Der Genozid von Dersim 1937–38 und die Aleviten-Konferenz

Aufklärung über das Massaker von Dersim gefordert

Erdal Er

Am 19. November 2009 fand im Europäischen Parlament eine Konferenz unter dem Motto „Dersim 1937–38, die Aleviten, die Rolle des Staates“ statt, die sich mit dem Genozid an den Aleviten und den Menschen aus Dersim 1937–38 beschäftigte. Organisiert von der Fraktion DIE LINKE im Europa-Parlament, „Dersim Yeniden İnşa Derneği“(Verein zum Wiederaufbau von Dersim) und die Föderation der demokratischen Aleviten. Nach 71 Jahren ist das Trauma noch immer in der Gesellschaft präsent: mehr als 90 000 Tote, Zehntausende Invaliden und Kinder, die als „Kriegstrophäen“ entführt und in Kasernen gebracht wurden. Und es wird immer noch weiter gemordet ...
Wir wissen weder die genaue Zahl der Toten noch wo ihre Gräber sind. Das im Jahre 1938 von der Welt im Stich gelassene Dersim will nun kein Mitleid, sondern Gerechtigkeit.

Zwischen 1914 und 1945 erlebte die Menschheit einen dunklen Abschnitt ihrer Geschichte. Ereignisse, welche sich in dieser Zeitspanne abgespielt haben, sind noch immer in unserem Gedächtnis, und das Trauma ist noch immer nicht überwunden. Das Nazi-Regime, Verursacher des Zweiten Weltkriegs, versetzte die gesamte Welt in Schrecken. Dieser Krieg hat vieles zerstört. Millionen Menschen verloren ihr Leben, und die Nazis haben Wunden, die nur schwer zu heilen sind, hinterlassen.
Um diese Wunden heilen zu können, wurden die Opfer nicht vergessen, und die Täter wurden mit ihrer Geschichte konfrontiert. Neben dem Zweiten Weltkrieg hat es auch in vielen anderen Gebieten Völkermorde gegeben, jedoch haben sich fast alle betroffenen Gesellschaften und Staaten mit ihrer Geschichte konfrontiert. Es wird an diese Völkermorde erinnert, es wird an die Opfer erinnert, Staaten haben sich gegenseitig entschuldigt, es wurden Entschädigungen geleistet und Denkmäler für die Opfer errichtet. Es wurden Filme gedreht und Bücher geschrieben.

Auch wenn es eine Ausnahme ist, man wollte den Genozid von Dersim 1938 in Vergessenheit geraten lassen. Dieser Völkermord sollte im Schatten des Zweiten Weltkrieges vergessen werden. Auch nach 71 Jahren will man sich daran nicht erinnern. Nicht nur die Welt hat den Völkermord in Dersim vergessen, auch manche Menschen aus Dersim selbst haben ihn vergessen, und das schmerzt am meisten.
Noch immer reden die Kurden aus Dersim nur untereinander über diesen Völkermord. Sie trauern noch immer um die Toten. Jedoch wollten sie dieses Verbrechen eigentlich vergessen. Auch wenn die Täter es vergessen lassen wollen und die Opfer es hingenommen haben, nun tragen die Enkelkinder der Opfer diesen Genozid auf die internationale Bühne.
Deswegen wurde, wie auch vergangenes Jahr, der Dersim-Genozid im Europäischen Parlament im Rahmen einer Konferenz unter dem Motto „Dersim 1937–38, die Aleviten, die Rolle des Staates“ behandelt. Sie fand zu einer Zeit statt, in welcher der Dersim-Genozid in den Medien präsent ist. Onur Öymen, Abgeordneter und wichtiger Funktionär der CHP, schlug am 10. November im türkischen Parlament „Dersim 38“ als Lösungsmodell für die kurdische Frage vor und musste daraufhin Kritik aus der Bevölkerung hinnehmen.

Verschiedene RednerInnen aus der Türkei und aus Europa waren geladen, die über fundierte Kenntnisse zum Thema verfügten. Es ist sehr wichtig, dass Kurdinnen und Kurden ihre leidvolle Geschichte auf internationaler Ebene diskutieren können. Natürlich kann man diese Geschichte nicht mit einer Konferenz völlig durchleuchten und alles aufklären. Noch immer wird die bloße Existenz der Kurden in der Türkei als „Problem“ angesehen und sie werden mit allen Mitteln bekämpft.
Es ist aber nicht möglich, eine friedvolle Zukunft zu schaffen, ohne sich mit der Vergangenheit auseinandergesetzt zu haben und ihr ins Gesicht zu sehen. Die Frage, die beantwortet werden muss, ist also: Was geschah wirklich in Dersim im Jahre 1938?
Dabei handelt es sich um einen Völkermord, der vom türkischen Staat geplant und auch durchgeführt wurde. Viele Opfer und Zeitzeugen, das im Jahre 1935 erlassene „Tunceli Kanunu“ (Dersim-Gesetz), die Militärakten und der Parlamentsbeschluss vom 4. Mai 1937 sind Beweis genug, um dies zu belegen. Wenn all dies zutrifft, sollten wir uns mit der Definition des „Genozids“ näher beschäftigen. Die Vereinten Nationen erkannten diesen im Jahre 1948 in ihrer „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ als ein Verbrechen gemäß internationalem Recht an.
Auf der Grundlage dieser Konvention wurde definiert, dass eine Handlung mit der Absicht, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“, als Völkermord bezeichnet wird:

1. Mitglieder der Gruppe werden getötet;
2. Mitgliedern der Gruppe werden schwere körperliche oder seelische Schäden zugefügt;
3. der Gruppe werden Lebensbedingungen auferlegt, die geeignet sind, deren körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;
4. Maßnahmen zur Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe werden ergriffen;
5. Kinder der Gruppe werden gewaltsam in eine andere Gruppe überführt.

Noch viel mehr als diese in den fünf Punkten der UN-Konvention genannten Verbrechen wurden in Dersim verübt. Der kulturelle Genozid ist ein weiterer Aspekt dieser Sache. Da ein Genozid nicht nur die physische Ausschaltung aller Individuen einer Gesellschaft bedeutet, ist also auch das, was in Dersim gemacht wurde, als Genozid einzustufen. Gab es in Dersim politische und soziale Verbote? Gab es nationale, kulturelle und religiöse Zerstörungen? Wurden die Dörfer zerstört und abgebrannt, die Namen aller Ortschaften verändert und die Menschen in den Sammellagern in Massen getötet? Wurden die Menschen zum Exil gezwungen? Geschah das alles oder nicht?
Wurden alle möglichen Arten der Assimilation dort angewandt? Da all dies nachweisbar ist, ist es die Aufgabe der Türkei, sich mit Dersim 1938 zu konfrontieren und dem ins Gesicht zu sehen. Sie muss sich ihrer eigenen Geschichte stellen und die Opfer entschädigen. Denn das Gedächtnis der Opfer lebt und sie verlangen nach Rechenschaft. Schließlich wurde der Genozid vom Staat aus geplant und durchgeführt. Da dies ein Verbrechen war, muss die Türkei dafür Rechenschaft ablegen.
All dieses und sehr viel mehr wurde auf der Konferenz besprochen. Ihre Schlussresolution formulierte konkret wichtige Forderungen. In der Zusammenfassung:
1.) Der türkische Staat muss sich mit der eigenen Geschichte konfrontieren und dem ins Gesicht sehen. Deswegen ist es nötig, alle bisher geheim gehaltenen Archive der Öffentlichkeit freizugeben. Alle Opfer dieses Genozids sind auf der Grundlage ihrer internationalen Rechte zu entschädigen.
2.) Am 17. November 1937 wurden in Elazığ Seyid Riza, sein Sohn und viele andere Menschen aus Dersim erhängt, ihre Gräber sind unbekannt. Es muss geklärt werden, was mit ihren Leichnamen passiert ist. Den Angehörigen muss Auskunft über ihren Verbleib gegeben werden.
3.) Während des Genozids wurden kleine Kinder von Soldaten mitgenommen. Von diesen Kindern fehlt seitdem jede Spur. Es muss aufgeklärt werden, was mit ihnen geschah und wo sie sich heute befinden.
4.) Alle Unterlagen zum Genozid von Dersim, die sich in der Hand des türkischen Staates, der EU-Staaten, der USA und der Russländischen Föderation befinden, müssen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Die EU sollte zu einer Lösung beitragen.
5.) Die Sozialistische Internationale muss die Mitgliedschaft der CHP sofort beenden, weil diese der Türkei offiziell den Vorschlag unterbreitete, die Kurden einem Genozid wie in Dersim auszusetzen.
6.) Sofortiger Stopp und Rücknahme aller Pläne und Bauarbeiten für die in der Region Dersim geplanten Staudämme, welche die Zwangsumsiedlung für die Menschen dort bedeuten. Der Name „Dersim“ muss anerkannt werden.
7.) Die „cemevleri“, in denen die Aleviten ihre Gottesdienste und Andachten abhalten, müssen staatlicherseits unter rechtlichen Schutz genommen und den Moscheen und Kirchen gleichgestellt werden. Religion muss als Zwangsunterrichtsfach abgeschafft werden.
8.) Das „Präsidium für Religionsangelegenheiten“ in der Türkei muss abgeschafft werden. Außerdem muss vom Moschee-Bau in alevitischen Dörfern abgesehen werden. Die Assimilationspolitik, der Aleviten ausgesetzt sind, muss ebenfalls beendet werden.
9.) Das 1993 in Sivas in Brand gesetzte Hotel Madimak, in dem 33 Intellektuelle und Künstler verbrannten, muss zu einem Museum gemacht werden.
10.) Das Projekt der „demokratischen Öffnung“ darf nicht zu einem Spiel des türkischen Staates verkommen. Die Lösung der kurdischen Frage darf nicht hinausgezögert werden. Die wichtigste Veränderung in diesem Sinne wäre eine Änderung der Verfassung von 1982. Darin sollte eine multiethnische, multikulturelle und multireligiöse Türkei gesetzlich verankert werden. Eine dauerhafte und demokratische Lösung der kurdischen Frage ist nur auf diese Weise möglich.