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Hamburg: Totalverweigerer verurteilt

Den Kriegsdienst zu verweigern ist in Deutschland verboten
Konsequenter Kriegsdienstverweigerer verurteilt
Ordnungsgelder gegen Zuschauer verhängt

Hamburg, Dresden, Frankfurt/M, 18.05.01. Heute wurde der konsequente
Kriegsdienstverweigerer J (23) vor dem Landgericht Hamburg verurteilt. Das
Gericht befand ihn der Dienstflucht (§53 Zivildienstgesetz, ZDG) für schuldig
und verhängte eine Freiheitsstrafe von 6 Monaten, die es zur Bewährung
aussetzte. Gegen vier Zuschauer, die sich zur Urteilsverkündigung nicht erheben
wollten, verhängte der vorsitzende Richter Ordnungsgelder zu je DM 500,--. Die
Verteidigung wird weitere Rechtsmittel prüfen.
Reher war am 03.11.00 vom Amtsgericht Hamburg-Harburg überraschend aufgrund
der in Art. 4 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) garantierten Gewissensfreiheit
freigesprochen worden. Es handelte sich dabei um den ersten auf dieser
Grundlage basierenden Freispruch für einen Totalverweigerer seit fünfzehn Jahren. Die
Staatsanwaltschaft hatte gegen dieses Urteil Rechtsmittel eingelegt und 10
Monate, ausgesetzt zur Bewährung verlangt.
Das Vorfeld des Verfahrens wird von harschen Auseinandersetzungen mit dem
Vorsitzenden Richter am Landgericht Michael Kaut geprägt. Zunächst hatte der
Vorsitzende sich geweigert, einen Hauptverhandlungstermin aufzuheben, zu dem
einer der beiden Verteidiger verhindert war. Der Richter erklärte, "daß selbst
die Verhinderung eines weiteren Verteidigers ... unbeachtlich wäre" -
entgegen jeder hierzu ergangenen Rechtsprechung. Erst auf die Verhinderung des
Angeklagten selbst hin hob der Richter den Termin auf. Darüberhinaus hatte der
Richter wahrheitswidrig behauptet, dass eine Terminabsprache nicht möglich
gewesen sei; tatsächlich hatte der Vorsitzende eine solche Absprache nicht einmal
versucht. Eine erstes Ablehnungsgesuch wegen der Besorgnis der Befangenheit
blieb dennoch erfolglos.
Zudem erließ der Richter eine "Sicherheitsverfügung", in der u.a. - obwohl
schon die Verhandlung am Amtsgericht ohne jeden Zwischenfall verlief - die
Kontrolle aller Besucher angekündigt und darüberhinaus ausgeführt wurde, daß
selbst dann mit der Verhandlung begonnen werden würde, wenn noch nicht alle zu
kontrollierenden ZuschauerInnen Einlass gefunden hätten. Dies wäre aber ein
klarer Verstoß gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit gewesen; ebenso die
Ankündigung, daß nur Pressevertreter berechtigt seien, Schreibutensilien in den
Saal mitzunehmen. Wegen dieser Ankündigung rechtswidriger Maßnahmen wurde ein
zweites Ablehnungsgesuch gegen den Richter eingereicht. Auch dieses Gesuch
wurde als unbegründet abgewiesen. Der nunmehr bereits zum zweiten Mal für die
Befangenheitsentscheidung zuständige Richter Borwitzky weigerte sich dabei
ausdrücklich, die explizite Ankündigung rechtswidriger Maßnahmen auch nur einer
Kontrolle zu unterziehen, ob hierdurch die Besorgnis der Befangenheit
begründet sein könnte.

Am ersten Verhandlungstag unterließ Kaut dann aber zumindest die schwersten
Rechtsbrüche. So begann die Hauptverhandlung erstmals um 10:53, nachdem die
rund 70 Besucher beim Einlass strengen Sicherheitskontrollen unterzogen
worden waren. Allerdings weigerte sich das Gericht, die drei dienstlich anwesenden
PolizeibeamtInnen in Zivil aus dem Saal entfernen zu lassen. Obwohl das
Landgericht Hamburg 1980 in einer solchen Handlung einen Befangenheitsgrund
gesehen hatte, entschied Richter Borwitzky auf das nunmehr dritte
Ablehnungsgesuch, dass die Polizei selbst Teil der Öffentlichkeit sei! Der Vorsitzende
Richter Kaut verstieg sich zu der Aussage, dass schließlich jedermann gestattet
sei, "als Zuschauer an der öffentlichen Hauptverhandlung teilzunehmen, sei er
nun Deutscher oder Ausländer, Jude oder Christ, Student oder Schüler, Ingenieur
oder Polizist."
Inhaltlich kam es erst gegen 13:20 Uhr zu einem Beginn der Hauptverhandlung.
Der Student klärte in einer knappen Stunde über die Hintergründe seiner
Verweigerung auf: er halte auch den Ersatzdienst für einen "militärisch
verplanten Dienst, bei dem obendrein unausgebildete Hilfskräfte das Fachpersonal von
seinen Arbeitsplätzen verdrängt", deshalb habe er diesen nicht angetreten. Zu
seinen Gründen äußerte er sich: "Der Zivildienst geht genau wie der direkte
Waffendienst bei der Bundeswehr in die Strategie der Gesamtverteidigung ein.
Selbst das Bundesverteidigungsministerium und dieses Gericht bestreiten nicht,
daß Kriege ohne Zivildienstleistende nicht mehr führbar sind. Meine
Entscheidung, auch den Ersatzdienst zu verweigern, ergab sich einfach zwingend aus
den Gründen, warum ich eigentlich nicht zum Bund wollte."
Damit gehöre er zu den Menschen, denen man vorenthält, was gemeinhin als
große Errungenschaft der Bundesrepublik gewertet wird: Aus Gewissensgründen den
Kriegsdienst zu verweigern. Denn das einzige, was in Deutschland rechtmäßig
abgelehnt werden kann, ist der direkte Waffeneinsatz. "Es ist für mich
jedoch nicht ausreichend, niemanden erschießen zu müssen, um dafür im
Sanitätswesen diejenigen zu versorgen, die dann an meiner Stelle kämpfen. Daran
ändern auch solche Urteile nichts"

Der zweite Verhandlungstag brachte zunächst die ablehnende Entscheidung zu
dem inzwischen vierten Befangenheitsantrag, den die Verteidiger gegen den
Vorsitzenden Richter Michael Kaut eingebracht hatten. Anlass für dieses
Ablehnungsgesuch war die Verfügung des Vorsitzenden am Ende des ersten
Verhandlungstages, die umstrittene Sicherheitsverfügung in weiten Teilen aufrecht zu
erhalten, obwohl der erste Verhandlungstag gezeigt hatte, dass es hierfür keinerlei
Anlass gegeben hatte.
Anschließend lehnte das Gericht einen Beweisantrag, der die militärische
Verplanung des Zivildienstes untermauerte, ab. Zur Begründung führte es aus, daß
die behaupteten Tatsachen entweder offenkundig bzw. durch die Einlassung
Rehers schon bewiesen seien. Im übrigen aber, so das Gericht, seien "die unter
Beweis gestellten Tatsachen aus Rechtsgründen für die Entscheidung ohne
Bedeutung", da sie "keinerlei Auswirkungen auf die Frage der grundsätzlichen
Anwendbarkeit der hier fraglichen Vorschriften des Zivildienstgesetzes" hätten.
Damit hat das Gericht deutlich signalisiert, dass es bereits vor Abschluss des
Verfahrens beabsichtige, den Angeklagten zu verurteilen.
Staatsanwalt Gies eröffnete sein Plädoyer mit den Worten, dass "es kein
Grundrecht auf Verweigerung des Zivildienstes" gäbe. Eine Anerkennung einer
Gewissensentscheidung wie bei dem Angeklagten in dem Sinne, dass die Verweigerung
des Zivildienstes sanktionslos bleibe, habe letztlich die "Abschaffung der
Zivildienstpflicht" zur Folge. Im übrigen könnten Gewissensgründe gegen den
Zivildienst nur anerkannt werden, wenn sich diese unmittelbar gegen die
Tätigkeit als solche richteten. Dies sei aber bei einer "rein humanitären Aufgabe"
wie der Pflege von Menschen nicht vorstellbar. Gies beantragte eine
Freiheitsstrafe von zehn Monaten, die allerdings auf drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt
werden könnten.

Am heutigen dritten Verhandlungstag kamen Rehers Verteidiger zu Wort. Sie
gingen auf die Umstände dieses Verfahrens ein und forderten die Schöffen auf
"einem Richter Einhalt zu gebieten, der sich in so sicherer Gesellschaft unter
seinen Kollegen wähnt, daß er sich sicher sein konnte, daß ihn auch die
Ankündigung, er werde sich nicht an Recht und Gesetz halten, nicht aus diesem
Verfahren entlassen werde." Und: "Sie als Schöffen können den Richter
überstimmen." Außerdem gingen sie in ihren insgesamt knapp zweistündigen Plädoyers sehr
ausführlich auf die bisherige Rechtsprechung ein und zeigten auf, weshalb der
Angeklagte freigesprochen werden müsse.
Zur Urteilsverkündung weigerten sich zunächst fünf Zuschauer aufzustehen.
Gegen vier von ihnen wurden Ordnungsgelder in Höhe von je DM 500,-- verhängt.
Dazu Rehers Verteidiger: "Dies ist ein völlig unverhältnismäßiges Vorgehen. So
etwas ist die letzten 20 Jahre nicht mehr vorgekommen, erst recht nicht in
derartig exorbitanter Höhe"
Die Urteilsbegründung fiel auffallend zurückhaltend aus: Reher habe aufgrund
der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtes verurteilt werden müssen, 6
Monate seien schuldangemessen. Aufgrund der günstigen Sozialprognose hätte die
Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden können. Das Gericht empfahl, nach
Durchschreitung des Instanzenweges, den Fall vor das Verfassungsgericht zu bringen.
Reher: "Diese Begründung trägt nicht die Handschrift des Richters. Wir sind
mit diesem Urteil zwar nicht zufrieden, aber die Schöffen haben das Gröbste
verhindert." Die Verteidigung wird weitere Rechtsmittel prüfen.

Besonders prekär ist dieser Prozessverlauf, da am Landgericht Hamburg eine
Sonderzuständigkeit für Wehrstrafsachen existiert. Bisher hatte diesen Posten
die Richterin Kögel inne. Diese hatte sich quer durch die Republik mit den
Jahren einen besonderen Ruf erarbeitet, da sie grundsätzlich versuchte, gegen
Totalverweigerer ein Strafmaß von 10 Monaten ohne Bewährung durchzusetzen.
Nach der Pensionierung der Richterin ist nun Richter Kaut an ihre Stelle
getreten. Es handelt sich bei diesem Verfahren um die erste bekannte
Berufungsverhandlung gegen einen Totalverweigerer unter Vorsitz von Kaut. "Richter Kaut
scheint mit aller Macht diese Tradition fortsetzen zu wollen - ohne Rücksicht auf
die Diskussion um die Zukunft der Bundeswehr oder die Frage der Legitimität
und Legalität deutscher Auslandseinsätze" so Reher

Weitere Informationen finden sie vorläufig im Internet unter
 http://www.whm.tu-harburg.de/horst/
Bildmaterial stellen wir auf Anfrage zur Verfügung.

Aktenzeichen:
7303 Js 220/99 (StA Hamburg)
619 Ds 32/00 (AG Hamburg-Harburg)
711 Ns 10/01 (LG Hamburg)

Für die Richtigkeit,
Susanne Münch

 

18.05.2001
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