Pressemitteilung
Systematische Verstöße gegen rechtliche Regulierungen und Versuche
von Wahlbetrug bei den Parlamentswahlen in der Türkei 2011
Zehn unabhängige
Delegationen aus Deutschland und eine aus Frankreich bereisten die kurdischen
Provinzen der Türkei zur Beobachtung der Parlamentswahlen 2011. (Provinzen
der Wahlbeobachtung: Van, Batman, Kars, Ardahan, Diyarbakir, Urfa,
Şırnak, Antep, Bitlis, Iğdır, Ağrı und Hakkari)
Unter den TeilnehmerInnen der Delegationen befanden sich Europaparlamentarier,
Bundestags- und Landtagsabgeordnete, KommunalpolitikerInnen, WissenschaftlerInnen,
Studierende, GewerkschafterInnen und MenschenrechtsaktivistInnen.
„Aufgrund der Vielzahl von beobachteten Verstößen gegen türkisches
und internationales Recht kann die Parlamentswahl 2011 keinesfalls als
rechtsgemäße, allgemeine, freie, geheime und demokratische Wahl bezeichnet
werden. Gravierende Verstöße gegen türkische Gesetze und Verordnungen
sowie internationale Standards waren kein Einzelfall, sondern eine systematische
und flächendeckende Praxis der versuchten Einschüchterung, Bedrohung
und Wahlfälschung durch die AKP-Regierung und staatliche Kräfte.“
In Bezug auf das Wahlrecht wurde besonders das neue Wahlgesetz 298,
§ 25.72 und § 135, dass Sicherheitskräften erlaubt sich den Urnen bis
15 m zu nähern (s. u.), in sämtlichen kurdischen Provinzen, dazu genutzt,
zu versuchen WählerInnen vom Wählen überhaupt- oder von einer freien
Wahl abzuhalten oder sie einzuschüchtern und zu bedrohen oder mit Gewalt
von der Wahl abzuhalten.
Zudem ist die 10%-Hürde bei den Wahlen ein Hindernis für die demokratische
Teilhabe der Menschen. Auch dass im Ausland lebende türkische StaatsbürgerInnen
an den Flughäfen in Istanbul und Ankara nicht die unabhängigen KandidatInnen,
sondern nur Parteien wählen konnten, kann nicht als gleich und fair
bezeichnet werden. In den Provinzen Bitlis und Tunceli/Dersim ist die
Anzahl der wahlberechtigten stationierten Militärs und Polizisten aus
dem Westen der Türkei zudem so hoch, dass dies entscheidend für den
Wahlausgang war. (Details zu den Unregelmäßigkeiten und Rechtsverstößen,
siehe Anhang)
Angestrebt wurde seitens der AKP eine 2/3 Mehrheit, um u. a. eine absolute
Hoheit über den bevorstehenden Verfassungsgebungsprozess zu erlangen.
Dieses Ziel wurde verfehlt. Die AKP erhielt 49,85 % der Stimmen.
Der Wahlblock um die kurdische BDP errang 36 Sitze im Parlament. Das
ist ein großer Erfolg und zeigt, dass eine basisdemokratische Vorgehensweise,
mit der Orientierung an den konkreten Realitäten und Bedürfnissen der
Bevölkerung langfristig erfolgreich ist – und darüber hinaus zumindest
seitens der kurdischen Bevölkerung und der türkischen Linken eine friedliche
Entwicklung in Bezug auf die kurdische Frage gewünscht ist. Auch die
Einbindung weiterer linker und humanistischer Kräfte, sowie von Minderheiten
(z. B. der Assyrischen Christen in Mardin) ist perspektivisch für die
Entwicklung einer türkeiweiten demokratischen und emanzipatorischen
Kraft ein positives Signal.
Die Regierungspolitik, die
vor den Wahlen offensichtlich auf eine erneute Eskalation und die Provokation
eines Bürgerkriegs und somit auf eine – jedoch nicht mögliche – militärische
Lösung der kurdischen Frage setzte, wird das Land, wenn sie fortgeführt
wird, destabilisieren.
Ein derartiges Vorgehen scheint kongruent mit den geostrategischen Interessen
der Regierungen der führenden europäischen Staaten und der USA im Mittleren
Osten. Die AKP soll in diesem Zusammenhang als „Rolemodell“ für eine
Politik des „gemäßigten“ Islam dienen. In diesem Rahmen sollen, bei
Verhinderung von basisdemokratischen Entwicklungen, die Gesellschaften,
Märkte und Strukturen wirtschaftlichen und kolonialistischen Interessen
untergeordnet werden.
„Offensichtlich sollte durch die genannten Unregelmäßigkeiten
und den Versuch der systematischen Wahlbeeinflussung mit allen Mitteln
die freie demokratische politische Entfaltung der kurdischen Bevölkerung
verhindert werden.“
In der Anerkennung der BDP (des Wahlblocks) als demokratisierender Faktor,
sowie einem Dialog mit dem von der kurdischen Bevölkerung als politische
Vertretung gesehenem Abdullah Öcalan sowie der PKK, läge demgegenüber
die Chance, den Weg für die notwendige Demokratisierung und Stabilisierung
des Landes zu „öffnen.
„Gewaltförmige Konfliktlösungsansätze verhindern friedliche
und demokratische Entwicklungen. Eine Politik, wie sie seitens der verantwortlichen
Regierungen in der Türkei, der EU und der USA im Rahmen der Parlamentswahlen
in der Türkei betrieben wurde, ist im Sinne der Mehrheit der Menschen
unverantwortlich”
Anhang:
Ein Überblick über die Vielzahl schwerwiegender Verstöße, die beobachtet,
dokumentiert und im direkten Gespräch erfahren wurden ist besorgniserregend:
• In der überwiegenden Anzahl
der Wahllokale waren in den Städten bewaffnete Polizisten und in den
Dörfern die Militärpolizei Jandarma, Soldaten und Dorfschützer präsent.
Besonders in den kurdischen Provinzen wurde eine Änderung des Wahlgesetzes
(s. u.) dazu genutzt, zu versuchen WählerInnen u. a. durch Einschüchterungen
und Bedrohung vom Wählen überhaupt- oder von einer freien Wahl abzuhalten.
Denn selbst die aus menschenrechtlicher
Sicht inakzeptable neue gesetzliche Regelung wurde flächendeckend nicht
eingehalten. Die bewaffneten Polizisten, Jandarma und Soldaten hielten
sich, ohne von den UrnenleiterInnen dazu aufgefordert worden zu sein,
direkt vor oder in den Wahlräumen und zum Teil direkt vor den Urnen
auf. Zum Teil hielten sich die Sicherheitskräfte auch mit den WählerInnen
in den Wahlkabinen auf.
• In mehreren Fällen prügelten
Soldaten, Jandarma und Polizisten WählerInnen aus den Wahllokalen oder
verhinderten deren Zugang dazu. Zum Teil geschah dies mit Waffengewalt
oder mit Hilfe von Panzerfahrzeugen.
• Immer wieder konnte beobachtet
werden, wie UrnenvorsteherInnen ältere WählerInnen und AnalphabetInnen
in die Wahlkabinen begleiteten und auf die AKP zeigten, die zu wählen
sei
• Durch Geldgeschenke, Lebensmittel,
Kühlschränke, Elektrogeräte und Kleidungsgutscheine sowie das Versprechen
von regelmäßigen Kindergeldzahlungen wurde von Seite der AKP vor der
Wahl versucht, vor allem in Gegenden mit überwiegend finanzschwacher
Bevölkerung, die WählerInnen zu bestechen.
• WählerInnen wurden im Vorhinein
Kollektivstrafen bei Nichtwahl der AKP angedroht. Z. B.: keine Befestigung
von Straßen, Entzug von Weiderechten, Entzug der „Grünen Karte” für
eine kostenlose Basis-Gesundheitsversorgung, Streichung von Schulhilfen
für die Kinder, keine Zuteilung von Kohle und Holz für die langen, harten
Winter
• In vielen Fällen hielten
Polizisten, Dorfschützer, Jandarma und Soldaten sich direkt vor und
in Wahllokalen auf, verlangten die Vorlage des Personalausweises, um
die Wahlnummern zu verteilen, unterzogen die WählerInnen einer Ganzkörperkontrolle
und bedrohten sie zum Teil dabei.
• Vor den Eingängen von Wahllokalen
waren vielerorts schussbereite Panzerfahrzeuge, Militärfahrzeuge und/oder
große Gruppen von Sondereinheiten von Polizei und Militär postiert,
so dass der Gang zum Wahllokal nicht als frei bezeichnet werden kann.
• WählerInnen wurden direkt
vor Wahllokalen von Polizisten gefilmt
• In von Dorfschützern dominierten
Gegenden wurde offensichtlich Unterschriften auf den Wahllisten der
UrnenleiterInnen in großer Anzahl gefälscht
• Wahlzettel wurden von Soldaten
oder UrnenleiterInnen selbst ausgefüllt, während die WählerInnen von
der Wahl abgehalten wurden
• In einigen Fällen wurden
WählerInnen, besonders Jugendliche, von Polizei oder Militär aus den
Wahllokalen geprügelt bzw. direkt vor oder nach dem Wählen gewalttätig
angegriffen
• Massiv in und vor den Wahllokalen
präsente Polizei- und Militäreinheiten verließen Berichten zufolge kurz
vor dem Eintreffen der Wahlbeobachtungsdelegationen die Orte des Geschehens.
• Die Gestaltung der Wahlzettel
benachteiligte die Unabhängigen KandidatInnen, da sie ohne Symbol und
zusätzlich in kleinerer, kaum lesbarer Schrift (8 Punkt) auf dem Wahlzettel
gedruckt waren.
• Ehemänner wählten für Ihre
Ehefrauen
• UrnenleiterInnen und regionale
WahlbeobachterInnen wurden von Sicherheitskräften eingeschüchtert, bedroht
und/oder angewiesen, den Wahlbeobachtungsdelegationen falsche Auskünfte
zu geben oder zu schweigen
• AKP-Bürgermeister oder
AKP nahe Imame wurden als Urnenleiter eingesetzt und/oder drohten im
Vorfeld, dass die AKP zu wählen sei, da sonst Gott/Allah die WählerInnen
bestrafen werde.
• Die Versiegelung der Urnen
war teilweise mangelhaft oder fehlte
• Die WahlbeobachterInnen
des Wahlblocks für Arbeit, Demokratie und Freiheit (Bündnis der BDP
mit weiteren linken Kräften) wurden in vielen Fällen aus den Wahllokalen
ausgeschlossen.
• Die Urnen/Wahlkomissionen
setzten sich in vielen Fällen lediglich aus AKP-Mitgliedern oder denen
von AKP/CHP/MHP zusammen.
• Die WahlbeobachterInnen des Wahlblocks für Arbeit, Demokratie und
Freiheit (Bündnis der BDP mit weiteren linken Kräften) wurden in mehreren
Fällen bedroht und zusammengeschlagen.
• Studierenden WahlbeobachterInnen
des Wahlblocks für Arbeit, Demokratie und Freiheit (Bündnis der BDP
mit weiteren linken Kräften) wurde in einigen Fällen seitens Universitätsrektoren
der Ausschluss aus den Universitäten oder Benachteiligungen bei Prüfungen
angedroht.
• Allein in den kurdischen
Provinzen des Landes wurden mehr als 100 WahlbeobachterInnen des Wahlblocks
für Arbeit, Freiheit und Demokratie ohne ernstzunehmende Vorwürfe verhaftet.
• Polizisten „sicherten“
die Wahllokale bei der Auszählung in, anstatt vor den Wahllokalen.
• In mehreren Fällen verweigerten
verantwortliche Richter oder Behörden notwendige Gespräche mit ParlamentarierInnen
und AnwältInnen.
Übergriffe
durch Polizei und Jandarma direkt nach den Wahlen
Besonders hervorzuheben sind 2 Vorfälle in den Städten Şırnak und Van.
• In Şırnak wurde am Wahlabend von „unbekannten Tätern“ eine Handgranate
in die friedlich den Einzug von 3 KandidatInnen des Wahhlblocks für
Arbeit, Demokratie und Freiheit feiernde kurdische Bevölkerung geworfen.
Hier hielt sich in 10 m Entfernung der Detonation auch eine Wahlbeobachtungsdelegation
u. a. mit dem MdB Harald Weinberg (Die Linke) auf. Berichten zufolge
wurden 12 Personen, zum Teil lebensgefährlich, verletzt. Bei den anschließenden
Protesten setzten Jandarma (Militärpolizei) Tränengasgranaten ein und
beschossen in diesem Zusammenhang auch die Wahlbeobachtungsdelegation
und DolmetscherInnen. Die Sicherheitskräfte griffen zudem Menschen an,
die sich vor dem Krankenhaus versammelt hatten, um etwas über die Verletzten
zu erfahren.
• In Van kam es gegenüber u. a. in einem Autokonvoi feiernden Bevölkerung
und JouranlistInnen zu einer Vielzahl von Polizeiübergriffen. Polizisten
schwenkten Maschinengewehre über ihren Köpfen und liefen im Trupp, militärische
Parolen rufend durch die Straßen. DelegationsteilnehmerInnen konnten
aus einem Hotel heraus eine Vielzahl schwerer Polizeiübergriffe beobachten.
Beliebig wurden Feiernde und zufällig Anwesende mit Schlagstöcken tracktiert.
In einem Fall wurde ein passierender Kleinbus und deren Insassen von
ca. 10 behelmten PolizistInnen angegriffen. Die Türen wurden aufgerissen.
Die Polizisten schlugen brutal mit Schlagstöcken auf die Insassen ein,
die Fenster wurden zerschlagen. Schließlich wurde der blutüberströmte
Fahrer aus dem Fahrzeug gezerrt und unter weiterer Prügel zum Gebäude
des Gouverneurs (Vali) geschleppt. Mehrere JournalistInnen die Übergriffe
dokumentierten wurden zum Teil erheblich verletzt. Darüber hinaus wurde
das Gebäude der Kommunalverwaltung, die in Van von der BDP gestellt
wird angegriffen, Wasserwerfer, Gasgranaten und Berichten zufolge auch
scharfe Munition gegen die feiernde Bevölkerung eingesetzt.
Unter den DelegationsteilnehmerInnen befanden sich u. a.: Jürgen Klute
(MdEP, Die Linke), Harald Weinberg (MdB, Die Linke), Heidrun Dietrich
(MdB, Die Linke), Ingrid Remmers (MdB, Die Linke), Bärbel Beuermann
(MdL NRW, Die Linke), Cornelia Reinauer (ehem. Bürgermeisterin von Berlin
Friedrichshain-Kreuzberg, Die Linke), Britta Eder (Rechtsanwältin),
Dr. Brigitte Kiechle (Rechtsanwältin), Dr. Nikolaus Brauns (Wissenschaftlicher
Mitarbeiter der MdB Ulla Jelpke, Die Linke), Martin Dolzer (Soziologe
und Wissenschaftlicher Projektmitarbeiter des MdB und MdPaCE Andrej
Hunko), Yilmaz Kaba (Vorstandsmitglied, Die Linke Niedersachsen), Abdullah
Polat (Dozent), Ellen Jaedicke (Menschenrechtsaktivistin), Michael Knapp
(Historiker), Fidel Bicer (Die Linke), Marie-Yvonne Mateous (Frauenrechtsaktivistin),
Regis Mateous (Schäfer), Gülferiz Contay (Mediatorin), Antje Steinberg
(GEW)