Über Burschen in den Freikorps im Baltikum 1918-1920

Am 8.11.1918 erstürmen die aufständischen ArbeiterInnen, Matrosen und Soldaten das Winterpalais bei St. Petersburg. Drei Tage später, am 11.11.1918, trat der Waffenstillstand von Compiègne als offizielles Ende des 1.Weltkrieges in Kraft. Im Baltikum sollte nach Ansicht der siegreichen Westmächte die deutsche Besatzung enden und drei baltische Staaten gegründet werden. Formal wurden die Regierungen Estlands, Lettlands und Litauens ausgerufen. Vor Ort übernehmen ArbeiterInnen und Soldatenräte mit Unterstützung der Roten Armee die Macht. Die Rote Armee kämpfte an den Rändern des zu zerfallen drohenden Sowjetreiches gegen die russischen "Weißen" Truppen. Aus Sicht des Obersten Sowjets wurde die Gründung der baltischen Staaten nicht akzeptiert, da der Diktatfrieden mit dem Deutschen Reich von Brest-Litowsk (3.3.1918), der die Abtretung der ehemals baltischen Provinzen Rußlands beinhaltete, durch den Waffenstillstand ebenfalls nichtig wurde.

Im Baltikum hatte die deutsche Besatzung zusammen mit der deutschen Minderheit begonnen, die deutsche Verwaltung einzurichten. Nach 8 Monaten Besatzung, die die deutschbaltischen Hoffnungen zu erfüllen versprachen, entstand im November das Kräftedreieck zwischen bolschewistischen Räten, konservativ-nationalen Regierungen in Estland und Lettland und den Deutschen. Die einzigen bewaffneten Kräfte waren die Rote Armee, die in Kämpfe mit den weißrussischen Truppen in Nordrußland verwickelt waren, die deutschbaltischen "Selbstschutz"-Verbände, Baltische Landeswehr in Lettland und Baltenregiment in Estland sowie die "unorganisierten" deutschen Truppen auf dem Rückzug. Die Baltische Landeswehr stellte Anfang November die einzige kampffähige Einheit in Lettland dar. Die "unorganisierten", "sich auflösenden" deutschen Truppen hätten sich nach dem Waffenstillstand geschlossen nach Ostpreußen zurückziehen müssen, bildeten aber unter Führung einiger Offizier die berüchtigten Freikorps.

Den Ablauf der Freikorps-Kämpfe in Lettland hat Bernhard Sauer zusammenfassend dargestellt. Er berücksichtigt darin das grausame Vorgehen der Baltischen Landeswehr, nicht die Aktionen des Baltenregiments in Estland. Die Deutschen kämpften äußerst brutal gegen die bolschewistischen Truppen. Dazu nur ein Beispiel: Rudolf Höß, Teilnehmer der Kämpfe im Baltikum im Herbst 1919 im Freikorps Roßbach und späterer Kommandant von Auschwitz, schrieb "Die Kämpfe im Baltikum waren von einer Wildheit und Verbissenheit, wie ich sie weder vorher im Weltkrieg noch nachher in all den Freikorpskämpfen erlebt habe. ... Unzählige Male sah ich die grauenhaften Bilder mit den ausgebrannten Hütten und den verkohlten oder angeschmierten Leichen von Frauen und Kindern. Als ich dieses zum ersten Mal sah, war ich wie versteinert. Ich GLAUBTE DAMALS [Herv. d. Verf.], daß es eine Steigerung menschlichen Vernichtungswahns nicht mehr geben kann!" (Kommandant in Auschwitz, Autobiographische Aufzeichnungen von Rudolf Höß. Quellen und Dartellungen zur Zeitgeschichte, Stuttgart 1958, S.34f. nach Sauer, ZfG, S.895)

Aus den deutschen Corps der Hochschulen im Baltikum (Dorpat/Tartu: 7 und Riga: 3) standen die Burschen als erste unter Waffen. Die baltischen Corpsbrüder konnten weder die bolschewistische Besatzung noch eine nationale Regierung der Esten, Letten und Litauer akzeptieren. Sie waren in ihrer jahrhundertealten völkischen Überheblichkeit gegenüber den Bewohnern des Baltikums, die sie mit ökonomischer Dominanz untermauerten, tief getroffen. Gegen die zaristischen und erst recht die bolschewistischen Russen (sowie Esten und Letten) schürten sie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Haß, da sie ihre politisch-ökonomische Dominanz gefährdet sahen. (z.B. durch die russische Sprache an den Universitäten seit Ende der 1880er Jahre).

Ins Baltenregiment trat das ganze aktive Korps der L! Estonia Dorpat (fast 80 Mann) 1918 geschlossen ein. Von der L! Livonia Dorpat fanden sich 63 Mann im Baltenregiment unter Waffen ein. Diese Angaben betreffen nur zwei der sieben Verbindungen der ältesten Universität Dorpat/Tartu in Estland. Die L! Rubonia des Polytechnikums Riga ehrt 5 Korpsmitglieder und mindestens 2 gefallene Söhne von Korpsmitgliedern, die im Baltenregiment dienten.

Der Kommandant des Baltenregiments Oberst Constantin Weiß (1877-1959) wurde als Ehrenphilister XIV in die L! Estonia aufgenommen. Das geschah anläßlich des 20.Jahrestages am 19.11.1938. Weiß war kaiserlich-russischer Oberst, 1918-1920 Oberkommandant des Baltenregiments, danach Oberst der Estnischen Armee und Gutsbesitzer, schließlich floh er 1945 nach Holstein.

Der baltischen Landeswehr gehörten 87 Burschen der Livonia Dorpat an, womit alle aktiven Mitglieder der Livonia in das Baltenregiment oder die Baltischen Landeswehr eingetreten waren.

Dazu kamen 59 der Rubonia Riga und mindestens 2 Söhne von Rubonen, die zwar nicht zum Korps gehörten, aber als Gefallene im Album Rubonorum verherrlicht werden.

Der Anteil der Burschen an der anfangs nur 1000 Mann starken Baltischen Landeswehr dürfte bei weiten die Mehrheit gebildet haben. Dafür sprechen mehrere Tatsachen, 1) die Universität in Dorpat/Tartu war älter als das Polytechnikum Riga, so daß die Verbindungen größer waren und viele Deutschbalten aus lettischen Gebieten dort studierten; 2) nur eine der drei Rigaer Verbindungen wurde berücksichtigt und 3) konnte die deutschen Minderheit durch die ökonomische Dominanz sehr vielen Söhnen die Hochschulbildung finanzieren.

Dafür, daß die Burschen keineswegs hintanstanden, gibt es Belege: Die Rubonen können 2 Träger des "Baltenkreuzes" vorweisen, das von Major Josef Bischoff, dem berüchtigten Führer der "Eisernen Division" verliehen wurde: Heinrich Geist (Rubonia Nr. 264) und Herbert Dumpf (Rubonia Nr. 289). Kurt Siewert (Rubonia Nr. 170) schaffte es bis zum Kommandanten der Artillerie-Abteilung der Baltischen Landeswehr.

Mit dem brutalen Vorgehen der Freikorps im Baltikum und danach ist die L! Rubonia über weitere Stränge verwoben: Max von Scheubner-Richter (Nr.215 der Rubonia) war 1917/18 nach Tropenkriegsdienstunfähigkeit schon zum Leiter der Pressestelle des Armeeoberkommando VIII in Riga aufgestiegen und machte den Vormarsch der deutschen Truppen in Frühjahr 1918 in Estland mit wofür das EK I erhielt. Nachdem August Winnig, der Abgesandte der neuen Regierung, nach Berlin zurückbeordert worden war, versuchte sich Scheubner-Richter als "Vertreter der deutschen Interessen" in Riga Anfang 1919. Er wurde von den Bolschewisten festgenommen und kam nur durch Intervention des Auswärtigen Amtes frei. In derselben Pressestelle diente auch Heinrich Geist (s.o.). Beide haben eine nationalsozialistische Karriere eingeschlagen: Scheubner-Richter "fiel" beim Hitler-Putsch vor der Feldherrenhalle in München am 9.11.1923. Geist kam wohl Ende der 20er Jahre nach Deutschland und stieg in den 30er bis zum SA-Obersturmführer und Schriftleiter der Zeitschrift "Die SA" auf. Nach weiterer militärischer Ausbildung diente er in der SS-Standarte "Feldherrenhalle" bis zur Befreiung. Die lückenhaften biografischen Angaben geben an, daß Geist nach 1945 über 15 Jahre Vertrauensmann des Volksbundes deutscher Kriegsgräberfürsorge war und 1946 dessen goldene Ehrennadel erhielt.

Literatur

Sauer, Bernhard: Vom "Mythos des ewigen Soldatentums". Der Feldzug deutscher Freikorps im Baltikum im Jahre 1919. In: ZFG 43 (1995), S.869-902

Lenz, Wilhelm: Deutsche Machtpolitik in Estland im Jahre 1919. In: ZFO 1987, S.523-576 [Wilhelm Lenz *1939 s.u.]

von Rimscha, Hans (Baltische Gesellschaft): Baltisches Burschentum. Heidelberg 1968 [Hans v.Rimscha, Mitglied der Fraternitas Rigensis]

Philisterverband der Rubonia, Hg.: Album Rubonorum 1875-1972, bearb. von Woldemar Helb, o.O. 1972 [Woldemar Helb kämpfte nach eigenen Angaben ab November 1918 bis Oktober 1919 in der Begleitbatterie des Stoßtrupps der Baltischen Landeswehr, von Oktober 1919-1920 in der Kavallerie-Abteilung v. z. Mühlen, ehem. Schwadron Drachenfels, war 1940-45 Betriebsleiter der Wasserwerke des nazibesetzten Posen, ab Januar 1945 Verantwortlicher der Wasserversorgung der Nazi-"Festung Posen"]

Philisterverband der Estonia, Hg.: Estonia gegründet am 7.September 1821 zu Dorpat. Gedenkschrift zu ihrem 150.Stiftungstag. Marburg 1971.

Philisterverein der Livonia (hg. v. Kroeger, Gert; Lenz, Wilhelm; v.Wahl, Dietrich): Beiträge zur Erinnerung an die Livonia Dorpati 1822-1962. Hamburg 1963

Philisterverein der Livonia (hg. v. Lenz, Wilhelm): Album Livonorum. Lübeck 1972. [Wilhelm Lenz *1906 ist Mitglied der Livonia Nr. 1393, war Abt. Leiter bei der Volksdeutschen Mittelstelle im ns-besetzten Posen, in der NS-Besatzungsverwaltung in Riga und in der BRD Mitglied der Baltischen Historischen Kommission und der Historischen Kommission für Niedersachsen. Stand 1972. Sein Sohn Wilhelm Lenz *1939 ist Mitglied der Corona Dorpatensis Nr. 55, Dr. phil. und Archivrat. Die Zuordnung ist nicht eindeutig]