nur bis zur Landesebene zuließen. Ein Zonenverband konnte allein in der Sowjetischen Besatzungszone gegründet werden. Durfte die VVN formal auch nicht als gesamtdeutsche Organisation auftreten, so arbeitete sie dennoch faktisch seit März 1947 über Zonengrenzen hinweg und damit gesamtdeutsch.

Denn auf der »1. Interzonalen Länderkonferenz der VVN« vom 15. bis 17. März 1947 in Frankfurt/Main wurden mit dem geschäftsführenden Interzonensekretariat und dem interzonalen Beirat Gremien gebildet, welche die Zusammenarbeit der Landesverbände koordinierten und die Organisation als Ganzes nach außen vertraten. Diese Konferenz war es auch, die im März 1947 festlegte, den »Tag der Opfer des Faschismus« jährlich in ganz Deutschland am gleichen Tage zu begehen: am zweiten Sonntag im September. Mit diesem von Überlebenden der Konzentrationslager und Zuchthäuser bereits 1945 begründeten Gedenktag erreichte die VVN in ihrer Gründungsphase eine große öffentliche Ausstrahlung. Hunderttausende beteiligten sich in diesen Jahren deutschlandweit an den Gedenkkundgebungen.

Im Kalten Krieg

Die Auseinandersetzungen des Kalten Krieges wurden schnell auch in die VVN getragen. Gerade auch die ehemals politisch Verfolgten organisierten sich nach der Befreiung in den neu gegründeten Parteien; so dass sich auf VVN-Versammlungen nicht selten parteipolitische Standpunkte gegenüber standen, die sich kaum mehr miteinander verbinden ließen. Dennoch versuchten insbesondere auch Vertreter der Jüdischen Gemeinden die Einheit der VVN zu wahren, da sie hier ihre Interessen am konsequentesten vertreten sahen. Mit der Zuspitzung des Ost-West-Konfliktes gelang dies jedoch immer weniger. Einer derjenigen, die immer wieder versuchten, Gräben zu überschreiten, war Heinz Galinski. Wie groß der Verlust infolge seines Scheiterns war, lässt die anfangs hohe Zahl jüdischer Mitglieder ahnen: In Berlin waren es anfangs mehr als die Hälfte. Viele von ihnen verließen in den Folgejahren die VVN – ebenso wie eine Reihe von sozialdemokratischen, christdemokratischen und christlichen Mitliedern. Sie warfen der VVN Parteigängerei für KPD und SED und Blindheit gegenüber Menschenrechtsverletzungen in der Sowjetunion und der SBZ/DDR vor. Die SPD erklärte im Mai 1948 die Mitgliedschaft in VVN und SPD als unvereinbar. In Abgrenzung zur VVN gründeten sich neue Verfolgtenverbände – so unter anderem der »Bund der Verfolgten des Naziregimes«, die »Arbeitsgemeinschaft verfolgter Sozialdemokraten« und der »Bund für Freiheit und Recht«.

In dem antikommunistischen Klima wurde erheblicher Druck auf die VVN und ihre Mitglieder ausgeübt. All dies stärkte die politisch einseitige Ausrichtung der VVN auf die Politik der SED bzw. KPD. In den 1950er Jahren sollte dies sowohl in West als auch in Ost auf je eigene Weise ihre Existenz in Frage stellen.

Verbote und Öffnung im Westen

In der BRD wurden in den restaurativen 50er Jahren der gesamtdeutsche Rat der VVN sowie einzelne Landesvereinigungen mit der Begründung verboten, die VVN sei eine von KPD und SED gesteuerte »kommunistische Tarnorganisation «. In der Folge wurde ihren Mitgliedern der Status als Verfolgte des Naziregimes aberkannt, Entschädigungszahlungen verweigert, eine Beschäftigung im öffentlichen Dienst untersagt. Gedenkfeiern der VVN wurde die Genehmigung entzogen, die Verbote mit Polizeigewalt selbst gegen Überlebende von Konzentrationslagern durchgesetzt. Ehemals vom NS-Regime Verfolgte fühlten sich in dieser Situation nicht selten von einer »zweiten Verfolgung« bedroht – oft von den selben Richtern, Staatsanwälten und Beamten, die bereits vor 1945 über sie gerichtet hatten. 1959 beantragte die Bundesregierung, die Verfassungswidrigkeit der VVN festzustellen und das Verbotsverfahren einzuleiten. 1962 platzte der Verbotsprozess vor dem 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts wegen der Nazi-Vergangenheit des Senatspräsidenten. Die Verhandlung wurde vertagt, das Verfahren schließlich stillschweigend eingestellt.

Jahrzehntelang jedoch standen die VVN und ihre Landesverbände unter Beobachtung des Verfassungsschutzes. Erstmals 2006 wurde die Bundesorganisation nicht mehr im Verfassungsschutzbericht gelistet. Ihre gesellschaftspolitische Isolation konnte die VVN nur langsam aufbrechen. Oft erst im hohen Alter wurden Überlebende der Konzentrationslager und ehemalige Widerstandskämpfer/innen zu gefragten Zeitzeugen in Schulen und zu Übermittlern historischer Erfahrungen und Lehren – allzu lange noch verwehrte der herrschende Antikommunismus ihnen eine Anerkennung auch in dieser Hinsicht.

In den siebziger Jahren öffnete sich die VVN nun auch jüngeren Mitgliedern und nannte sich nun zusätzlich »Bund der Antifaschisten«. Sie beteiligte sich an zahlreichen außerparlamentarischen Aktionen gegen Neonazismus, wurde aktiv in der Friedensbewegung, in Flüchtlingsorganisationen und Gedenkstätteninitiativen, fand Bündnispartner in Gewerkschaften, Kirchen und Jugendverbänden. Sie ging auf bis dahin kaum anerkannte oder gar ausgeschlossene – euphemistisch als »vergessene« Opfer benannte – Verfolgtengruppen wie die Sinti und Roma, Edelweißpiraten, »Euthanasie«-Opfer und Homosexuelle zu und begann damit, ihre Ausgrenzung zu beenden.

Auflösung im Osten

In der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR leistete die VVN eine umfangreiche Arbeit. Zahlreiche Publikationen im organisationseigenen Verlag, Gedenkveranstaltungen, Radiosendungen und die 1948 eröffnete Ausstellung »Das andere Deutschland « vermittelten ein vielfältiges Bild von Verfolgung und Widerstand und trugen zur geistigen und politischen Auseinandersetzung mit Faschismus, Rassenwahn und Krieg bei. Ansätze einer pluralen Antifaschismuskultur konnten sich in dieser Anfangsphase noch artikulieren. Nach kurzer Zeit jedoch erfolgte eine auch von der VVN mitgetragene Einengung auf den Antifaschismus einer Partei. Der Druck aus den »eigenen Reihen« verstärkte sich. Die SED-Parteikontrollkommission warf der VVN »ideologische Unklarheit, mangelnde Wachsamkeit und sektiererische Enge« vor. Überprüfungen von VVN-Mitgliedern setzten ein, in deren Folge einige die VVN verlassen mussten, andere sogar erneut verfolgt und verhaftet wurden.

Anfang 1953 ordnete die SEDFührung mit der offiziellen Begründung, das Vermächtnis des antifaschistischen Widerstandes sei in der DDR nunmehr erfüllt, die Auflösung der VVN an und brachte damit die eigene Stimme der Opfer des Naziregimes zum Schweigen.

Den Hintergrund bildeten Konflikte innerhalb der Partei- und Staatsführung, zwischen früheren Moskau- Emigranten einerseits und ehemaligen West-Emigranten und Überlebenden der Konzentrationslager und Haftstätten andererseits. Zudem bestanden in der VVN Vorbehalte gegen die gesellschaftliche Integration früherer NSDAP-Mitglieder und Angehöriger der Wehrmacht. Forderungen der VVN nach Entschädigung der jüdischen Opfer und die im Gefolge der Slansky- Prozesse geführte Kampagne der SEDFührung gegen jüdische und andere Mitglieder der VVN sind weitere Gründe. Gegen die quasi über Nacht verfügte Auflösung erhob sich innerhalb der VVN kaum Widerspruch.

Komitees der antifaschistischen Widerstandskämpfer

Unter Anleitung des Zentralkomitees der SED führte nun das neu gegründete »Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer« einige der früheren Aufgaben der VVN mit deutlich eingeschränkten Inhalten fort. Dem Komitee gehörten Lagerarbeitsgemeinschaften an, in denen ehemalige Häftlinge von Konzentrationslagern und Zuchthäusern mitarbeiteten. Sie setzten sich für die Errichtung von großen und kleinen Gedenkstätten an ihren Haftorten ein und übernahmen dort häufig Führungen für Jugendliche. 1974 entstanden dann auch Bezirks- und Kreiskomitees der antifaschistischen Widerstandskämpfer, die den jeweiligen Bezirksund Kreisleitungen der SED zugeordnet waren. Die Komitees unterbreiteten Vorschläge, Gedenkfeiern auszurichten, Gedenktafeln anzubringen und Schulen, Jugendeinrichtungen, Strassen, Plätzen, Bibliotheken, Kasernen, Betrieben, Arbeitskollektive den Namen von ermordeten deutschen und ausländischen Antifaschisten zu verleihen. Verfolgte des Naziregimes vermittelten als Zeitzeugen vor Jugendlichen ein anschauliches Bild ihres Widerstandes. Eine auf diese Weise entstehende, durchaus lebendige Erinnerungskultur wurde jedoch oftmals von Ritualen, Ausgrenzungen und Vereinnahmungen überlagert.

Reload

Im Mai 1990 gründete sich der Bund der Antifaschisten (BdA). Er vollzog einerseits den Bruch mit der Verengung des Antifaschismus in der DDR und versuchte zugleich die Abwicklung des antifaschistischen Erbes der DDR zu verhindern. Zur Wahrung der politischen und materiellen Rechte der NS-Verfolgten in der DDR bildete sich der »Interessenverband ehemaliger Teilnehmer am antifaschistischen Widerstand, Verfolgter des Naziregimes und Hinterbliebener« (IVVdN). Beide Verbände schlossen sich im Jahr 2000 zur VVdN-BdA zusammen. Von der VVN in der Bundesrepublik forderte die politische Wende 1989/90 eine politische und finanzielle Neuorientierung. Sowohl die nun bekannt gewordene, langjährige finanzielle Unterstützung durch die DDR wie auch der Verlust politischer Orientierungen und die Infragestellung einer sozialistischen Utopie brachte die VVN im Westen an den Rand ihrer Existenz, von der sie sich nur langsam erholte. Gleichzeitig entstand in den Jahren nach 1990 eine enge Zusammenarbeit der Antifaschisten in Ost und West. Doch ihr Zusammenschluss zu einer einheitlichen Organisation sollte noch Jahre dauern. Zu verschieden waren die Jahrzehnte alten Erfahrungen aus Ost und West, zu unterschiedlich Praxis und Selbstverständnis antifaschistischer Arbeit. Erst seit dem Zusammenschluss der Ost- und Westverbände im Oktober 2002 arbeitet die VVN-BdA wieder »gesamtdeutsch«. Damit ist sie die größte antifaschistische Organisation in Deutschland, die zudem über einen Erfahrungsschatz verfügt, der viele Jahrzehnte antifaschistischen Handelns unter sehr verschiedenen politischen Rahmenbedingungen umfasst und in dieser Form eine große Besonderheit ist. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist sie heute fester Bestandteil zahlreicher Bündnisse gegen Rechts und ein gefragter Ansprechpartner im Kampf gegen Neofaschismus. Die von ihr im Januar 2007 initiierte Kampagne zum Verbot der NPD haben bis Ende Juli über 100.000 Menschen unterschrieben. Ziel ist, bis zum 9. November 150.000 Unterschriften zu erreichen und diese dann den Abgeordneten des deutschen Bundestages mit der Aufforderung zu übergeben, ein neues Verbotsverfahren gegen die NPD einzuleiten. Weitere Arbeitsfelder sind die Gedenk- und Erinnerungsarbeit, die Arbeit mit Zeitzeugen, aber auch die soziale Betreuung der älteren Mitglieder. Die Erfahrungen der Gründungsmitglieder werden bald an die jüngere Generation weiter gegeben und fließen ein in ein Archiv erzählter und auch manch gemeinsam erlebter Erfahrungen jahrzehntelangen Widerstehens. Sechs Jahrzehnte trotzte die VVN oftmals heftigem Gegenwind. Als überparteiliche und überkonfessionelle Organisation, die das Erinnern an die Verbrechen des Naziregimes und das Vermächtnis des antifaschistischen Widerstandes lebendig hält, die stets wachsam und sensibel für jede Form von Neonazismus, Antisemitismus und Rassismus ist, bleibt sie unverzichtbar.