Muenster: Redebeitrag zu Holger auf Demo
Redebeitrag zu Holger für die Demo in Münster
Es war am 19.September letzten Jahres, Wahlkampfzeit. Die NPD und
die JN hatten zu einem Aufmarsch mobilisiert, nach Rostock -
Lichtenhagen. Das ist der Ortsteil, wo 6 Jahre vorher (1992)
Faschisten unter der Parole "Ausländer raus" ein Wohnhaus von
vietnamesischen Vertragsarbeitern angriffen, während Polizisten
zuschauten und rassistische Anwohner applaudierten. Die Provokation der
NPD, sich positiv auf diesen Progrom zu beziehen, hatte auch mehrere
tausend Antifas motiviert, zu einer Gegendemo nach Rostock zu kommen.
Der NPD-Aufmarsch wurde zwar in Lichtenhagen verboten, doch in Dierkow,
einem anderen Stadtteil Rostocks erlaubt. Die Gegendemo in der Innenstadt
war von starken Polizeikräften eingekesselt, als vom Lautsprecherwagen
bekanntgeben wurde, daß das Antifa-Infozelt von Faschos angegriffen wird.
Einige Leute, die außerhalb des Kessels waren, unter ihnen Holger, machten
sich auf den Weg zum Infozelt.
Auf der Straße vor dem Infozelt spielte sich dann laut Augenzeugen etwa
folgendes ab: Ein Auto hält an einer roten Ampel. Da kommt ein
aufgemotzter dunkler Kleinwagen angerast, macht eine Vollbremsung, wobei
er am Bordstein entlang rutscht, und kommt nicht mal einen halben Meter vor
dem anderen Auto zum stehen. Der Fahrer legt den Rückwärtsgang ein
und vollbringt mit quietschenden Reifen eine sogenannte Chikagowende.
Dann fährt er stark beschleunigend wieder in die Richtung aus der er kam.
Holger und eine weitere Person waren gerade auf der Straße um sie zu
überqueren. Der andere konnte gerade noch zur Seite springen, doch
Holger wurde vom Auto erfasst, durch die Luft geschleudert und blieb
dann mit schweren Kopfverletzungen liegen. Obwohl der Fahrer freie
Sicht und auch Ausweichmöglichkeiten hatte, unternahm er keinen
Versuch zu bremsen oder auszuweichen. Im Gegenteil, er
beschleunigte noch und fuhr auch danach ohne Zögern weiter.
Ein später von der DEKRA erstelltes Gutachten berechnete aus den
Spuren am Wagen eine Geschwindigkeit von 80 Stundenkilometern beim Aufprall.
Zum Glück kam recht bald ein Krankenwagen und brachte Holger in die
Uniklinik, wo er bald operiert wurde. Wenig Interesse das Geschehen
zu registrieren zeigte jedoch die Polizei. Vorbeikommende Einsatzkräfte
erklärten sich für nicht zuständig, eine Verkehrsstreife erschien erst
nach einer halben Stunde. Zeugen mußten sich regelrecht aufdrängen,
um gehört zu werden. Ermittlungen wie Ausmessen von Bremsspuren, die
sonst bei der Aufnahme von Unfällen üblich sind, wurden erstmal nicht
gemacht.
Etwa nach weiteren 20 Minuten wurde die Strasse fuer den Verkehr
freigegeben. Die Blutlache wurde vom fahrenden Verkehr verwischt...
Menschen, die gegen 14 Uhr die Straße aus Wut und Trauer besetzen wollten
wurden von der Polizei brutal von der Straße geräumt. Wörtliche
Antwort eines Polizisten auf die Bemerkung, dass dort ein Mensch
überfahren wurde und sogar noch die Blutlache zu sehen sei: "Das ist
doch nicht dein Blut, oder?"
Über die Verharmlosungspolitik der Polizeiführung schrieb die "Junge Welt":
Die Polizei räumte während der Pressekonferenz erst auf Nachfragen
ein »schädigendes Ereignis im öffentlichen Verkehrsraum« im Bereich
des Stadthafens ein. Es handele sich jedoch um einen normalen
Verkehrsunfall und habe nichts mit dem Demonstrationsgeschehen zu
tun. Der Fahrer habe sich »dem Unfallort abgewandt«, sich jedoch
später der Polizei gestellt. Nach einer Vernehmung sei der Fahrer
jedoch wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Auf Nachfrage erklärte
Abramowski, daß er zu dieser Freilassung nichts weiter sagen könne
und bat darum, die Fragen zu diesem Themenkomplex einzustellen:
»Der Herr Minister hat noch einen anderen Termin.«
Zu dieser Informationspolitik paßt, daß der Polizeichef zunächst
gegenüber der versammelten Presse erklärte, keine Erkenntnisse über
eine Zugehörigkeit des Täters zur rechten Szene zu haben, dies
jedoch unmittelbar darauf gegenüber einer Reporterin von ntv zugab,
»aus ermittlungstechnischen Gründen« darüber aber keine weiteren
Auskünfte geben könne.
In den folgenden Wochen, während Holger noch immer im Koma lag und
das öffentliche Interesse an Rostock nachließ, ging es weiter mit der
Strategie, aus dem Mordversuch eine Bagatelle zu machen.
Der Mordkommission wurde das Verfahren entzogen, der Vorwurf auf
"fahrlässige Körperverletzung" reduziert, noch bevor das
DEKRA - Gutachten wichtige Indizien für die Frage "Absicht oder nicht?"
liefern konnte. Der Fahrer bekam seinen Führerschein zurück.
Die Gerichtliche Zuständigkeit wurde von Rostock nach Tecklenburg im
Münsterland verlegt, da der Fascho hier in Lengerich wohnt. Ihm
wurde das Jugendrecht zugestanden, womit die Öffentlichkeit vom
Verfahren ausgeschlossen ist und auch das Strafmaß begrenzt ist.
Der zuständige Jugendrichter fühlte sich von diesem Fall wohl
überfordert und beantragte die Übernahme durch das Jugendschöffengericht
Ibbenbüren. Dieses wies Ende April die Übernahme zurück und gab zu verstehen,
daß es das Verfahren gegen Zahlung von ca 2000 DM einstellen würde.
Begründet wurde dies mit einem erheblichen Mitverschulden des
Geschädigten, also Holgers," der einfach auf die Straße gelaufen sein
soll". Außerdem sei bei dem Fahrer von einer Panikreaktion auszugehen,
"in der sich ein Fluchtinstinkt durchsetzte".
Einige Monate später beantragt dann der Jugendrichter die Einstellung.
Holger als Nebenkläger hätte keine Möglichkeiten gehabt, die Einstellung
zu verhindern. So lag die Entscheidung bei der Staatsanwaltschaft Münster.
Vor zwei Wochen hat sie nun entschieden, dass das Verfahren nicht
eingestellt werden soll, dass Prozesse stattfinden sollen. Mal eine
positive Meldung, vielleicht sogar ein kleiner Erfolg für uns, für alle
die sich gegen das stillschweigende Vergessen dieser und anderer
faschistischer Gewalt engagiert haben.
Doch machen wir uns nichts vor. Die Staatsgewalt wird nicht unsere
Interessen vertreten. Die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ist
pure Fassade, die Geschichte auch in diesem Fall zeigt das Gegenteil.
Vielleicht können wir den Staat dann und wann dazu bringen, etwas in
unserem Sinne zu tun, weil er seine Fassade aufrechterhalten will,
doch eine Perspektive bietet uns eine solche Forderungspolitik nicht.
Wenn wir wirklich etwas erreichen wollen, müssen wir unsere eigene
Stärke aufbauen, uns selbst organisieren.
Nicht Butter und Quark, Solidarität macht stark !
Solidarität hat auch Holger wieder stark gemacht. Er wäre gerne
hergekommen, doch aus versicherungstechnischen Gründen kann er
nicht. Aber er sagt, daß es ihm gut geht, daß er froh ist noch zu
leben und daß es ihm gut tut, soviele Freunde und Freundinnen
überall zu haben.
Er ist weiterhin in der Reha-Klinik, wo er nach dem allmählichen
Erwachen aus dem Koma elementare Fähigkeiten wie essen, laufen,
sprechen, schreiben und lesen von neuem erlernen mußte. Im ersten
halben Jahr bekam er eine intensive Betreuung von Freunden und
Freundinnen aus Dresden und Frankfurt, so daß täglich jemand für ihn
da war. Dazu noch viele Kurzbesuche. In dieser Zeit machte er
gesundheitliche und Lernfortschritte, die sogar die Ärzte und Pfleger
in Erstaunen versetzte.
Doch Solidarität stärkt nicht nur die, denen die Solidarität gilt,
sondern auch die, die sie ausüben. Ich hab jedenfalls die
Solidarität mit Holger immer wieder als ermutigend empfunden. Zum
Beispiel die Spontandemo in Uelzen am Tag danach, wo die Stadt
gleichzeitig von DVU-Plakaten gesäubert wurde. Wenn Anfragen kommen,
wie's Holger geht, Nachrichten von Soliveranstaltungen, wenn Zeitungen
bis nach Bern hinunter von dem Fall berichten und Aufrufe veröffentlichen,
wenn ich beim Besuch von Holger auch andere Freunde treffe, dann ist
das immer auch ein kleines Stück verwirklichte Utopie von einer
solidarischen Gesellschaft.
Was zu wünschen bleibt, ist daß die Solidarität nicht bei Holger stehn
bleibt, daß darüber die anderen Opfer faschistischer und rassistischer
Gewalt nicht vergessen werden. Holger hatte das Glück oder das Privileg
mittendrin zu sein in Strukturen, die den Vorfall an die große Glocke
hängen konnten. Andere, besonders Menschen mit anderer Hautfarbe und
aus anderen Ländern, haben dies nicht. Sie müssen oft allein mit den
Folgen der Angriffe fertig werden. Wir sollten nach Möglichkeiten
suchen, sie in unsere Solidarität miteinzubeziehen.
Zum Schluß noch ein Gruß von Holger:
"Laßt euch nicht unterkriegen! "
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