Berlin: Aufruf zum Kreuzberger CSD
Auch dieses Jahr gibt es wieder einen multisexuellen,
internationalistischen und antirassistischen Kreuzberger CSD, der sich
diesmal gegen die Heuchelei des staatlichen Antifaschismus wendet. Am 23.6.
um 18 Uhr sprechen am Oranienplatz: Cornelius Yufanyi (The Voice); Gloria
Viagra; Paisley Dalton und eine/r der Organisator/innen des ersten
Belgrader CSD (angefr.). Im Folgenden dokumentieren wir den Aufruf.
>Wir stellen uns quer gegen staatlichen Rassismus<
Mit Nationalismus gegen Neonazis
Im Sommer letzten Jahres wurde von den bundesdeutschen Medien eine Art
staatlicher Antifaschismus zelebriert. Auch das lesbisch-schwule
Stadtmagazin Siegessäule wandte sich im Rahmen der "Aktion Zivilcourage"
nicht nur gegen rechts, sondern rang sich erstmals auch zu einer offenen
Kritik an den ethnisierenden Gewaltreporten des Schwulen Überfalltelefons
durch. Andere gestanden im selben Heft sogar selbstkritisch ihren eigenen
Rassismus ein.
Aber natürlich machte diese Bewegung zielsicher vor der Kritik an der
Kriminalisierung und Abschiebung von Flüchtlingen halt. Denn die
Beteiligten an dieser antifaschistischen Kampagne unternahmen die Revision
der eigenen Vorurteile nicht als Selbstzweck, sondern wegen ihrer Liebe zu
Deutschland: Aus standortpolitischen Gründen sollte ein kruder
Hautfarbenrassismus durch eine differenziertere Sortierungspolitik ersetzt
werden, die dem Bedarf an ausländischen Fachkräften Rechnung trägt. Damit
gerieten die Neonazis, die sich früher als VollstreckerInnen des deutschen
Volkswillens wissen konnten, zu WidersacherInnen deutscher Interessen.
Schon bald mündete der staatsantifaschistische Sommer daher in offenem
Nationalismus. Erinnern wir uns nur an die Leitkulturdebatte, die
Unterscheidung der "AusländerInnen" in solche, die uns "nützen", und
solche, die uns "ausnützen", oder die Rücktrittsforderung gegen den
Bundespräsidenten, weil dieser den Satz "Ich bin stolz, ein Deutscher zu
sein" so nicht unterschreiben wollte. Diese Kampagnen waren fortan die
Begleitmusik des staatlichen Antifaschismus, gerade so als würde man die
Nazis nur deshalb bekämpfen, um sich ihre Parolen unverdächtig aneignen zu
können.
Alibi für rassistische Ausländerpolitik
Auch das Motto des diesjährigen Schöneberger CSD: "Berlin stellt sich
que(e)r gegen rechts" stammt aus dieser Zeit. Und wieder macht die
Übernahme des staatlichen Anti-Nazi-Kampfs durch die Zivilgesellschaft halt
vor einer Kritik an Abschiebepolitik und institutionellem Rassismus. Das
zeigt sich in der Einladung von Wolfgang Thierse als Abschlußredner des
CSD – der bekanntlich für die Verschärfung der Asylgesetzgebung und für den
imperialistischen Krieg gegen Jugoslawien gestimmt hat – und in der
Preisverleihung an das Schwule Überfalltelefon des Schöneberger Infoladens
Mann-O-Meter.
Dieses erstellt seit zehn Jahren quasi in staatlichem Auftrag und gegen
andauernden Protest Gewaltstatistiken entlang "rassischer" Kriterien, also
danach, ob jemand physische Merkmale aufweist, die als "südländisch"
empfunden werden. Spekulative ethnische Zuordnungen sind die Folge: "Auf
dem Treppenabsatz der Nummer 19 saßen vier junge Männer, mutmaßlich
italienischer, vielleicht aber auch rumänischer oder albanischer
Abstammung", heißt es in einer Täterbeschreibung auf der
Mann-O-Meter-Homepage.
Während Straftaten von "AusländerInnen" aus einer konstruierten "fremden
Kultur" heraus erklärt werden, handeln 'Deutsche' in den Augen derjenigen,
die die Kriminalreporte erstellen, als Individuen, bei denen kein Hinweis
auf ihre "ethnische Herkunft" erfolgen muß. Gleichzeitig werden soziale
Faktoren – wie etwa die häufigere Unterschichtzugehörigkeit von
MigrantInnen – konsequent ausgeblendet. Ja noch nicht einmal zwischen
Raubüberfällen und gezielt gegen Schwule gerichteten Haßverbrechen, bei
denen eindeutig 'deutsche Täter' dominieren, wird unterschieden.
Anpassung durch Diskriminierung
Das Schwule Überfalltelefon und einige jugendliche MigrantInnen versuchen,
sich durch Rassismus bzw. Homophobie der Zugehörigkeit zur Mehrheit zu
versichern und ihre gemeinsame Ausgrenzung durch das postfaschistische
Deutschland vergessen zu machen. Wenn Mann-O-Meter "AusländerInnen" als
besonders homophob darstellt, erscheint die 'deutsche' Bevölkerung so auf
einmal als lesben- und schwulenfreundlich. Laut einer EMNID-Umfrage aus
diesem Jahr ist dies freilich eine Illusion. Zwei Drittel der 'deutschen
Männer' stehen Homosexuellen ablehnend gegenüber, und vier Fünftel hätten
Probleme mit einem eigenen lesbischen oder schwulen Kind.
Die "gegen Rechts" gerichtete Kampagne in der Szene begann mit einer Kritik
der Siegessäule an den rassistischen Gewaltreporten des Schwulen
Überfalltelefons und endet nun mit einer Auszeichnung, die den staatlichen
und institutionellen Rassismus legitimiert. Auf groteske Weise entlarven so
die Wortführer des „Aufstands der Anständigen“ ihre eigenen sinnentleerten
Aufrufe.
Für einen multisexuellen, internationalistischen und antirassistischen CSD.
Auf nach Kreuzberg: 23.6., 18 Uhr, Oranienplatz
Es sprechen: Cornelius Yufanyi (The Voice); Gloria Viagra; Paisley Dalton
und eine/r der Organisator/innen des ersten Belgrader CSD (angefr.)
UNTERSTÜTZERINNEN: Berlin Monsters; Antirassistische Initiative Berlin;
Schwule Hochschulgruppe an der FU; autonome antifa [nordost] berlin;
mutvilla – LesBiSchwulQueer an der HU; Berliner Institut für
Faschismus-Forschung und Antifaschistische Aktion BIFFF... e.V.; CSD-Gruppe
der Lesben der FU; arbeitskreis kritischer juristinnen und juristen – akj
berlin; wissenschaftlich-humanitäres komitee – whk berlin; Initiative
Sozialistisches Forum, Freiburg; Schwul-lesbischer Informations- und
Presseservice SCHLIPS e.V.; PDS Dortmund; Redaktion Gigi; Initiative
"BürgerInnen beobachten den BGS", Dortmund; whk Ruhrgebiet; Prof. Dr. Udo
Schuklenk, Bioethiker, Universität Johannesburg; Astrid Keller, Mitglied
des Rates der Stadt Dortmund/Linkes Bündnis.
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