Kongress
für eine demokratische Gesellschaft (DTK):
PDF-Datei
Vorlage eines Modellentwurfs für ein Demokratisches Autonomes
Kurdistan
Beim
DTK handelt es sich um eine Demokratieplattform mit über 800 Delegierten,
die sich durch die Teilhabe hunderter ethnischer, politischer und religiöser
Gruppen in der Türkei nach dem Vorbild des Afrikanischen Nationalkongresses
(ANC) zusammensetzt. Der DTK hat unter Berücksichtigung internationaler
Erfahrungen 2007 mit der Losung „Demokratische Türkei und autonomes
Kurdistan“ Diskussionen geführt und als Ergebnis der Diskussionen hat
der DTK seit Dezember 2010 eine Vorlage eines Modellentwurfs für ein
„Demokratisches Autonomes Kurdistan“ der Öffentlichkeit erörtert.
Das Projekt der Demokratischen Autonomie, welches durch die Studien
der kurdischen Führungspersönlichkeit Abdullah Öcalan auf die Agenda
gekommen ist, gewinnt immer mehr an Bedeutung. Öcalan nannte das Konzept
der Demokratischen Autonomie das Lösungsprojekt des kurdischen Volkes.
Das Lösungsmodell, die sogenannte Demokratische Autonomie, beruht auf
dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und wurde bereits durch die im
Parlament vertretene Partei für Frieden und Demokratie BDP der kurdischen
Bevölkerung präsentiert und erfuhr großen Zuspruch. Kernelement des
Modells soll eine neue Verfassung sein, die dem kurdischen Volk und
anderen ethnischen Minderheiten die gleichen Lebensrechte, den gleichen
politischen Status und die gleichen ökonomischen, sozialen und kulturellen
Möglichkeiten wie dem türkischen Volk einräumt. Die bestehenden Staatsgrenzen
werden anerkannt und sollen somit unberührt bleiben, so dass im Rahmen
des demokratischen Konföderalismus die Regionalverwaltung Beziehungen
und Kooperationen unabhängig von der Zentralmacht zu den Kurden in Syrien,
Irak und Iran aufbauen kann.
1-
Kurze Vorgeschichte
Bekanntlich sind die Kurden, die zu den ältesten Völkern Mesopotamiens
gehören, wo die neolithische landwirtschaftliche Revolution in der Morgendämmerung
der Menschheitsgeschichte stattgefunden hat, als Resultat einer Politik
der Ignoranz und der Vernichtung mit der Gefahr eines Genozids konfrontiert.
Aus nationalstaatlicher Sicht wird Kurdistan als Ausdehnungsgebiet für
die eigene ethnische Nation der Besatzungsmächte betrachtet; dementsprechend
werden Methoden der Unterdrückung, des Missbrauchs und der Assimilation
eingesetzt. Wenn es den kurdischen Widerstand gegen dieses unmenschliche
Ziel nicht geben würde, stünde diese Kultur, die mit einer Stammzelle
der Menschheit vergleichbar ist, vor der Auslöschung.
Als die ersten vom Staatsgedanken geprägten Zivilisationen und Imperien
in Niedermesopotamien entstanden, richteten sie ihr Augenmerk auf Kurdistan.
Aus diesem Grund gehören die Kurden historisch zu den Völkern, die traditionell
einen Befreiungskampf führten. Der ständige Druck von Staaten und Imperien
führte einerseits dazu, dass das kurdische Volk sich in Form von Stammeskonföderationen
verteidigte; auf der anderen Seite entstand innerhalb der dadurch erstarkenden
Strukturen eine Kultur der gegenseitigen Anerkennung und des Zusammenlebens
mit den Nachbarvölkern. Auch innerhalb staatlicher Strukturen gelang
es den Kurden auf gewissem Niveau, ihre Autonomie zu wahren und ihre
Existenz zu erhalten.
Nachdem die nationalstaatliche Mentalität der kapitalistischen Moderne
und der Nationalismus als ihre Ideologie ihren Einzug in den Mittleren
Osten gehalten hatten, entstanden für die Völker dort schwerwiegende
politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Problemfelder. Wie
auch weltweit wurden Völker, die mit dem pathologischen Nationalismus
in Berührung kamen, zu Feinden anderer Völker gemacht. Nationalstaaten
starteten einen systematischen Angriff bestehend aus Verleugnung, Vernichtung
und Assimilation auf die Kulturen anderer Völker. So stehen die Kurden
kurz davor, ihre vorkapitalistische Autonomie zu verlieren.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfolgten die herrschenden türkischen,
arabischen und persischen Eliten, die für eine nationalstaatszentrierte
Denkweise standen und sich aus der destruktiven Energie des Nationalismus
formierten, mit Unterstützung der unter ihrem Einfluss stehenden Gesellschaften
eine systematische Politik der kulturellen und physischen Vernichtung
gegen die Kurden. Aus diesem Grund waren die Kurden der Unterdrückung
unter den türkischen, arabischen und persischen Nationalstaaten ausgesetzt.
Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts bestand die Gefahr des kompletten
Verlusts ihrer kulturellen Existenz, insbesondere in Nordkurdistan als
Resultat der ignoranten Politik der Türkei.
Die seit Beginn des 20. Jahrhunderts herrschende jungtürkische Politik
der „Gesellschaft für Einheit und Fortschritt“, aus den übrig gebliebenen
Territorien des Osmanischen Reiches einen Nationalstaat zu schaffen,
führte zu großem Leid der anderen Völker und wurde in den kurdisch-türkischen
Beziehungen zur ideologischen und politischen Grundlage des Beginns
eines Vernichtungsprozesses. Mustafa Kemal hielt angesichts des Zusammenbruchs
des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg und der Gefahr, in der sich
die türkische nationale Existenz damit befand, ein Bündnis entsprechend
historischen Traditionen insbesondere mit den Kurden für äußerst wichtig.
Auf dieser Grundlage gewann die Türkei den Befreiungskampf; die Republik
Türkei wurde basierend auf den kurdisch-türkischen Beziehungen gegründet,
was ein weiteres Mal die große Bedeutung dieses Verhältnisses offenbarte.
In jenen Jahren dachte Mustafa Kemal in Bezug auf Kurdistan an einen
Autonomiestatus und im Februar 1922 traf das erste Parlament einen entsprechenden
Beschluss. Obwohl auch die Kurden großen Schaden durch die Politik in
der letzten Phase des Osmanischen Reiches erlitten hatten, zogen sie
es anders als die Araber und andere Völker vor, sich nicht abzutrennen,
sondern in einem bestimmten Ausmaß unter Wahrung ihrer Autonomie gemeinsam
mit den Türken, die auch der gleichen Religion angehören, im selben
Staat zu leben.
2-
Notwendigkeiten der aktuellen Situation und generelle Grundsätze der
demokratischen Autonomie
Allen negativen Fakten zum Trotz ist heute die internationale und regionale
politische Lage für eine Lösung der kurdischen Frage günstig. Auch die
in der Gesellschaft der Türkei entstandene positive Tendenz zu einer
Lösung der kurdischen Frage birgt ausreichend Möglichkeiten. Der türkische
Staat kann seine gewohnte Politik nicht fortsetzen; gleichzeitig verweigert
sich das kurdische Volk einer Fortsetzung des Lebens unter dem alten
Status.
Bei der demokratischen Autonomie handelt es sich um den konkreten Ausdruck
unseres Vorschlags für ein Lösungsprojekt auf der Grundlage einer Umwandlung
der Türkei in eine demokratische Republik. Wir wollen auf der einen
Seite die demokratische Autonomie basierend auf einem Dialog mit dem
Staat verwirklichen und wir wollen sie auf der anderen Seite basierend
auf einer demokratischen Organisierung und dem entsprechenden Kampf
unseres Volkes parallel dazu aufbauen.
Dieses Modell ist das richtige Lösungsmodell für nationale Fragen gegen
eine Denkweise, die aufgrund ihres kontinuierlich Konflikte und Instabilität
erzeugenden Charakters die verschiedenen Gemeinschaften voneinander
trennt. Heutzutage verwandeln sich Nationalstaaten, die verschiedene
Gemeinschaften umfassen, in relativ demokratische politische Systeme,
in denen diese verschiedenen ethnischen und religiösen Gemeinschaften
auf der Grundlage ihrer jeweiligen Autonomie zusammen leben. Die Existenz
einer Mehrheitsgesellschaft auf der Basis einer Akzeptanz der Besonderheit
und Autonomie der Unterschiedlichkeiten entspricht der demokratischen
Tendenz unseres Zeitalters.
Eine demokratische Autonomie kann nicht nur die Beziehungen zwischen
der Türkei und den Kurden maßgeblich verbessern und die kurdische Frage
lösen, sondern auch eine radikal-demokratische politische Struktur für
die Türkei schaffen, mit der dort weitere gesellschaftliche Probleme
gelöst werden können. Da die demokratische Autonomie auf einer organisierten
demokratischen Gesellschaft beruht, die auf freiheitlich-kommunale Werte
setzt, wird damit die Lösung aller Probleme einschließlich ökonomischer
Fragen angestrebt.
Inner- und außerhalb der Türkei befürworten viele Kreise eine Lösung
der kurdischen Frage. Da jedoch die Oligarchie politischer Parteien
in unserem Land nicht für die Türkei, sondern für ihre Eigeninteressen
Politik macht, verweigert sie sich einer Lösung, vertieft die Ausweglosigkeit
und fügt dem kurdischen Volk weiteres Leid zu.
In dieser Situation bleibt dem kurdischen Volk keine andere Alternative,
als das eigene demokratische freiheitliche Leben in legitimer Form selbst
zu gründen. Demokratische Autonomie ist Ausdruck dafür, dass das kurdische
Volk nicht mehr ohne einen verbindlichen Status unter einer Regierung
leben will, die in der aktuellen Situation seine Existenz bedroht. Weltweit
gibt es kein weiteres über vierzig Millionen Menschen zählendes Volk,
dessen Rechte jedoch komplett ignoriert werden. Demokratische Autonomie
bedeutet die Ablehnung des politischen Status, den der türkische Staat
den Kurden auf der Basis einer Politik von Verleugnung und Vernichtung
zugedacht hat, und die Annahme eines neuen Status, der auf Freiheit
und Demokratie setzt.
Demokratische Autonomie hat das Ziel, ein demokratisches autonomes Kurdistan
aufzubauen, indem die Gesellschaft sich in acht verschiedenen Dimensionen
(Politik, Recht, Selbstverteidigung, Soziales, Wirtschaft, Kultur, Ökologie,
Diplomatie) organisiert und einen politischen Willen herausbildet.
Ohne eine demokratische Autonomie können die Kurden als Gesellschaft
nicht einen demokratischen politischen Willen formulieren. Somit kann
weder die Stärke der Gesellschaft zum Vorschein treten, noch können
ihre wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse befriedigt
werden. Die kurdische Bevölkerung hat das von DTK (Kongress für eine
demokratische Gesellschaft) und BDP (Partei für Frieden und Demokratie)
vorgelegte Lösungsmodell mit großer Begeisterung angenommen.
Demokratische Autonomie strebt an, die Republik zu demokratisieren,
indem die starre Nationalstaatsmentalität, die auch für die Gesamtgesellschaft
der Türkei zu einer Last geworden ist, verändert wird, bis sie kein
Hindernis mehr für die politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle
Entwicklung der Völker darstellt. Somit ist die demokratische Autonomie
verlängerter Ausdruck der demokratischen Republik Türkei in Kurdistan.
Die Gesellschaft Kurdistans ist bereits heute zur größten Demokratisierungskraft
nicht nur der Türkei, sondern aller Länder in der Region geworden. Durch
den Befreiungskampf Kurdistans und die in der Gesellschaft Kurdistans
verwirklichte demokratische, soziale und kulturelle Revolution ist in
der Türkei und im gesamten Mittleren Osten eine Kraft entstanden. Der
Aufbau einer demokratischen Autonomie wird somit auch eine Demokratisierung
der Region mit sich bringen.
Gleichzeitig wird der Staat Türkei mit dem Wunsch seiner Gesamtgesellschaft
nach Demokratisierung und einer Lösung der kurdischen Frage sowie die
durch die regionale und internationale Lage erforderte Notwendigkeit
einer Demokratisierung konfrontiert. Bis heute hatten alle Verfassungen
und Gesetze der Türkei sowie ihre Umsetzung in Kurdistan einen ignoranten
Rechtscharakter, der für das kurdische Volk keine Legitimität vorsah.
Aus diesem Grund haben die angewandte Politik und der gesamte politische,
administrative und juristische Bereich in Kurdistan einen antidemokratischen
Charakter, der aus kurdischer Sicht umgewandelt werden muss.
Die demokratische Autonomie sieht keine Veränderung der Staatsgrenzen
vor, sondern gewährleistet die Geschwisterlichkeit und Einheit der Völker,
die innerhalb dieser Grenzen leben. Somit wird die in der Türkei entstehende
Gegnerschaft zwischen den Völkern gestoppt und mit einer neuen Vereinbarung
zwischen dem kurdischen Volk und der Türkei ein neues Kapitel in den
türkisch-kurdischen Beziehungen aufgeschlagen. Unser Modell ist ein
Demokratisierungsmodell, das in allen anderen Regionen der Türkei Anwendung
finden kann. Auch weltweit ändern andere Staaten ihren extremen zentralistischen
Charakter und wenden sich dezentralisierten Systemen zu, weil Regionalverwaltungen
Probleme leichter lösen können. In dieser Hinsicht entspricht die demokratische
Autonomie auch der Tendenz von Staaten, Entscheidungsbefugnisse den
Kommunen zu übertragen und sich dadurch zu demokratisieren.
Die historischen türkisch-kurdischen Beziehungen, besonders die Herangehensweise
des Gründungsvaters der Republik, Mustafa Kemal, in der Gründungszeit
der modernen Türkei, bilden das Fundament für ein neues türkisch-kurdisches
Verhältnis. Angesichts der Tatsache, dass heutzutage auch die Beziehungen
zwischen den Völkern basierend auf gegenseitiger Akzeptanz der Existenz
verschiedener ethnischer Gemeinschaften und der Selbstverwaltung neu
geknüpft werden, stellt unser Modell auch das konstruktivste Modell
für eine Neubegründung der kurdisch-türkischen Beziehungen in zeitgenössischer
Form dar.
Da es sich bei der demokratischen Autonomie nicht um die Institutionalisierung
eines Staates handelt, verursacht sie auch keine Kriege um Macht und
Staat. In dieser Hinsicht verfügt sie über einen Charakter und eine
Kapazität, mit denen alle Gemeinschaften, Völker und politischen Gruppen
im gegenseitigen Interesse stabile Beziehungen aufbauen können.
Demokratische Autonomie hat die Fähigkeit, eine demokratische konföderale
Einheit der Vielfalt in der Gesellschaft in Form gegenseitiger Ergänzung
und Stärkung zu gewährleisten. Somit wird Kurdistan auch mit den kurdischen
politischen Systemen in anderen Landesteilen und den Völkern in der
Region demokratische und freie Beziehungen entwickeln.
Die Administration der demokratischen Autonomie stellt in Nordkurdistan
den Willen des Volkes dar und wird mit den demokratischen konföderalen
Organisierungsformen, die in den anderen Landesteilen den Willen des
Volkes repräsentieren, Beziehungen der gegenseitigen Stärkung und Ergänzung
aufbauen, ohne die jeweiligen Staatsgrenzen zu berühren. Da sie frei
von nationalstaatlichem und machtzentriertem Streben ist, wird in diesen
Beziehungen auch keine chauvinistische Tendenz auftauchen. In dieser
Hinsicht spielt auch beim Aufbau stabiler Beziehungen unter den Kurden
die Mentalität und Struktur der demokratischen Autonomie eine wichtige
und konstruktive Rolle. Der demokratische Konföderalismus zwischen den
Teilen Kurdistans wird auf dieser Grundlage funktionaler werden.
Da es sich bei der demokratischen Autonomie nicht um ein Projekt zur
Errichtung oder Zerstörung eines Staates handelt, wird sie auch den
Staaten in der Region den Weg zu einer Lösung der kurdischen Frage weisen
und hilfreich sein. Mit diesem Charakter wird gleichzeitig auf der Grundlage
einer prinzipiellen Einigung mit den Nationalstaaten im Rahmen der Formel
„Staat + Demokratie“ ein Zusammenleben gewährleistet.
Bei diesem Modell handelt es sich um ein Modell zur Lösung eines nationalen
Problems, das auf der Grundlage prinzipieller Einigung von allen nicht
faschistischen politischen Kräften akzeptiert werden kann. Dieser Charakter
der demokratischen Autonomie kann stabile Beziehungen mit den Ländern
der Region und eine Akzeptanz der demokratischen Autonomie gewährleisten.
Ohne Kämpfe um Staat und Macht können mit allen nicht faschistischen
politischen Kräften politische, soziale und wirtschaftliche Beziehungen
geknüpft werden.
Demokratische Autonomie stellt den Beginn einer neuen Ära in den Beziehungen
der Kurden mit den Staaten dar, beginnend mit der Türkei über den Iran,
Irak und Syrien bis zu anderen Ländern. Wird die kurdische Frage über
ein Verständnis der demokratischen Autonomie gelöst, wird es eine Lösung
für alle Probleme in der Region geben. Da die kurdische Frage Ursache
für Spannungen und Konflikte in der Region ist, ist sie dort gleichzeitig
ein Grund für die herrschende politische, ökonomische und soziale Instabilität.
Eine Lösung dieses Problems wird zunehmend wichtiger für die regionale
Stabilität. Es wird sich zeigen, dass das Projekt der demokratischen
Autonomie nicht nur für eine Lösung der kurdischen Frage, sondern für
eine Lösung aller regionalen Probleme ein Lösungsmodell von universeller
Qualität darstellt.
3-
Die acht Dimensionen des Modells der demokratischen Autonomie
3.1-
Politische Dimension
Der politische Willen des demokratischen autonomen Kurdistans gewinnt
seine Stärke aus der demokratisch organisierten Gesellschaft; die Gesellschaft
wiederum aus dem gemeinsamen Gebrauch der individuellen Rechte freier
Bürger in Verbindung mit kollektiven Gruppenrechten. Diese Kraft wird
zum Wohle der Gesellschaft mittels demokratischer Politik umgesetzt.
Dafür wird auf eine demokratische Organisierung gegen die starr zentralistische,
bürokratische Auffassung von Regierung und Verwaltung des Nationalstaates
gebaut. In der demokratischen Politik partizipieren alle Teile der Gesellschaft
aktiv am politischen Prozess. Die offene, durchsichtige Politik von
Angesicht zu Angesicht macht die Stärke im Wandel und in der Demokratisierung
der Gemeinschaften aus.
Die politische Verwaltung in der demokratischen Autonomie organisiert
sich von der Basis her in Form von Dorfkommunen-, Kleinstadt-, Kreisstadt-,
Stadtteil- und Stadträten auf demokratischer konföderaler Grundlage
und findet ihre höchste Vertretung im Kongress der Gesellschaft. Der
Gesellschaftskongress des demokratischen autonomen Kurdistans entsendet
Vertreter in das Parlament der demokratischen Republik Türkei und wird
so Teil der Politik des gemeinsamen Landes. Das demokratische autonome
Kurdistan verfügt über eine eigene repräsentative Fahne und andere Symbole.
Außerdem benutzen [Angehörige] andere[r] Identitäten im Bereich der
demokratischen Autonomie auch ihre eigenen Symbole.
In diesem Sinne ist die demokratische Autonomie Ausdruck des Willens
des kurdischen Volkes, innerhalb einer demokratischen Türkei zu leben,
und des politischen Status des kurdischen Volkes.
Die demokratische Autonomie baut nicht auf einem Territorium, einer
ethnischen oder religiösen Gemeinschaft auf, sondern auf einer Kultur
des Zusammenlebens der Vielfalt und Demokratie. Sie ist Ausdruck ethnischer,
religiöser, sozialer und kultureller Rechte als Kriterien für eine Demokratie.
Dieses Modell gilt nicht nur für Kurdistan, sondern auch für die anderen
Regionen der Türkei.
Entscheidungsbefugt sind in der demokratischen Autonomie in erster Linie
die Dorf-, Stadtteil- und Stadträte und ihre Delegierten. Jede Gemeinschaft
setzt ihre Rede-, Diskussions- und Entscheidungsbefugnis in den Volksräten
um. Es gilt eine partizipative, pluralistische, direkte Volksdemokratie.
Die demokratische Autonomie ist nicht darauf beschränkt, die Befugnisse
und die Macht des Staates einzugrenzen; sie spielt zwar diese Rolle,
aber gleichzeitig sorgt sie mit ihrer Auffassung von „Staat + Demokratie“
für ein lebendiges demokratisches Leben der Gesellschaft und führt dem
Staat eine partizipative und direkte Demokratie zu. Organisierungspluralismus
und -reichtum betrachtet sie als Vertiefung der Demokratie, als einen
Zugewinn von Kraft und Willen des Individuums und der Gemeinschaften.
Die unterschiedlichen Kulturen, Ethnien, Geschlechter und Glaubensrichtungen
müssen das Recht haben, sich gesondert und autonom zu organisieren.
Eine eigene Vertretung von Völkern (Assyrer, Chaldäer, Araber, Armenier,
Aserbaidschaner) sowie Glaubensgemeinschaften wie den Jesiden und Aleviten
innerhalb der demokratischen Autonomie ist unabdingbar für eine ethische
und politische Gesellschaft.
Ein Individualismus, der sich von der Gesellschaftlichkeit abspaltet
und sich gegen die Gesellschaft richtet, wird genauso wenig akzeptiert
wie die Tradition, dem Individuum den eigenen Willen abzusprechen. Wir
betrachten die Beziehung zwischen freiem Individuum und freier Gesellschaft
als sich gegenseitig bedingende gesellschaftliche Gesamtheit. Das Freiheitsniveau
von Frauen sehen wir als grundlegendes Kriterium für eine demokratische
Gesellschaft.
Im demokratischen autonomen Kurdistan ist eine gesonderte Organisierung
der Gesellschaft auf Gebieten wie Politik, Soziales, Wirtschaft, Kultur,
Kunst, Sport, Bildung, Recht, öffentlicher Verkehr, Handel, Finanzen,
Gewerbe etc. ein gesellschaftliches Bedürfnis. Die politischen Parteien
als unverzichtbares Mittel der Demokratie müssen neu strukturiert werden,
ohne eine ideologische Hegemonie, eine politische Herrschaft anzustreben
und im Widerspruch zur ethischen und politischen Gesellschaft zu stehen.
Demokratische Institutionen des demokratisch-autonomen Systems sind
beginnend mit den Dörfern Kommunen an der Basis und Räte in den Städten.
Unabwendbar für eine ethisch-politische Gesellschaft und das Funktionieren
eines demokratischen Systems ist die Gründung von Räten an der Basis
insbesondere von Frauen und Jugendlichen, aber auch aller anderen gesellschaftlichen
Gruppen, und damit eine direkte Partizipation an der Politik. Die Dorfvorsteher
und Dorfältesten dürfen nicht als Werkzeuge des Staates fungieren, sondern
als demokratische Mittler. Zwischen den Städten organisieren sich die
Verwaltungen in der gesamten Region.
3.2-
Juristische Dimension
Das kurdische Volk, das international, in der Region und in der Republik
Türkei vom Rechtssystem ausgeschlossen wird, dessen Existenz und Rechte
verleugnet werden, ist heute durch seinen auf dem Boden universellen
Rechts geführten Befreiungskampf in der Lage, einen Status der demokratischen
Autonomie zu proklamieren. Verfassungs- und Gesetzesänderungen, die
notwendig sind, um den unrechtmäßigen und unmenschlichen Umgang mit
dem kurdischen Volk sowie die Verleugnungspolitik und den Vernichtungskrieg
zu beenden und innerhalb der Grenzen der Republik Türkei auf friedlicher
Grundlage eine freie demokratische Einheit zu gewährleisten, müssen
einen Status der demokratischen Autonomie vorsehen. Wir betrachten die
Türkei und Kurdistan als gemeinsame Heimat. Das Rechtssystem der demokratischen
Autonomie muss von einer neuen Verfassung der Republik Türkei und dem
EU-Recht anerkannt und sein Funktionieren über gegenseitige verbindliche
Erklärungen gesichert werden.
Das kurdische Volk kann seine Grundrechte und -freiheiten innerhalb
der Grenzen der Republik Türkei über den Status der demokratischen Autonomie
gewährleisten. Dieser Status ist Ausdruck des Willens zu einer freien,
gleichen und freiwilligen Gemeinsamkeit basierend auf dem Einverständnis
des kurdischen Volkes und muss von der Republik Türkei verfassungsrechtlich
und gesetzlich garantiert werden. Demokratische Autonomie ist ein Modell,
das von den Kurden in ihrer Heimat Kurdistan ebenso angewandt wird,
wie es in der Gesamttürkei Anwendung finden kann, um eine direkte Demokratie
zu realisieren.
Innerhalb der bestehenden Grenzen und staatlichen Strukturen steht die
demokratische Autonomie für die Freiheit der Kurden. Die in Kurdistan
und anderen Regionen der Türkei lebenden Kurden regeln ihre Beziehung
zum Staat der Republik Türkei auf der Grundlage des Status der demokratischen
Autonomie.
Im demokratischen autonomen Kurdistan sowie in der gesamten Türkei gilt
die Anwendung der Menschenrechte, die Ausdruck für die Freiheit aller
Menschen von Geburt an ohne Unterscheidung in Klasse, Herkunft, Religion,
Geschlecht, Ethnie und Rasse sind; der grundlegenden individuellen Rechte
wie Meinungs-, Glaubens-, Organisierungs- und Versammlungsfreiheit;
der wirtschaftlichen und sozialen Rechte sowie des Rechts der Völker,
die eigene kulturelle Existenz frei zu leben und zu entwickeln und sich
selbst zu regieren. Diese Rechte müssen von der Republik Türkei verfassungsrechtlich
und vom Rechtssystem des demokratischen autonomen Kurdistans garantiert
werden. Als internationale Vorbilder sehen wir die über einen Autonomiestatus
geregelten aktuellen Lösungen nationaler Fragen in Irland, Schottland,
dem Baskenland, Katalonien sowie die entsprechenden UN-Abkommen.
Als wesentliche Grundlagen gelten das von Abdullah Öcalan vorgelegte,
auf Geschlechterbefreiung, Demokratie und Ökologie basierende Paradigma,
die Tradition von Autonomie in der Menschheitsgeschichte, die über einen
Autonomiestatus geregelten aktuellen Lösungen nationaler Fragen in Irland,
Schottland, dem Baskenland, Katalonien u. a., die Verfassung der Türkei
von 1921, das am 10. Februar 1922 vom damaligen Parlament der Türkei
verabschiedete Autonomiegesetz in Bezug auf die Kurden, die Ansprachen
Mustafa Kemals 1924 in Izmit sowie die entsprechenden UN-Abkommen.
Das Rechtssystem des demokratischen autonomen Kurdistans betrachtet
es als nicht richtig und nicht möglich, eine Gesellschaft ausschließlich
rechtlich zu verwalten, und setzt deshalb, ohne dem Dilemma „entweder
Ethik oder Jura“ zu verfallen, auf den Schutz und die Regierung der
Gemeinschaft im Einklang von Ethik und Recht. In der Überzeugung, dass
eine Gesellschaft ohne Gewissen eine verlorene Gesellschaft ist, wird
neben dem Recht die Ethik als Gewissen und Herz der Selbstverwaltung
der Gesellschaft betrachtet. Ein gesellschaftliches System der Gerechtigkeit
kann unter Berücksichtigung des Paradigmas von Geschlechterbefreiung,
Demokratie und Ökologie aufgebaut werden.
3.3- Die Dimension der Selbstverteidigung
In der Natur gibt es kein Lebewesen, das sich nicht selbst verteidigt.
Jedes Lebewesen verfügt neben dem Reflex, die eigene Existenz zu verteidigen,
über eigene Selbstverteidigungsmaßnahmen. Es ist der Mensch, der seine
Selbstverteidigung am bewusstesten entwickelt. In dieser Hinsicht ist
die Menschheitsgeschichte gleichzeitig die Geschichte der Weiterentwicklung
der Selbstverteidigung. So hat auch im Verlauf der Geschichte immer
das Bedürfnis gesellschaftlicher Gruppen (Stämme, Nationen, religiöse
Gemeinschaften, Dörfer, Städte etc.) nach Selbstverteidigung bestanden.
Selbstverteidigung ist so lebenswichtig wie Luft und Wasser, um sowohl
Angriffe von außen auf die eigene Existenz abzuwehren als auch von innen
heraus entstehende Gefahren gegen die ethischen und politischen Werte
der Gesellschaft abzuwenden.
Selbstverteidigung ist die Sicherheitspolitik der ethischen und politischen
Gesellschaft. Die Dimension der Selbstverteidigung stellt nicht nur
ein Phänomen der militärischen Verteidigung dar, sondern steht in enger
Verbindung mit dem Schutz der Identität, der Gewährleistung der Politisierung
und der Umsetzung der Demokratisierung. Selbstverteidigung basiert auf
einer organisierten Gesellschaft. Eine organisierte Gesellschaft kann
sich am besten verteidigen. In allen Gesellschaften ist die Selbstverteidigung
unabdingbar für den Schutz der Existenz.
Das Volk Kurdistans hat im Verlauf der Geschichte kontinuierlich Kämpfe
zum Schutz gegen Angriffe von außen geführt. Seit den ersten Invasionen
bis heute haben sich die Kurden gegen jede Form von Besatzung und Angriffen
zum Schutz der eigenen Existenz selbst verteidigt. Auch in der jüngeren
Geschichte waren die Aufstände des 19. und 20. Jahrhunderts trotz schlechter
Bedingungen und ihres unorganisierten Charakters Maßnahmen der Selbstverteidigung.
Wenn der Status der demokratischen Autonomie anerkannt wird, kann die
Selbstverteidigung nicht als militärisches Monopol, sondern entsprechend
dem inneren und äußeren Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft unter
der Kontrolle demokratischer Organe aufgebaut werden. Die Menschen in
den Städten, Kleinstädten, Stadtteilen und Dörfern verhalten sich bewusst
und sensibel gegen faschistische, reaktionäre und tödliche Angriffe.
Selbstverteidigung ist somit Ausdruck eines gesellschaftlichen Widerstands
gegen solche Angriffe. Selbstverteidigung ist ein Recht, das in internationalen
Abkommen und von den UN definiert ist.
3.4-
Kulturelle Dimension
Der Nationalstaat ging innerhalb seiner Grenzen mit einer genozidalen
Politik gegen alle Sprachen und Kulturen vor. In ihrer härtesten Ausprägung
hat diese Politik die kurdische Sprache und Kultur getroffen. Die kurdische
Sprache war im Alltagsleben ebenso verboten wie der muttersprachliche
Unterricht in allen staatlichen Bildungseinrichtungen. Es wurde die
Erschaffung einer von ihrer Muttersprache und Kultur entfremdeten Gesellschaft
angestrebt und deren mentale und geistige Assimilation. Es war so weit
gekommen, dass in Kurdistan schließlich ein Prozess der Autoassimilation
eingesetzt hatte.
Dabei betrachten UN-Abkommen und die demokratischen Normen der Europäischen
Union das Verbot von Muttersprache und Kultur eines Volkes sowie die
Verhinderung des freien Gebrauchs derselben als Verbrechen gegen die
Menschlichkeit und definieren dieses Vorgehen als „kulturellen Genozid“.
Aber dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit wird vor den Augen der
Weltöffentlichkeit weiterhin begangen.
Da das kurdische Volk nicht über das Recht verfügt, in demokratischer
Atmosphäre frei zu leben und sich weiterzuentwickeln, konnten die in
der kurdischen Gesellschaft durch die nationalistische Verbots- und
Assimilationspolitik entstandenen schweren Schäden noch nicht vollständig
behoben werden. In gewisser Hinsicht ist beim Individuum und in der
Gesellschaft fast der Hirntod eingetreten. Aus diesem Grund können sich
weder Individuum noch Gesellschaft stabil entwickeln. Ohne muttersprachliche
Bildung kann es nicht ausreichend kurdische Intellektuelle geben. Damit
sich die kurdische Gesellschaft seelisch und geistig befreien und gesunde
Individuen hervorbringen kann, muss in den Bereichen Sprache und Kultur
tief greifend gearbeitet werden.
Die Kunst, die Gesellschaft und Individuum gegen jede Art von Verbreitung
imperialistischer Kultur, Kolonisation und Abstumpfung verteidigt und
sie mit ihrer Geschichte, ihrem Land, ihrer Kultur und Sprache vertraut
macht, muss ihre eigentliche Rolle spielen. Es muss eine Kultur- und
Kunstbewegung entstehen, die auf der Basis aufbaut und auch die kleinsten
Siedlungen mit einschließt. Es müssen Maßnahmen ergriffen werden, damit
Kultur und Kunst nicht als Ware und Objekt von Einkauf und Verkauf verkommen.
„Für ein Volk ist es die größte Katastrophe, wenn seine Geschichte von
anderen geschrieben wird“ – diese Worte sind für die Kurden eine noch
immer gültige Wahrheit. Die Geschichte Kurdistans wurde größtenteils
von anderen im Dienste des Machtapparats geschrieben und so ist ein
falsches Geschichtsbewusstsein entstanden, das für Identität, Existenz
und Zukunft unseres Volkes eine große Gefahr bedeutet.
Der Gebrauch der kurdischen Sprache im öffentlichen Bereich darf nicht
weiter behindert werden; von der Grundschule bis zur Universität muss
Kurdisch zur Ausbildungssprache gemacht werden. Es müssen gesetzliche
und verfassungsrechtliche Neuregelungen getroffen werden, um den Kurden
in den Metropolen der Türkei und im Ausland die Möglichkeit zu muttersprachlichem
Unterricht zu bieten und um eine kulturelle Auflösung zu verhindern.
Im demokratischen autonomen Kurdistan sind die offiziellen Sprachen
Kurdisch und Türkisch. Darüber hinaus müssen der Gebrauch und die Förderung
aller in der Region gesprochen Sprachen (assyrisch, arabisch, armenisch
etc.) und Dialekte verfassungsrechtlich und gesetzlich garantiert werden.
Die Dienstleistungssprache ist Kurdisch; alle Ortschaften müssen ihre
Originalnamen zurückerhalten.
3.5-
Soziale Dimension
Mit Assimilation sollte die kurdische Gesellschaft von ihren Werten,
ihrer Geschichte und Kultur entfremdet werden. Mit Vertreibung, Arbeitslosigkeit
und Armut wurde versucht, Kurdistan zu entvölkern, die gesellschaftliche
und demographische Struktur zu verändern, und mit einem physischen und
kulturellen Genozid sollte die gesamte kurdische Existenz vernichtet
werden. Als eine Form spezieller Kriegsführung wurden insbesondere Frauen
und Jugendliche mit Sport-, Kunst- und sozialen Aktivitäten vom gesellschaftlichen
Kampf abzuhalten versucht. Durch die Verbreitung von Prostitution und
Drogen wurde der moralische Verfall gefördert. Um das kurdische Volk
in einem willenlosen, unorganisierten und kampflosen Zustand zu halten,
wird für jede soziale Gruppe eine eigene Politik verfolgt.
Die kurdischen Frauen sind nicht nur dem Staatsterror ausgesetzt, sondern
auch der auf Herrschaft basierenden Mentalität des gesellschaftlichen
Sexismus. Die Familie in einer sexistischen Gesellschaft entspricht
in ihrem Aufbau einem kleinen Staat des Mannes. Bei der Verurteilung
der Frau zur Sklaverei spielen diese Familienstrukturen eine wirksame
Rolle. In der bestehenden gesellschaftlichen Realität ist die Familie
jedoch keine gesellschaftliche Institution, die es zu überwinden gilt,
sondern die entsprechend unserer Sozialpolitik transformiert werden
muss. Dafür ist es notwendig, das aus der Hierarchie resultierende Besitzdenken
in Bezug auf Frauen und Kinder und die dieses Denken stützenden Gesetze
zu ändern. Der Bewusstseins- und Organisierungsgrad von Frauen spielt
eine Schlüsselrolle bei der Transformation von Familie und Gesellschaft
in Bereiche eines freien, gleichberechtigten und demokratischen Zusammenlebens.
Eine demokratische Gesellschaft bedarf einer von Sexismus befreiten
Mentalität und des freien Willens von Frauen; dieses wird im demokratischen
autonomen freien Kurdistan möglich sein.
Seit den ersten hierarchischen Strukturen wird bis heute eine Politik
fortgesetzt, mit der die Jugend in Abhängigkeit gehalten wird. Dabei
geht es um den Zusammenhang zwischen ideologischer Propaganda, dem Ersticken
in starren Dogmen und der Abhängigkeit von sexuellen Trieben; es geht
darum zu verhindern, dass sich die jugendliche Energie gegen das System
richtet, und die bestehende Ordnung aufrechtzuerhalten. Eine Organisierung
der Jugend dagegen gemäß den Prinzipien der Freiheit spielt beim Aufbau
einer demokratischen Gesellschaft eine grundlegende Rolle. Eine Jugend,
die nach Freiheit strebt, ist schwer aufzuhalten. Ebenso wie die Jugend
als gesellschaftliche Gruppierung dem herrschenden System die meisten
Probleme bereitet, spielt sie gleichzeitig eine Vorreiterrolle beim
Neuaufbau und der Verteidigung der Gesellschaft.
In keiner Klassengesellschaft kann es freie Arbeiter von privaten oder
kollektiven Eigentümern geben. Aus diesem Grund müssen sich Arbeiter,
Bauern, Beamte, Händler und andere Berufsgruppen organisieren und aktiv
am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.
Trotz der Bemühungen, sie der Unterdrückung oder der Vernichtung zu
unterwerfen, bilden die unterdrückten, ausgebeuteten Volksgruppen, Frauen,
Jugendlichen, Dorfbewohner und Landarbeiter, Arbeitslosen, Migranten,
die vielen religiösen Gemeinschaften und Konfessionen, kleinen Gruppen
und Gemeinschaften, die von ihrer Arbeit leben, die Hauptpfeiler der
historischen Gesellschaft und die Mehrheit der Gesellschaft. All diese
gesellschaftlichen Gruppen sind Teil der sozialen Dimension und sie
haben die Besonderheit, das gesellschaftliche Leben auf freier und demokratischer
Grundlage anzuführen. In der demokratischen Gesellschaft, die in moderner
Form die ethische und politische Gesellschaft darstellt, finden alle
Unterschiedlichkeiten ihren Platz. Jede gesellschaftliche Gruppe muss
ihre eigene Kultur, Identität und Organisiertheit innerhalb dieser Vielfalt
ausleben können.
Im demokratischen autonomen Kurdistan wird sich die Neugründung der
Gesellschaft mit der freien Organisierung und Ausdrucksmöglichkeit jeder
gesellschaftlichen Gruppierung, insbesondere der Frauen und der Jugend,
außerdem Arbeits-, Bildungs-, Gesundheits- und Hilfsorganisationen in
jedem Siedlungsgebiet verwirklichen. Die soziale Dimension des demokratischen
autonomen Kurdistans hat, als Grundlage für die Realisierung der anderen
Dimensionen, das Potential für Diskussionen, Beschlussfassungen, Neustrukturierung
und Aktivierung.
Im demokratischen autonomen Kurdistan sind Frauen und Jugend die Führungskraft
in der demokratischen konföderalen Organisierungsform. In allen Organisierungsbereichen
und im gesellschaftlichen Leben spielen Frauen eine Vorreiterrolle.
Einhergehend mit dem Kampf gegen den gesellschaftlichen Sexismus müssen
Beziehungen zwischen Familie, Gesellschaft und Individuum entsprechend
den Prinzipien eines gleichen, freien und demokratischen Lebens aufgebaut
werden. Die Jugend wird mit ihrer Dynamik, ihrer Energie und ihrer Führungsfunktion
bei der Veränderung der Gesellschaft eine grundlegende Rolle beim Neuaufbau
der Gesellschaft und ihrer Verteidigung spielen. Für Kinder müssen Bedingungen
geschaffen werden, unter denen ihre geistige und physische Erziehung
erfolgen kann und sie sich frei entwickeln können. Im Rahmen der universellen
Kinderrechte müssen die Ausbeutung von Kindern auf dem Arbeitsmarkt
und ihr sexueller Missbrauch als Straftat gelten und bekämpft werden.
3.6-
Wirtschaftliche Dimension
Kurdistan, die Region der historisch ersten Gesellschaftsformationen,
der neolithischen Dorfrevolution, ist heute zu einem Landstrich geworden,
dessen Bewohner aufgrund von Hunger und Armut in alle Welt zerstreut
wurden. Kurdistan, in den heiligen Büchern als reiches Paradies bezeichnet,
ist aufgrund militärischer Besatzung, politischer und wirtschaftlicher
Kolonialisierung durch äußere Mächte in diesen Zustand geraten.
Die über die Kurden Herrschenden haben deren Wirtschaftsleben über bloße
koloniale Ausbeutung hinaus auf genozidalem Niveau zerstört. Daraus
resultieren Armut und Hunger in dieser Gesellschaft; die Menschen sind
zu Bedürftigen geworden, die mit hingeworfenen Brocken abhängig gemacht
werden. Es ist einfach, die Herrschaft über Menschen aufrechtzuerhalten,
deren Willen auf diese Weise gebrochen worden ist. Menschen, die von
anderen abhängig gemacht worden sind, nur um ihren Hunger zu stillen,
können nicht für den Aufbau eines wirklich freien und demokratischen
Lebens kämpfen.
Da der Aufbau einer Ökonomie die wichtigste Dimension der ethisch-politischen
Gesellschaft ist, ist es beim Aufbau der demokratischen Autonomie der
ökonomische Bereich, in dem zuerst Bewegung entsteht und auf der Grundlage
der Schaffung einer Wirtschaft der Gemeinschaften Arbeitslosigkeit und
Armut beseitigt werden.
Keine Gesellschaft und kein politisches und soziales System können ohne
die Realisierung eines eigenen Wirtschaftsmodells existieren. Auch die
demokratische Autonomie muss ihr eigenes Wirtschaftsmodell entwickeln
und somit ein freies und demokratisches Lebenssystem der Kurden in bleibender
Form institutionalisieren. Wenn die demokratische Autonomie der Körper
der demokratischen Nation ist, muss zunächst ein Wirtschaftssystem geschaffen
werden.
Die ökonomischen Probleme sind entstanden, als die Gesellschaft aufgehört
hat, eine Gesellschaft zu sein. Beweis dafür ist, dass die schwersten
Wirtschaftskrisen aus dem Kapitalismus resultieren, einem Krebsgeschwür
für die Gesellschaft. Abdullah Öcalan sagt dazu: „Kapitalismus ist nicht
gleich Wirtschaft, sondern steht in Gegnerschaft zur Ökonomie.“ Im heutigen
kapitalistischen System ist der Sektor am wichtigsten geworden, in dem
ohne jegliche Produktion Geld aus Geld gemacht wird.
Im Verlauf der Geschichte entstanden soziale und ökonomische Probleme
mit der Herrschaft des Mannes über die Frau. Einhergehend mit der Entstehung
von Klassen, der Urbanisierung und den ersten Staatsgründungen wurde
die Gesellschaft mit schweren Problemen konfrontiert. Ökonomie erfordert
Gesellschaftlichkeit und Demokratie. Eine Ökonomie, die die Bedürfnisse
einer Gesellschaft befriedigt, ist nur mit einer demokratischen Gesellschaft
möglich. In dieser Hinsicht ist eine demokratische Gesellschaft gleichzeitig
eine ökonomische. Wirtschaft ist kein technisches Problem des Unterbaus,
sondern eine Aktivität, die über die Meinung, Diskussion, Entscheidung
und organisierte Aktion der Gesamtgesellschaft funktioniert. Die Loslösung
des Menschen von der Ökonomie ist die Basis jeglicher Entfremdung. Das
muss verhindert werden und der einzige Weg dahin führt über die Aneignung
der Ökonomie durch alle Gemeinschaften.
Während eigentlich ein gesellschaftlicher Zustand höchstmöglicher wirtschaftlicher
und sozialer Entwicklung erreicht werden müsste, zeigt der große ökonomische
Zusammenbruch und die Konfrontation mit einem ökonomischen Genozid,
wie lebenswichtig es ist, dass die Gesellschaft Kurdistans auf der Grundlage
einer demokratischen Autonomie ein freies und demokratisches Leben realisiert
und somit zu einer ökonomischen Gesellschaft wird. Wenn auf der Basis
einer antimonopolistischen Ökonomie der Gemeinschaften eine neue ökonomische
Gesellschaft entsteht, wird damit gewährleistet werden, dass der Reichtum
Kurdistans nicht nur dem kurdischen Volk, sondern allen Völkern der
Region zugutekommt.
Es muss ein antimonopolistisches, gleichberechtigtes Wirtschaftssystem
geschaffen werden, in dem jeder seine eigene Arbeit macht, der Beschäftigung
von Frauen Vorrang gegeben wird, nicht auf den höchsten Profit, sondern
auf den Gebrauchswert geachtet wird und das Prinzip der Solidarität
gilt. Das Recht auf Nutzung und Verbrauch der wirtschaftlichen Ressourcen
muss dem demokratischen autonomen Kurdistan zustehen.
3.7-
Ökologische Dimension
Wie auch bei der Krise des gesellschaftlichen Systems müssen die Wurzeln
der sich zunehmend verschärfenden ökologischen Krise am Beginn der Zivilisation
gesucht werden. Die Ignoranz der hierarchischen und staatlichen Kräfte
gegenüber der kommunalen Bindung, die eine Gesellschaft ausmacht, sowie
die anstelle dieser Bindung als Perversion entstandene Mentalität haben
dazu geführt, dass die Verbindung zwischen Natur und Leben vergessen
und unwichtig wurde. Jeder zivilisatorische Aufschwung auf dieser Grundlage
führte zu einer weiteren Entfremdung von der Natur, zur Umweltzerstörung
und zunehmend zu einer Welt, in der das Leben unmöglich gemacht wird.
In der heutigen Zeit sind die gesellschaftliche und die ökologische
Krise nicht voneinander zu trennen. Die Entwicklung zeigt ein Streben
nach höchstem Profit, wobei eine Kalkulation, wie viel Städte, Menschen,
Fabriken, Verkehrsmittel, synthetische Stoffe, verschmutzte Luft und
Wasser unser Planet ertragen kann, nicht angestellt wird. Städte, die
wachsen wie Krebsgeschwüre, verschmutzte Luft, Ozonloch, Aussterben
von Tier- und Pflanzenarten, Abholzung der Wälder, Verschmutzung fließender
Gewässer, Müllberge, Bevölkerungsexplosion etc. führen in der Natur
zu irreparablen Katastrophen.
Ein nicht mit der Natur harmonierendes Gesellschaftssystem kann auch
nicht Ethik und Demokratie verteidigen. Der Zusammenhang zwischen dem
Chaos des kapitalistischen Gesellschaftssystems und der Umweltkatastrophe
ist dialektisch. Die Bilanz des auf Extremprofiten und antiökologischem
Industrialismus basierenden Profit- und Kapitalsystems weist nicht nur
eine allgemeine gesellschaftliche Degeneration auf (fehlende Ethik und
Politik, Arbeitslosigkeit, Inflation, Prostitution etc.), sondern ebenso
auf die Gefahr hin, in der die Umwelt mit allen Lebewesen schwebt. Angesichts
dieser Realität zeigt sich noch eindeutiger, wie sehr der Monopolismus
sich gegen die Gesellschaft richtet. Eine ökologische Gesellschaft erfordert
auch einen ethischen Wandel. Das Fehlen einer Ethik des Kapitalismus
kann nur mit einer ökologischen Herangehensweise überwunden werden.
Eine solche ist allerdings nur von Wert, wenn sie mit einer vollständigen
ökologischen Ausstattung Bedeutung erlangt. Es liegt in der Natur der
Sache, dass ausschließliche Umweltbewegungen nicht viel zu einer Lösung
beitragen können.
Die praktischen Fragen eines ökologischen Lebens sind weltweit und auch
in unserem Land brandaktuell. Die aus militärischen, politischen und
wirtschaftlichen Motiven in Kurdistan stattfindende ökologische Zerstörung
hat dem Land und den gesellschaftlichen Strukturen ernsthafte Schäden
zugefügt. Dörfer und Wälder wurden niedergebrannt, Siedlungen zerstört,
historische Kulturgüter und fruchtbare Böden aufgrund von Bebauungsplänen
und durch Staudammprojekte überflutet. Anderen fruchtbaren Landstrichen
wiederum wurde die Wasserzufuhr abgeschnitten und sie sind zu Wüsten
geworden. Tausende Hektar landwirtschaftlicher Flächen wurden vermint
und damit unzugänglich gemacht. Hochalmen wurden zu militärischem Sperrgebiet
erklärt und damit die Viehzucht zum Erliegen gebracht. In Kurdistan
gibt es auch Giftmülldeponien. All diese Maßnahmen haben zu einer Veränderung
des Klimas und der Flora und Fauna in Kurdistan geführt. Diesen Angriffen
kann nur mit einer ökologischen Revolution begegnet werden. Die ökologische
Zerstörung bleibt auch nicht auf eine bestimmte Gegend beschränkt, sondern
wirkt sich auf die gesamte Welt aus.
Ökologisches Bewusstsein ist von der Liebe zur Heimat und zur gesamten
Welt geprägt. Für eine gesunde Umwelt und ein gesundes soziales Leben
muss in der Gesellschaft ein Bewusstsein entstehen und müssen Eilmaßnahmen
getroffen werden; dafür ist ein aktiver Kampf erforderlich – gegen die
das ökologische Gleichgewicht zerstörende Urbanisierung und den Bau
von Staudämmen, mit denen Flora und Fauna verändert und historische
Stätten unter Wasser gesetzt werden und somit auch das kollektive Gedächtnis
der kurdischen Gesellschaft verschwindet.
3.8-
Diplomatische Dimension
Diplomatie bezeichnet im Allgemeinen Aktivitäten von Völkern, Gemeinschaften,
Gruppen und Staaten entsprechend ihrer Interessen. Die Diplomatie gemäß
der Mentalität der Moderne und des Nationalstaates baut vollständig
auf Stärke auf. Die Diplomatie des Nationalstaates bildet mit anderen
Staaten, die über Außenmonopole verfügen, eine Koordination, um die
Angelegenheiten des weltweiten Systems der Nationalstaaten zu verfolgen.
Ohne die externe Anerkennung von Nationalstaaten kann kein Nationalstaat
bestehen. Das liegt in der Logik dieses weltweiten Systems. Ohne das
Einverständnis der Völker kann kein Nationalstaat dauerhaft existieren.
Das Paradigma der demokratischen Moderne hingegen versteht die diplomatische
Dimension des demokratischen autonomen freien Kurdistans als gegenseitige
Solidarität und basierend auf gemeinsamen Interessen der Völker, Gruppen
und Gemeinschaften.
Bei der Betrachtung der historischen und gesellschaftlichen Besonderheiten
der Kurdistan-Frage einhergehend mit der territorialen Vierteilung wird
deutlich, welche wichtigen Resultate eine noch zu entwickelnde Diplomatie
für die Nachbarländer und -gemeinschaften sowie für die anderen kurdischen
Landesteile bringen wird.
Die Diplomatie des demokratischen autonomen Kurdistans muss Frieden,
Geschwisterlichkeit, ökonomischen Aufschwung und steigenden Lebensstandard
fördern. Sie muss in gegenseitiger Solidarität und im Vertrauen mit
Völkern ohne auf den Staat zu setzen handeln, mit Völkern, Gruppen und
Gemeinschaften, die für Demokratie und Freiheit kämpfen. Sie muss die
Interessen des kurdischen Volkes verfolgen und die Rechte der in der
Diaspora und den Metropolen lebenden Kurden.