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bundesweit: Medizinische Versorgung für "Illegale"

"illegalität in deutschland"
Menschen, die sich ohne Aufenthaltsgenehmigung oder Duldung in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, machen sich nach Paragraf 92 Ausländergesetz strafbar. Der im allgemeinen Sprachgebrauch verwendete Begriff "Illegale" spiegelt darüber hinaus eine generelle Tendenz zur Kriminalisierung wider. Dies wird im Vergleich mit anderen europäischen Ländern deutlich. So spricht man in Frankreich von den sans-papiers, in England von irregular migrants und in Italien von clandestini.

Bis jetzt wurde den so genannten Illegalen jedoch in den öffentlichen Debatten über Ausländer und Zuwanderung in Deutschland generell wenig Beachtung geschenkt. Das ist bemerkenswert, da seriöse Schätzungen von einer Zahl zwischen 500.000 und 1 Million Personen ausgehen, die einen festen Platz im Niedriglohnsektor einiger Branchen einnehmen. Erst jetzt scheint sich daran etwas zu ändern. Im Mai hat die Deutsche Bischofskonferenz einen Bericht zum "Leben in der Illegalität in Deutschland" vorgelegt, in dem sie die hiesige Rechtspraxis teilweise deutlich kritisiert und zumindest gewisse Grundrechte - darunter das auf medizinische Versorgung - auch für Menschen in der Illegalität fordert. Zudem fordern die Bischöfe "ernsthafte Überlegungen zur Legalisierung bestimmter Gruppen". Auch die Zuwanderungskommission der Bundesregierung unter der Leitung von Rita Süssmuth ist kürzlich in ihrem Bericht auf das Thema eingegangen. In den Forderungen für die "Illegalen" bleibt die Süssmuth-Kommission jedoch weit hinter denen der katholischen Bischöfe zurück.


MediNetz: Tel. (07 61) 2 92 60 28
Medinetz/rasthaus, Mietshäuser Syndikat, Adlerstr. 12, 79098 Freiburg
taz Nr. 6467 vom 11.6.2001, Seite 15, 28 TAZ-Bericht

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Eine Grundversorgung für "Illegale"
MediNetz will mit der Vermittlung von medizinischen Dienstleistungen die existenzielle Bedrohung von Menschen ohne
legalen Status abwenden. Eigentlich ist die Arbeit nur als Übergangslösung gedacht, solange staatliche Konzepte fehlen
von ARMIN MASSING

Zaghaft klopft es an der Tür. Dann betritt eine junge Frau mit einem Kleinkind im Arm das improvisierte Büro. "Bonjour", begrüßt Andrea Beuckmann von MediNetz die Algerierin. Sie ist eine Woche zuvor schon einmal in der Sprechstunde von MediNetz gewesen. Ihre Tochter benötigt wie jedes Kleinkind Impfungen gegen Polio, Tetanus und Diphtherie.

Keine Selbstverständlichkeit jedoch, wenn man keinen legalen Aufenthaltsstatus in der BRD hat. Wer sich illegal in Deutschland aufhält, hat theoretisch ein Recht auf medizinische Versorgung. Praktisch macht jedoch fast niemand von diesem Recht Gebrauch. Kaum einer, der in der Illegalität lebt, weiß überhaupt davon. Die Übrigen haben Angst, von Ärzten oder Krankenhauspersonal angezeigt und festgenommen zu werden und begeben sich deshalb nicht in medizinische Behandlung.

"Um praktische Hilfe gegen diese Mißstände zu leisten, haben wir MediNetz im Herbst 1998 gegründet", erklärt Beuckmann. Seit April 1999 bietet das Projekt einmal pro Woche eine Sprechstunde an, in der sich Menschen mit medizinischen Problemen an MediNetz wenden können. Mehrsprachige Flugblätter machen in den verschiedensten sozialen Zentren auf den Termin aufmerksam. In der Sprechstunde findet nur eine erste Bestandsaufnahme statt. Die MitarbeiterInnen von MediNetz vermitteln dann eine Behandlung bei einem der knapp 50 Freiburger Ärztinnen und Ärzte, die sich bereit erklärt haben, Flüchtlinge und MigrantInnen kostenlos zu behandeln.

Bei der Finanzierung von Medikamenten und Laboruntersuchungen gibt es jedoch immer wieder Probleme. In der Praxis heißt es dann: herumtelefonieren. Im Fall der Algerierin gibt es zwar einen Kinderarzt, der die Impfungen durchführen würde, die entsprechenden Impfstoffe jedoch nicht bezahlen will. Die MitarbeiterInnen von MediNetz fragen daraufhin bei anderen Ärzten nach, ob sie die Impfstoffe als kostenlose Ärztemuster vorrätig haben. So findet sich schließlich der Impfstoff für das Kind. "Bis jetzt haben wir noch in jedem Fall eine Lösung gefunden", berichtet Beuckmann.

MediNetz hilft jedoch nicht nur Menschen ohne legalen Status. Auch AsylbewerberInnen wenden sich oft an das Projekt. Da das Asylbewerberleistungsgesetz nur die Behandlung von "akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen" vorsieht, werden chronische Erkrankungen oft nicht therapiert, sondern lediglich die Symptome mit Schmerzmitteln gelindert. "Gerade am Anfang haben sich hauptsächlich Asylbewerber bei uns gemeldet", so Beuckmann. Diese Fälle seien meist aufwendiger als diejenigen von Illegalisierten. "Das sind oft vertrackte rechtliche Geschichten, wo wir uns wochenlang mit den Behörden über den Kostenträger auseinandersetzen müssen."

So weit es geht, versucht man bei MediNetz, öffentliche Stellen bei der Kostenerstattung in die Pflicht zu nehmen. Seit dem Beginn der Arbeit von MediNetz gab es unter den rund 200 Fällen auch ein paar Überraschungen: Hatten die InitiatorInnen ursprünglich nur an Flüchtlinge und MigrantInnen gedacht, so kamen auch Menschen mit Touristenvisum ohne Versicherungsschutz und Aupairmädchen. "Für Aupairmädchen werden offensichtlich oft Krankenversicherungen abgeschlossen, die von vornherein alle Leistungen ausschließen, die mit einer Schwangerschaft zusammenhängen", erklärt Beuckmann. So hat sich MediNetz in diesen Fällen einige Male um Entbindungen und Abtreibungen gekümmert.

"MediNetz versteht sich nicht als sozialarbeiterische Dienstleistungseinrichtung", heißt es in einer Infobroschüre. Dort wird die "herrschende diskriminierende und rassistische Flüchtlingspolitik" verurteilt. Ziel des Projekts sind dementsprechend die Abschaffung aller Sondergesetze für Flüchtlinge und die Integration Illegalisierter in das staatliche Gesundheitssystem. "Wir befürchten, dass die Stadt unsere Arbeit als Vorwand nehmen könnte. die Probleme weiterhin vor Ort nicht selbst zu lösen, und uns so als billige Sozialarbeiter benutzt", erklärt Beuckmann. Deshalb versuchen die MitarbeiterInnen von MediNetz, ihren politischen Forderungen bei der Stadt Gehör zu verschaffen. "Gerade setzen wir uns in der Flüchtlingskommission des Freiburger Ausländerbeirats dafür ein, dass die Stadt anonymisierte Krankenscheine für Illegalisierte zur Verfügung stellt", erklärt Beuckmann.

Was im gutbürgerlichen Breisgau-Städtchen noch recht utopisch daherkommt, ist in Freiburgs italienischer Partnerstadt Padua reale behördliche Praxis. Über derartiges Wissen verfügt MediNetz durch die Einbindung in ein größeres Projekt, das sich "rasthaus" nennt. Dahinter steckt die Idee, ein Haus für Flüchtlinge und MigrantInnen zu schaffen, in dem diese vorübergehend unterkommen können, ohne dass nach Pass oder rechtlichem Status gefragt wird. "Die Realisierung eines derartigen Rasthauses bleibt eine unserer zentralen politischen Forderungen", so Beuckmann. Man habe bei MediNetz jedoch die Erfahrung gemacht, dass die Bevölkerung und die Behörden für die medizinische Flüchtlingshilfe sehr viel offener seien als für Fragen des Aufenthaltsrechts.

Mit der Polizei gab es bis jetzt noch keine Probleme, trotz der rechtlichen Grauzone, in der sich die Arbeit von MediNetz bewegt. "Ich hätte da auch keine Angst", sagt Achim Stober mit Nachdruck. Der Allgemeinmediziner behandelt regelmäßig Patienten im Rahmen von MediNetz. "Eine Polizeiaktion in einer Arztpraxis wäre ein Skandal. Das würde nicht auf öffentliche Zustimmung stoßen", ist sich Stober sicher. Für ihn ist die Behandlung von Illegalisierten eine klare Notwendigkeit angesichts der inhumanen Rechtslage. "Das ist eine Situation, die es erforderlich macht, dass man sich jenseits der bürokratischen Verordnungen und Gesetzte verhält." Bei den meisten Illegalen sei eine stark depressive Grundhaltung auffällig. "Viele kommen mit Magen-Darm-Problemen oder haben Schwierigkeiten im Bereich des Bewegungsapparats", berichtet Stober. Dabei handele es sich um typische Stresssymptomatiken. Die ständige Angst, entdeckt zu werden, frißt an den Menschen.

In den insgesamt zwölf deutschen Städten, in denen es Initiativen wie MediNetz gibt, ist wenigstens der Bereich der medizinischen Versorgung in einer menschenwürdigen Weise geregelt. Dass sich der Staat bald dieser humanitären und politischen Verantwortung stellen wird, hält Andrea Beuckmann vom Freiburger MediNetz für wenig wahrscheinlich.

taz Nr. 6467 vom 11.6.2001, Seite 15, 217 TAZ-Bericht ARMIN MASSING

 

11.06.2001
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