Wissenschaftliche Studien zur kurdischen Frage im Mittleren Osten Selbstbewusste Kurden als Hindernis für Zugriff auf Ressourcen Martin Dolzer, Soziologe In dem folgenden Text werde ich die Studie des türkischen Journalisten Cengiz Çandar für die „Türkische Stiftung für wirtschaftliche und soziale Studien“ (TESEV) und zwei Studien für die „Stiftung für Wissenschaft und Politik“ (SWP) – allesamt aus dem Jahr 2011 – vergleichen. Hintergrund Die
SWP, das „Deutsche Institut für Internationale Politik und Sicherheit“
ist ein Think Tank, der die Bundesregierungen seit Jahren stark beeinflusst.
Die SWP sagt in ihrer Selbstbeschreibung: „Seit bald 50 Jahren berät
die Stiftung Wissenschaft und Politik den Bundestag und die Bundesregierung
ebenso wie die Wirtschaft und eine interessierte Fachöffentlichkeit
in außenpolitischen Fragen. Waren dies zu Beginn der Stiftungsarbeit
vor allem Fragen der Abrüstung, reicht das Spektrum heute von der klassischen
Sicherheitspolitik bis hin zu Aspekten des Klimaschutzes und politischer
Herausforderungen angesichts knapper Ressourcen. (...) Diese Aufgabe
der Kommunikation und des Austausches von Ideen auch in großer Nähe
zu EU und Nato nimmt besonders das Brüsseler Büro der SWP wahr.“ Diskussion in der Türkei
und die „TESEV-Studie“ In
den soziologischen Studien und im genannten Diskurs näherten sich die
Beteiligten bis zu den Parlamentswahlen 2011, von den jeweiligen Standpunkten
aus, der Realität an. Allgemein wahrgenommen wird, dass die politisierte
kurdische Bevölkerung ein hohes politisches Selbstbewusstsein entwickelt
hat und nicht gewillt ist, sich weiterhin autokratischen und durch militärische
Besatzung und psychologische Kriegsführung geprägten Strukturen unterzuordnen.
Bereits seit 2009, besonders jedoch seit kurz vor den Wahlen im Frühsommer
2011, spitzt die AKP-Regierung die Diskussion und ihr Handeln erneut
auf die militärische Vernichtung der PKK und die Zerschlagung funktionierender
legaler politischer Strukturen der KurdInnen durch Repression zu. In
diesem Rahmen wird, als ein Moment, auch immer wieder das Massaker gegen
die Tamilen als Handlungsoption zur Lösung der kurdischen Frage erwähnt. Die Studie von Cengiz Çandar enthält dagegen Vorschläge für Komponenten eines ernst gemeinten demokratischen Lösungsweges. Sie ist die vierte einer Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten der TESEV, in denen politische Lösungswege für die kurdische Frage thematisiert und skizziert werden, und trägt den Titel „Die kurdische Frage jenseits der Gewalt – Zurück aus den Bergen – Wege zur Entwaffnung der PKK“. Der Journalist traf sich u. a. mit dem Ministerpräsidenten, PolitikerInnen mehrerer Parteien, Kabinettsmitgliedern, Ministern, MeinungsführerInnen, den AnwältInnen A. Öcalans und führenden Persönlichkeiten der PKK. Çandar schlägt u. a. eine Amnestie für PKK-Mitglieder und Führungskader vor, um sozialen Frieden zu ermöglichen. Seiner Meinung nach sollte zuerst ein Klima des Vertrauens zwischen den Konfliktparteien – der Regierung und der PKK – geschaffen werden. Dazu wäre notwendig, die KCK-Verfahren zu beenden und die Inhaftierten, besonders die BürgermeisterInnen freizulassen. Des Weiteren sollte, so Çandar, die PKK weiterhin ihre Haltung der Selbstverteidigung beibehalten, während die türkische Armee ihre Operationen beenden müsse. Auf diese Weise wäre es möglich, die Kontinuität der gewaltförmigen Auseinandersetzungen zu durchbrechen. Mittlerweile sei es Zeit – und es wären die gesellschaftlichen Voraussetzungen vorhanden –, den Konflikt auf der politischen Ebene zu lösen. Dazu sei eine weitere Voraussetzung, dass der kurdischen Bevölkerung die Wege zu demokratischer Teilhabe eröffnet werden. Repression und eine militärische Zuspitzung würden die Menschen lediglich in die „Berge“ treiben. Neben der Beendigung der KCK-Verfahren sollten u. a. die Pressefreiheit und die uneingeschränkte Ausstrahlung kurdischer Sendungen ermöglicht werden. Auch die 10%-Hürde sei ein Hindernis auf dem Weg zur Demokratie. Im juristischen Bereich wären Gesetzesänderungen und die demokratische Umstrukturierung der Verfassung notwendig. Auch das Recht auf muttersprachlichen Unterricht sollte garantiert werden. Çandar dazu: „Den KurdInnen sollte in diesem Rahmen auch ein neuer Status gegeben werden, der den menschenrechtlichen und kommunalpolitischen Maßstäben der EU entspricht.“ Der Journalist fasst zusammen, dass sämtliche InterviewpartnerInnen darin übereinstimmen, dass Abdullah Öcalan eine wichtige Rolle als Dialogpartner in einem Friedensprozess spielen kann. Diesbezüglich wären kurzfristig die Verbesserung der Haftbedingungen und langfristig die Freilassung des Politikers mögliche Wege. Selbst die GegnerInnen der PKK und Mitglieder des Regierungsapparates könnten sich die genannten Schritte als Handlungsmöglichkeiten vorstellen. Çandar erkennt die Realität, dass die Treffen zwischen der Regierung und A. Öcalan in weiten Teilen der türkischen Gesellschaft Anerkennung finden. Die gesamte Studie ist aus liberaler Sicht geschrieben und im Vergleich zur momentanen Regierungspolitik der AKP unter R. T. Erdoğan eine wohltuende Herangehensweise. Aus emanzipatorischer Sicht hat sie jedoch eine große Schwäche. Die Logik Çandars verkehrt das Ursache-/Wirkungsverhältnis. Es ist nicht die kurdische Seite, die seit Staatsgründung eine Assimilations- und militärische Vernichtungspolitik betreibt und den Konflikt auslöst, sondern der türkische Staat. Die skizzierten Lösungsmöglichkeiten würden dementsprechend nur in einer humanistisch orientierten Gesellschaft funktionieren, in denen es den Verantwortlichen um das Wohl aller Menschen ginge – und Çandar ist Humanist. Die Koordinaten der patriarchal-kapitalistischen Gesellschaftsformationen in der Türkei, der EU und der USA sind allerdings andere. Die Herrschenden dieser Formationen orientieren hauptsächlich auf die Durchsetzung wirtschaftlicher und militärisch-strategischer Interessen – wenn nötig – oder wenn das gut für die Wirtschaft ist – auch mit Gewalt und gegen die Interessen der Mehrheit der Menschen. Historisch gesehen war es der Widerstand der PKK, der die kurdische Kultur vor ihrer Vernichtung bewahrte – und eine Selbstverteidigung gegen permanentes Unrecht ist völkerrechtlich legitim. Die SWP-Studien Guido Steinberg betrachtet die Region Mittlerer Osten und die kurdischen Bevölkerungsgruppen im Irak, im Iran, in Syrien und der Türkei in der Studie „Die neue Kurdenfrage – Irakisch-Kurdistan und seine Nachbarn“ hauptsächlich instrumentell. Die Regionalregierung von PUK und KDP im Nordirak ist seiner Ansicht nach ein wichtiger Stabilitätsfaktor, der durch Interessen seitens des Irans, Syriens und der irakischen Zentralregierung gefährdet ist: „Die Entwicklungen in dieser Region sind für die deutsche und europäische Politik vor allem relevant, weil der Irak Nachbar der Türkei ist, des wichtigsten und größten Beitrittskandidaten der EU“, ist eine Ausgangsthese. In Bezug auf die kurdische Frage in der Türkei fabuliert Steinberg: „Trotz aller Bemühungen der türkischen Regierung um eine Entschärfung der Kurdenproblematik eskalieren die Auseinandersetzungen zwischen dem türkischen Militär und der PKK im Osten des Landes immer wieder, auch die großen Städte im Westen der Türkei sind Ziel von Anschlägen.“ Festgeschrieben wird hier, im Gegensatz zu den von Cengiz Çandar erkannten Realitäten, die Dämonisierung der PKK – und vor allem die Terrorzuschreibung gegenüber ihrem politischen Handeln. Steinberg erweckt den Eindruck, als würde die PKK die großen Städte im Westen der Türkei mit Anschlägen überziehen. Als „Beweis“ führt er zu späterem Zeitpunkt die Anschläge der Freiheitsfalken (TAK) an, die er als Teil der PKK sieht. Deren selbst proklamierte Eigenständigkeit und Kritik an der zu „friedlichen“ Politik der PKK bezeichnet der „Wissenschaftler“, jenseits der Faktenlage, als Strategie der Befreiungsbewegung, deren Bestandteil die TAK wären. Die Friedensbemühungen der PKK, die Gespräche zwischen der türkischen Regierung und A. Öcalan sowie die Diskussionen in der türkischen Öffentlichkeit finden ebenso keine Erwähnung wie die verstärkten Militäroperationen, zunehmende Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen und systematische Angriffe staatlicher Kräfte auf die Zivilbevölkerung. Im weiteren Verlauf der Studie macht der Autor deutlich, dass die SWP in erster Linie an den reichhaltigen Öl- und Gasvorkommen im Nordirak und der Nabucco-Gaspipeline interessiert ist. Unter diesen Gesichtspunkten werden die Beziehungen der Akteure in den vier Ländern teils richtig, teils in mehr oder weniger „bewusster“ Fehlinterpretation beschrieben. Letztlich kommt Steinberg zu der Schlussfolgerung: „Deutschland und Europa sind an der Stabilität und territorialen Integrität des Irak und der Region insgesamt in hohem Maße interessiert. Beides könnte in Gefahr geraten, falls der Konflikt zwischen den irakischen Kurden und der Zentralregierung eskaliert und die Nachbarstaaten eingreifen. (...) Hinzu kommt, dass der Irak für Deutschland und Europa wirtschaftlich immer wichtiger wird. Beide erstreben einen Zugang zu den Energieressourcen des Landes – insbesondere um die Nabucco-Pipeline vielleicht doch profitabel betreiben zu können. Außerdem ist der Irak ein potentieller Absatzmarkt für deutsche Produkte. Und nicht zuletzt könnten deutsche Firmen durch eine Beteiligung am Wiederaufbau des Landes Verluste aus dem Iran-Geschäft wieder wettmachen. Diese deutschen Interessen spiegeln sich aber nur ungenügend in der deutschen Politik wider.“ (...) „Deutschland sollte beispielsweise entschiedener gegen die Strukturen der PKK hierzulande vorgehen und damit einer häufig geäußerten Forderung Ankaras nachkommen“, denn u. a. sei die Türkei „bestrebt, zur Energiedrehscheibe für Gas und Öl aus eben diesen Produzentenregionen zu werden.“ „Na dann, Herr Steinberg, sichern Sie fleißig die Ressourcen und Absatzmärkte – und hauen Sie ganz ungeniert immer feste druff auf diejenigen, die Ihnen dabei im Weg stehen“, könnte man etwas zynisch kommentieren. Die Realitäten und die konstruktiven Ansätze, die von Cengiz Çandar beschrieben werden, spielen in Steinbergs Konzepten, seinem Ziel entsprechend, keine Rolle. Der menschenverachtende Ansatz, dem die Studie entspringt – und den die Studie legitimieren soll –, „spiegelt sich“ aber leider „mehr als genügend“ in der deutschen Innen- und Außenpolitik „wider“. Eine zweite Studie der SWP von Günter Seufert beschäftigt sich mit der „Parlamentskrise nach den Wahlen in der Türkei“. Seufert beschreibt die in der „türkischen und angloamerikanischen Presse“ wachsende Kritik an der autokratischen Politik der AKP, in deren Rahmen vor der Wahl eine starke Opposition als notwendig für weitere Demokratisierungen gesehen wurde. Er hält diese Einschätzungen jedoch für übertriebene Ängste. Seifert beschreibt die Ausrichtung der AKP, CHP und MHP relativ genau. Die Stärke der BDP sieht er allerdings nicht aus der kontinuierlichen Entwicklung der kurdischen Bewegung gewachsen, sondern hauptsächlich als Resultat der nationalistischen Rhetorik der AKP. Der Wissenschaftler erkennt, dass die BDP eine kurdische Einheit gebildet hat, die „offen einen rechtlich abgesicherten politischen Status für die eigene ethnische Gruppe“ beansprucht und sich nicht von der PKK abgrenzt. Er verschweigt jedoch, dass das „Wahlbündnis für Arbeit, Demokratie und Freiheit“ auch Teile der türkischen Linken mit einbezieht. „Nicht ohne Grund setzen die Kurden der BDP heute auf Massenproteste, zivilen Ungehorsam und den Aufbau von Parallelstrukturen“, bringt er die kurdische Politik mit dem „Umbruch im Nahen Osten und in Nordafrika“, der „die Legitimität von Volksbewegungen erhöht“, in Verbindung. „Bei der Abwehr von Terroranschlägen der PKK kann die türkische Regierung auch weiterhin auf internationale Unterstützung zählen“, bekräftigt der Autor der Studie, ohne zu sagen, woraus er das ableitet. Die Verantwortung für die Krise nach den Wahlen tragen, Seufert zufolge, hauptsächlich die Oppositionsparteien CHP und BDP, die sich, statt sich gegen den Entzug von Mandaten zu wehren, wieder auf die parlamentarische Arbeit konzentrieren sollten. Auch die AKP habe jedoch mit der „Übernahme“ des Mandats von Hatip Dicle einen politisch nicht vertretbaren Schritt gemacht. Die EU sieht er in der Pflicht, alle Konfliktparteien dazu zu bewegen, „dass der parlamentarische Prozess wieder aufgenommen wird“. Denn „nur eine Türkei, der diese demokratische Transformation gelingt, ist ein berechenbarer Partner“. Auch Seufert skizziert die AKP als bestmöglichen Bündnispartner und ihre Dominanz als einzigen Weg zur Demokratisierung der Türkei. Während er richtigerweise einen Dialog über die Demokratisierung der Verfassung für notwendig hält, sieht er jenseits der realen Begebenheiten, dass in der Türkei „erstmals die Bevölkerung ihren Staat und nicht der Staat seine Bevölkerung“ formt. Die
beiden Autoren der SWP ignorieren die jeweils mehr als 1100 Fälle von
Folter in den Jahren 2009 und 2010, die 29 extralegalen Hinrichtungen
im Jahr 2010 und die über 3 500 Verhaftungen im Rahmen des KCK-Verfahrens. Die Studie von Cengiz Çandar kommt der Realität der türkischen Gesellschaft, in Bezug auf die kurdische Frage, dagegen am nächsten. Der Experte skizziert zumindest einen an humanistischen Werten orientierten dialogischen Lösungsweg. Er sieht die politisch Handelnden nicht als benutzbare Objekte im Rahmen wirtschaftlichen Kalküls, die außenpolitisch unterworfen oder innenpolitisch ruhiggestellt werden müssen, sondern als Subjekte mit Grund- und Menschenrechten. Çandar berücksichtigt und skizziert jedoch nicht die „aggressiven“ internationalen geostrategischen Komponenten und die machtpolitische, autokratische Ausrichtung der AKP, die einer friedlichen und demokratischen Lösung im Wege stehen. Erfahrungsgemäß müssen jedoch Demokratie und Menschenrechte in patriarchal-kapitalistischen Gesellschaftsordnungen von den Bevölkerungen in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen durchgesetzt werden. Die Herrschenden neigen sonst zu einer gewaltförmigen Umsetzung ihrer Interessen.
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