Repression
gegen KurdInnen in Frankreich am Beispiel Nedim Sevens
Instrumentalisiert für Profitinteressen
Nedim Seven im Interview
Der
kurdische Politiker Nedim Seven, der in Frankreich mehrmals wegen seiner
politischen Tätigkeit festgenommen und inhaftiert worden ist, spricht
im Interview mit dem Kurdistan Report über die Repression gegen politisch
aktive Kurdinnen und Kurden.
Können Sie für uns Ihren juristischen Kampf mit Frankreich zusammenfassen?
Wann kamen Sie nach Europa? Wann wurden Sie das erste Mal festgenommen
und wie ist die momentane Situation?
2006 kam ich nach Europa. Im März 2006 stellte ich aus diversen Gründen,
der UN- und der französischen Gesetzgebung entsprechend, Antrag auf
politisches Asyl. Zwischen März und Juni hatte ich eine vorübergehende
Aufenthaltsberechtigung, die jedoch nicht für Reisen außerhalb Frankreichs
galt. Am 1. August 2006 wurde ich an der belgisch-niederländischen Grenze,
in der Region Maastricht, in Gewahrsam genommen. Dies war ein im Voraus
geplanter Spezialeinsatz, an dem selbst die holländische Polizei teilnahm.
Grund für die Festnahme war allerdings nicht, so wie behauptet, die
Tatsache, dass die französische Aufenthaltsberechtigung in Holland nicht
galt.
Die holländische Polizei gab bekannt, dass Interpol mit „Roter Notiz“
nach mir fahndete. Nachdem das Maastrichter Gericht meine Inhaftierung
veranlasst hatte, blieb ich viereinhalb Monate im Gefängnis Vught in
der „Extra Gesicherten Einrichtung“ (EBI) in Einzelhaft. So kam es zu
meiner ersten Festnahme in Europa.
Obwohl ich zwischen März und August 2006 jede Region Frankreichs bereiste
und jeder bürokratischen Prozedur regulär nachkam, wurde mir von keiner
einzigen französischen Behörde mitgeteilt, dass nach mir mit einer „Roten
Notiz“ gefahndet wurde. Zwischen dem 17. Oktober und dem 5. Dezember
wurde der türkische Auslieferungsantrag vom Maastrichter Gericht abgelehnt.
Auf Grund des Schengener Abkommens wurde ich von Holland an Frankreich
ausgeliefert, wo mein Asylantrag noch lief. Nach einer Bearbeitungszeit
von 30 Minuten bekam ich erneut die vorübergehende Aufenthaltsberechtigung.
Ich habe die holländische Regierung auf Schmerzensgeld verklagt, auf
Grund der ungerechtfertigten Verfahren und der verschärften Isolationshaftbedingungen.
Ich gewann die Klage.
Zu einem Zeitpunkt während des ordnungsgemäßen Verfahrens, als ich mich
in keinerlei ungesetzliche Situation gebracht habe, wurden 18 kurdische
PolitikerInnen und ich am 5. und 6. Februar 2007 bei einem von französischen
Anti-Terror-Gerichten veranlassten Einsatz festgenommen, der das Resultat
internationaler Planung war und die „Imralı-Akte“ genannt wurde. Vom
9. bis 22. Februar saßen wir im Gefängnis und wurden nach kurzer Zeit
unter Auflagen freigelassen. Die französische Regierung benutzte, in
Kooperation mit türkischen Stellen, die kurdische Frage als ökonomische
Trumpfkarte im Spiel mit der Türkei und den USA. Dies gelang der Regierung
über uns, indem wir ungerechten Einsätzen, Angriffen und Razzien ausgesetzt
waren.
Am 7. Juli 2007 wurde ich mit zwei weiteren Freunden, ohne jeglichen
Beweis und obwohl wir unter Aufsicht standen, zum zweiten Mal bei einer
Hausdurchsuchung sechs Stunden lang festgehalten, anschließend unter
verschärften Auflagen freigelassen. Als wir erfuhren, dass am 12./13.
September türkische Verantwortliche nach Frankreich eingeladen waren,
um uns zu befragen, bin ich nach Italien geflüchtet. Da ich um die Verhandlungen
mit der türkischen Regierung wusste, blieb ich eine Weile in Italien.
Am 12. März 2008 wurde ich am Flughafen in Rom von der italienischen
Polizei erneut in U-Haft genommen. Während ich zivilrechtlich in Rom
im Gefängnis saß, wurde ich illegal nach Neapel entführt. Dort wurde
ich dreieinhalb Monate unter verschärften Sicherheitsbedingungen festgehalten,
und am 6. Mai wurde über meine Auslieferung an Frankreich entschieden.
Wegen eines offenen Verfahrens und meines laufenden Asylantrags wurde
ich am 19. Juni nach Frankreich zurückgeschickt. Der Antrag türkischer
Verantwortlicher auf meine Auslieferung an die Türkei wurde seitens
des Zivilgerichtes in Rom am 22. Dezember 2009 abgelehnt. Vom 19. Juni
2008 bis zum 26. Februar 2010 saß ich im Gefängnis La Santé in Paris.
In dieser Zeit fand sich am 22. August 2008 eine türkische Delegation
(Staatsanwaltschaft, Polizei, Geheimdienst, insgesamt fünf Personen)
gesetzeswidrig beim französischen Richter ein. Ich habe jedoch, gestützt
auf die UN-Menschenrechtscharta und deren Bestimmungen zum Schutz politischer
Flüchtlinge, die Aussage verweigert. Im Mai 2009 wurde ich zur gesetzeswidrig
geplanten Gegenüberstellung mit Geständigen der türkischen Seite in
einen Gerichtssaal gebracht. Als die nicht erschienen sind, wendete
sich der Fall zu meinen Gunsten.
Die türkisch-französischen Verhandlungen und das Gerichtsverfahren in
Frankreich liefen zeitgleich. Das war völlig gesetzeswidrig. Nicht zuletzt
wurde von französischer Seite, entgegen den zu meinen Gunsten gefällten
Entscheidungen, auf türkischen Antrag hin das Auslieferungsverfahren
gegen mich erneut aufgenommen.
Von 2008 bis 2010 liefen drei verschiedene Verfahren, was ungesetzlich
war. Am 27. Januar 2010 wurde am Zivilgericht von Paris der Antrag auf
meine Auslieferung zum dritten Mal abgelehnt. Trotz der Gerichtsurteile
von Maastricht, Rom und Paris zu meinen Gunsten war meine Auslieferung
immer noch Gegenstand von Verhandlungen gewesen.
Das Urteil im ersten Verfahren ist letztes Jahr gefällt worden. Wie
lautet es und wie bewerten Sie es?
Das erste Verfahren umfasst die Zeit vom 5./6. Februar 2007 bis zum
Juli 2011. Abgesehen von einer Person wurden alle 18 Angeklagten zu
Freiheitsstrafen von einem bis zu fünf Jahren auf Bewährung verurteilt,
das kurdische Ahmet-Kaya-Kulturzentrum wurde geschlossen.
Gegen das Urteil wurde Einspruch eingelegt und das Verfahren wird ab
dem 11. Februar 2013 wieder aufgenommen, neun Termine sind bis März
angesetzt. Nichtsdestotrotz sollte das Urteil vom 2. November, das als
politische Entscheidung zu werten ist, gut analysiert werden.
Die Verfahren waren mit der Begründung eingeleitet worden, dass die
PKK sich auf der Terror-Liste der EU befindet. Anschließend wurden uns
allerdings ausschließlich einfache strafrechtlich relevante Sachverhalte
vorgeworfen und wir wurden auf dieser Grundlage verurteilt. Ein weiterer
Beweis für die politische Natur des Urteils ist, dass wir zwar alle
auf Bewährung verurteilt worden sind, uns jedoch ein fünfjähriges Politikverbot
auferlegt worden ist. Das ist auch ein Indiz dafür, dass das Gericht
sein ursprüngliches Vorhaben verfehlt hat.
Vergangenes Jahr wurden Sie erneut verhaftet. Was war der Grund, wie
lange dauerte der Arrest und was sind die Folgen?
Am 4. Juni vergangenen Jahres war ich zu einer Volksversammlung im Kulturverein
Villiers-le-Bel eingeladen, wo ich dann in Folge einer gesetzeswidrigen
Durchsuchung festgenommen wurde. Die Bevölkerung dort reagierte auf
diesen faschistischen Übergriff mit Widerstand. Angesichts dieses gesetzeswidrigen
Übergriffes habe ich sowohl bei der polizeilichen Befragung als auch
vor Gericht die Aussage verweigert. Am 25. August wurde ich der Staatsanwaltschaft
gegenübergestellt und erfuhr dort vom Richter, wie dieser Einsatz gegen
uns geplant worden war. Bei dieser Befragung habe ich lediglich auf
Fragen geantwortet, die für den Verlauf relevant waren. Ich betonte,
dass es für diesen Übergriff keinen Grund gebe und jeder Gesetzesgrundlage
entbehre, und ich verurteilte die Tatsache, dass wir für den Dialog
mit der Türkei insbesondere im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen
instrumentalisiert werden. Nach acht Monaten bin ich unter Auflagen
wieder aus dem Gefängnis La Santé entlassen worden, da sich keine fundierte
Grundlage für die Anklage ergeben hatte.
Der Grund für meine Festnahme war der Vorwurf gewesen, Gelder für die
Partei einzutreiben und aktives Mitglied der PKK zu sein. Dafür hatten
sie allerdings keine konkreten Beweise. Momentan muss ich mich alle
48 Stunden melden, meine Unterschrift leisten. Es ist mir untersagt,
den 78. Bezirk zu verlassen und Personen aus demselben Verfahren zu
treffen, Versammlungen abzuhalten oder zu demonstrieren, das ist ebenfalls
verboten. Der Anklageordner ist neu und die Angeklagten dieses Verfahrens
befinden sich immer noch in Haft.
Nun hat sich in Deutschland ein Problem mit der Redefreiheit gezeigt,
das nicht zuletzt auf Grund der jüngsten Ereignisse am Beispiel Muzaffer
Ayatas deutlich geworden ist. Ihm wurde untersagt, auf Versammlungen
zu sprechen und in Zeitungen zu schreiben. Was ist das Ziel Europas
mit diesen Verboten?
Ich habe die Ereignisse um Muzaffer Ayata den Medien entnommen. Wie
es aussieht, gilt dieser Beschluss für 15 Personen in Deutschland. Diese
Entscheidung und die Vollstreckung stellen einen historischen Skandal
dar und sind eine Schande für Deutschland. Im internationalen Recht
gibt es so etwas nicht, weder im deutschen noch im europäischen Grundgesetz.
Es ist nichts weiter als ein Resultat der deutsch-türkischen Beziehungen.
Ich habe die Publikationen Ayatas der letzten Jahre verfolgt. Er hat
die faschistischen Machenschaften der AKP und den dunklen Hintergrund
der Fethullah-Gülen-Bewegung entlarvt. Deshalb denke ich, dass diese
Entscheidung auf Initiative aus der Türkei und deren Verbindung zum
deutschen Innen- und Außenministerium hin getroffen worden ist. Die
KurdInnen und ihre Verbündeten sollten diesem Skandal auf politischer
wie auch juristischer Ebene entgegentreten.
Diese Handhabung erinnert an nationalsozialistische Wertvorstellungen,
in denen Meinungs- und Redefreiheit keinen Platz hatten. Aus Intellektuellenkreisen
sollte die Solidarität mit Ayata durch Publikationen und Konferenzen
zum Ausdruck gebracht werden.
Das Verbot, auf keiner Versammlung reden und für keine Zeitung schreiben
zu dürfen, ist aufs Schärfste zu kritisieren. Auch denke ich, dass dieses
Verbot so bald wie möglich rückgängig gemacht werden sollte. Wenn nicht
gerade die Wiederbelebung des Faschismus in Deutschland bezweckt wird,
sollte sich schnellstmöglich von solchen Praktiken entfernt werden.
Wenn wir die Geschehnisse in Nah-/Mittelost berücksichtigen, zum Beispiel
in Syrien, wäre es Ihrer Meinung nach vorteilhaft für die europäischen
Staaten, in der Region kurz- oder langfristig eine Politik zugunsten
herrschender Staaten zu betreiben?
In Anbetracht der Ereignisse in der Region könnte das kurzfristig in
der Öl- und Energiepolitik vorteilhaft für die europäischen Staaten
sein. Aber mittel- und langfristig betrachtet könnte das für die europäischen
Staaten von Nachteil sein und somit auch für den Bestand der Europäischen
Union.
Zum Charakter des Kapitalismus gehört die Krise, die Hegemonial- und
die Gewaltpolitik zu seiner Natur. In Italien, Griechenland und Spanien
fand ein Machtwechsel bei den Regierungen statt, um den Profit der Kapitalisten
zu sichern, dabei hat sich aber die Finanzkrise verschärft. Die gesellschaftlichen
oppositionellen Bewegungen in Somalia, Libyen und in den arabischen
Ländern werden vom Bund der Herrschenden aus verschiedener Perspektive
dargestellt, die Grundidee der Aufstände verzerrt. Der neoliberale Bund
der Herrschenden im Dienste der USA verfolgt das Ziel, in Afrika, in
Nahost und in der arabischen Region sich langfristig seinen Teil an
Öl, Wasser und Energie zu sichern. Außerdem zeigt er auch neokolonialistische
Bestrebungen. Die Demokratie wird zweckentfremdet.
Die gesellschaftlichen Bewegungen, Frauen, die junge Generation und
das Proletariat sind für die Bestimmung der Zukunft Hauptträger der
Politik. Auch das kurdische Volk wird in diesen gesellschaftlichen Bewegungen
in den europäischen Ländern und im Nahen/Mittleren Osten eine wichtige
Dynamik für die Zukunft bilden. Nach 35 Jahren spielt das kurdische
Volk eine bedeutende Rolle in der Politik. Die anschaulichen Paradigmen
und Ideen Abdullah Öcalans, die das 21. Jahrhundert beschreiben oder
neue Perspektiven für das 21. Jahrhundert bieten, werden mit der Zeit
alle politischen Mächte beeinflussen. Ich kann das ganz klar sagen,
dass jeder neue Tag für das kurdische Volk mit neuen Errungenschaften
verbunden sein wird. Niemand wird sich diesem historischen Aufstieg
widersetzen können. Jegliche Macht des Systems wird nach und nach zerfallen.
Europa und die USA sind sich der Situation bewusst. Deshalb muss die
EU, wenn sie an der Entwicklung der Menschenrechte interessiert ist,
ihre Finanz- und Geschäftspolitik lassen und eine Politik für die Entwicklung
der Menschenrechte und gesellschaftlicher Freiheit verfolgen. Die demokratische
Entwicklung der EU ist nicht möglich mit den Beziehungen zu den herrschenden
Machthabern in der Region, sondern nur dann, wenn die EU wahre Beziehungen
zu den gesellschaftlichen Bewegungen unterhält, die als Ziel die Freiheit
zum Prinzip haben.
Wir bedanken uns für das Interview.
Ich danke Euch und dem gesamten Team für die Möglichkeit, mich zu äußern.