Kurdistan/ Türkei: Delegation berichtet über Situation in den Knästen
Delegation des Arbeitskreises fuer politische Gefangene in der Tuerkei
und in Kurdistan
Senem Jazeschen, Thomas Voelter, Otto Hoffmann, Heidi Lankisch
15. Februar 2001
Mitteilung an die Presse
in der vergangenen Woche haben wir, zwei Ärzte, eine Journalistin und
ein Mitglied des Arbeitskreises fuer politische Gefangene in der
Tuerkei und in Kurdistan, die auch als Dolmetscherin fungierte, uns in
Istanbul/Tuerkei ueber die Situation der politischen Gefangenen
informiert. Wir kamen mit erschuetternden Eindruecken zurueck. Grund
der Reise war das Informationsbeduerfniss wegen der sehr spaerlichen
Berichterstattung ueber das Massaker an politischen Gefangenen am 19.
Dezember 2000 durch die Tuerkischen Sicherheitskraefte und die
Bedeutung der Errichtung sogenannter F-Typ-Gefaengnisse fuer
politische Gefangene. In Istanbul hatten wir ausfuehrliche Gespraeche
mit Menschenrechtsgruppen, u.a. mit dem bekannten Menschenrechtsverein
IHD, mit Vertretern verschiedener Gewerkschaften, ausserdem mit
einzelnen RechtsanwaeltInnen und mit VertreterInnen eines
Rechtsanwaltsvereines sowie mit Angehoerigen der betroffenen
Gefangenen und Angehoerigen verschwundener Oppositioneller, den
sogenannten Samstagsmuettern. Darueber hinaus hatten wir die
Moeglichkeit, mit einem ehemaligen Gefangenen zu sprechen, der zwei
Wochen nach seiner Verlegung in eines der F-Typ-Gefaengnisse nach
Verbuessung seiner Haftstrafe entlassen worden war. Er hatte das
Massaker, bei dem 30 Menschen getoetet und weit ueber 100 schwer
verletzt worden waren, im Gefaengnis von Ceyhan miterlebt. Ein bereits
verabredetes Gespraech mit der AErztekammer konnte nicht stattfinden,
weil sich deren Vertreter so sehr unter Druck sahen, dass sie aus
Angst vor Konsequenzen den Termin absagten. Nach heftigen
oeffentlichen Diskussionen ueber und Protesten gegen die
F-Typ-Gefaengnisse hat die Tuerkische Regierung vor zwei Monaten den
Medien jegliche Berichterstattung zu diesem Thema verboten. Wegen der
hohen Strafen, die die verantwortlichen MedienvertreterInnen zu
erwarten haben, wird das Verbot weitgehend eingehalten. Dennoch finden
sich immer wieder JournalistInnen bei den Pressekonferenzen der
Menschenrechtsorganisationen ein, um sich wenigstens persoenlich
informieren und vielleicht spaeter berichten zu koennen. Seit Mitte
vergangener Woche ist es ausserdem verboten, AuslaenderInnen zu den
Pressekonferenzen zuzulassen, weil offenbar eine Solidarisierung aus
Europa mit der Tuerkischen und Kurdischen Bevoelkerung befuerchtet
wird. Wie wir durch eigene Erfahrung feststellen mussten, wird die
Einhaltung dieses Verbotes durch die Anwesenheit von Zivilpolizisten
bei den Pressekonferenzen durchgesetzt. Damit soll verhindert werden,
dass die innertuerkische Zensur durch Berichterstattung aus dem
Ausland durchbrochen wird. Umso mehr ist der Mut derer zu bewundern,
die unter grosser Gefahr fuer ihre eigene Gesundheit, Freiheit und
fuer ihr Leben Informationen an uns weiter gegeben haben. Diese und
viele andere Unterdrueckungsmassnahmen zeigen die Schwaeche des
Staates gegenueber einer Bevoelkerung, die sich organisieren und
geschlossen erheben koennte.Ein Staat, der - wie wir gesehen haben -
300 schwer bewaffnete Polizisten gegen sechs demonstrierende
Samstagsmuetter aufmarschieren laesst, um auf diese Weise die
Bevoelkerung einzuschuechtern, muss schon grosse Angst vor ihr haben.
Er muss sie in Schach halten und dafuer die gesamte demokratische
Opposition zerschlagen. Die F-Typ-Gefaengnisse sind dafuer ein
Hilfsmittel. Die Schwaeche des Staates zeigt sich nicht nur in den
Massnahmen zur Verhinderung von Informationen. Die Tuerkische
Regierung bricht ihre eigenen Gesetze. So werden, obwohl dies
gesetzlich verboten ist, sogar Untersuchungshaeftlinge in die neuen
Gefaengnisse verlegt und dort misshandelt. Gegen bestehendes Recht
werden die RechtsanwaeltInnen der politischen Gefangenen, wenn sie
Ihre MandantInnen besuchen wollen, einer ausgesprochen
entwuerdigenenden und demuetigenden Behandlung unterzogen. Sie muessen
sich bis auf die Unterhosen ausziehen und werden koerperlich
durchsucht. Alle Unterlagen, die sie bei sich tragen, werden gefilzt,
es besteht der Verdacht, dass sie auch kopiert werden. Vertrauliche
Gespraeche mit den MandantInnen sind unmoeglich. Sie werden durch
Kameras und Mikrofone ueberwacht, ausserdem durch Gefaengnisbeamte
beobachtet. Auch bei gleichlautender Anklage, z.B. bei der Festnahme
einer Gruppe Oppositioneller, duerfen die AnwaeltInnen nur einzeln und
nur bis zu fuenf Minuten mit ihren MandantInnen, die vollstaendig
isoliert sind, sprechen. Die Gefangenen in den F-Typ-Gefaengnissen
haben keinerlei Gemeinschaftsraeume, keinen gemeinsamen Hofgang, keine
Sport oder sonstige Bewegungsmoeglichkeiten. Strom und Heizung werden
ihnen abgeschaltet, wenn sie nicht bezahlen (koennen). Bekleidung und
Koerperpflegebedarf muessen im Gefaengnis zu weit ueberhoehten Preisen
gekauft werden. Unsystematische, aber auch systematische Folter und
Vergewaltigungen sind an der Tagesordnung. Eine Kontrolle der
Haftbedingungen Einzelner ist nicht moeglich, weil sich die Gefangenen
untereinander nicht verstaendigen und keine Informationen nach
draussen geben koennen. Haeufig werden Besuche Angehoeriger nicht
erlaubt. Drei F-Typ-Gefaengnisse sind mittlerweile fertiggestellt,
acht weitere sind im Bau, es sollen jedoch insgesamt 100 in der
Tuerkei und in Kurdistan errichtet werden. Die Errichtung dieser
Gefaengnisse war eine der Bedingungen fuer einen
sechs-Milliarden-Dollar Kredit des Internationalen Waehrungsfonds an
die Tuerkische Regierung, als diese Ende 1998 kurz vor dem
Staatsbankrott stand und so pleite war, dass sie sogar die Gehaelter
ihrer eigenen Europarats-Beamten eingezogen hat. Die Bundesrepublik
Deutschland hat ein grosses wirtschaftliches und strategisches
Interesse an der Tuerkei. Sie unterstuetzt deswegen den Tuerkischen
Staat im Kampf gegen die demokratische Opposition, indem sie Waffen
liefert, die sog. Spezialeinheiten ausbildet und Kurdischen und
Tuerkischen AsylbewerberInnen das Asylrecht weitgehend verweigert und
sie ihren Verfolgern wieder ausliefert. Auch hier in Deutschland ist
Information und Solidaritaet gefordert. Seit etwa einem Jahr war
bekannt, dass die politischen Gefangenen in absehbarer Zeit in diese
Gefaengnisse in die Isolationsfolter gebracht werden wuerden. Als die
Verlegung bevorstand, haben mehrere Hundert Gefangene einen
Hungerstreik begonnen, mehr als Hundert von ihnen haben mittlerweile
Vitamingaben, Salz- und Zuckerzusaetze abgelehnt und befinden sich
nunmehr zwischen dem 110ten und 120sten Tag im Todesfasten. Viele
weitere sind nach und nach dem Hungerstreik beigetreten. Insgesamt
besteht derzeit bei etwa 240 Gefangenen Lebensgefahr wegen des
Hungerstreiks. Die Regierung hat bei Hungerstreikenden, die bewusstlos
geworden sind, Zwangsernaehrung angeordnet, wohl wissend, dass diese
nach so langem Hungern die Gefangenen in unmittelbare Lebensgefahr
bringt. Alle Hungerstreikenden, auch die die sich im Todesfasten
befinden, haben angekuendigt, dass sie ihren Hungerstreik aufgeben,
wenn auch nur minimale Verbesserungen in den F-Typ-Gefaengnissen
vorgenommen werden. Die wesentlichen Forderungen sind: die Einrichtung
von Gemeinschaftsraeumen, in denen sie lesen und miteinander sprechen
duerfen, die Moeglichkeit zu gemeinsamem Hofgang, Besuchserlaubnis
fuer Angehoerige und RechtsanwaeltInnen, Zulassung von unabhaengigen
AErzten mit der Moeglichkeit der Untersuchung und Behandlung. Ganz
besonders wichtig ist die Einrichtung von Gemeinschaftsraeumen und die
Moeglichkeit miteinander zu reden. Dies wuerde erstens gewaehrleisten,
dass bemerkt wird, wenn jemand gefoltert oder gar getoetet worden ist,
es wuerde aber auch die Zerstoerung der Persoenlickeit der Gefangenen,
die mit der Isolationsfolter angestrebt ist, verhindern helfen. Auch
wenn die Forderungen nach Verbesserung der Haftbedingungen fuer das
Leben der Haeftlinge zur Zeit im Vordergrund stehen, haben die
Menschen ihre eigentlichen Ziele, Freiheit fuer alle politischen
Gefangenen und Durchsetzung demokratischer Rechte noch lange nicht
aufgegeben. Zwar ist dieser Kampf durch die massiven
Unterdrueckungsmassnahmen, die der Staat in den vergangenen 20 Jahren
in Nordkurdistan ausprobiert und jetzt auch auf die Westtuerkei
uebertragen hat, derzeit geschwaecht, es darf jedoch nicht uebersehen
werden, was die Menschen dort schon alles unternommen haben, um ihre
berechtigten Interessen durchzusetzen und dass dieser Widerstand
weiterhin notwendig ist und Viele taeglich ihr Leben dafuer riskieren.
Die Isolationsfolter wurde bereits in den 70er Jahren in Deutschland
heftig kritisiert, als Hochsicherheitstrakte fuer RAF-Gefangene
eingerichtet wurden. Die Tuerkei bezieht sich in den wenigen
AEusserungen, die sie zu den F-Typ-Gefaengnissen gemacht hat, darauf,
dass auch Staaten wie z.B. Deutschland solche Gefaengnisse
unterhalten. Sicher wurden die Hochsicherheitsgefaengnisse auch in
Deutschland nicht nur fuer wenige RAF-Gefangene gebaut, sondern fuer
den Fall, dass sich die gesellschaftlichen Widersprueche eines Tages
auch hier so zuspitzen, dass der Staat die Bevoelkerung nur noch mit
Gewalt in Schach halten kann. Dabei ist jedoch zu beruecksichtigen,
dass Deutschland bei aller notwendigen Kritik nicht mit einem Staat
wie der Tuerkei verglichen werden kann, wo mit faschistischen
Massnah-men jegliche Opposition nicht nur zum Schweigen gebracht,
sondern physisch und psychisch vernich-tet wird. Darueber hinaus
handelte es sich bei den RAF-Gefangenen um hoechstens 70 Personen,
waehrend in den Tuerkischen Gefaengnissen mehr als 12000 politische
Gefangene einsitzen. Auch sind diese von ihren Straftaten her nicht
mit den ehemaligen Gefangenen der RAF zu vergleichen. Es handelt sich
bei den politischen Gefangenen in der Tuerkei und in Nordkurdistan im
wesentlichen um Menschen, die verurteilt wurden oder in
Untersuchungshaft sind wegen Delikten, die in keinem anderen Staat in
Europa strafbar sind. Dazu gehoeren oeffentliche Meinungsaeusserungen,
das Verteilen von kritischen Flugblaettern, die Teilnahme an
Demonstrationen, das Verfassen und/oder die Veroeffentlichung von
kritischen Artikeln in Zeitungen oder auch nur der Gebrauch der
Kurdischen Sprache. Die Ausuebung der freien Meinungsaeusserung, der
Versammlungsfreiheit und anderer Grundrechte, die in anderen
Europaeischen Staaten durch die Verfassung geschuetzt ist, wird in der
Tuerkei als terroristische Aktivitaet mit bis zu 18 Jahren Gefaengnis
bestraft. Und um diese politischen Gefangenen geht es. Jegliche Form
des Protestes wird als Terrorismus diffamiert. Die Bevoelkerung ist
offensichtlich soweit eingeschuechtert, dass nur noch wenige
Menschenrechtsgruppen, Gewerkschaften und politische Parteien bereit
und in der Lage sind, in sehr vorsichtiger Form Kritik an den
Massnahmen des Staates zu ueben. Die voellige Unterbindung jeglicher
Berichterstattung ist ein probates Mittel, auch Proteste aus dem
Ausland zu verhindern. Es ist dringend notwendig, dass JournalistInnen
aus Europa sich ein eigenes Bild von den herrschenden Zustaenden in
der Tuerkei machen und darueber berichten. Wir duerfen uns nicht auf
die wenigen Nachrichten verlassen, die von den vereinzelten
KorrespondentInnen in der Tuerkei uebermittelt werden. Sie erhalten
ihre Informationen von den gleichgeschalteten und zensierten
Tuerkischen Medien. Dabei hat die Tuerkische Regierung in ihren Medien
keinerlei Probleme, sogar eine kleine Gruppe von 12 Angehoerigen der
Gefangenen, die vor einem Gefaengnis sitzend darauf hoffen, ihre
Kinder und Geschwister sehen zu duerfen, mit einem riesigen
Polizeiaufgebot zusammenschlagen und entfernen zu lassen, diese
Operation zu filmen und den Film den Medien zur Verfuegung zu stellen.
Bei der Sendung in den Nachrichten wird diese Aktion als eine
Operation gegen gefaehrliche Terroristen vorgestellt und damit auch
die Bevoelkerung durch Fehlinformationen gegen jeden Protest
aufgehetzt. Gleichzeitig werden die Angehoerigen der Gefangenen
kriminalisiert und muessen staendig selbst mit einer Anklage wegen
Terrorismus rechnen, nur weil sie auf die Moeglichkeit zu einem Besuch
im Gefaengnis gehofft hatten. Ein ausfuehrlicher Bericht ueber die
Delegationsreise und die einzelnen Gespraeche mit einer Vorstellung
der GespraechspartnerInnen wird Anfang naechster Woche vorliegen. Er
kann ueber den
"Arbeitskreis fuer politische Gefangene in der Tuerkei und in
Kurdistan", c/o Immigranten-Kulturverein e.V., Fritz-Elsass-Str. 60, D
- 70174 Stuttgart
bezogen werden. Fuer Rueckfragen und Kontakte zu den anderen
Delegationsmitgliedern steht Thomas Voelker (Telefon: 07432-3780)
gerne zur Verfuegung.
Mit freundlichen Gruessen
fuer die Delegation
Heidi Lankisch
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