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Göteburg: Eine erste Analyse

Eine erste politische Analyse der Ereignisse rund um den EU-Gipfel in
Göteborg von der Antifa in Stockholm. Der Text erschien am 19.6. im schwedischen
linken Webportal www.motkraft.net < http://www.motkraft.net>, die Übersetzung
ist alles andere als fehlerfrei und erfolgte spontan nach bestem Wissen.

Drei Tage, die Europa schadeten

Wir hätten niemals gedacht, dass die Proteste in Göteborg so sein würden.
Die Ereignisse haben das Establishment - Medien, Polizei und PolitikerInnen -
in einen Schockzustand versetzt. Und Schock ist noch das annäherndste, womit
man den Zustand unserer Bewegungen beschreiben kann, die an den Protesten in
Göteborg teilnahmen. Wir werden lange brauchen, zu verstehen, was dort
passiert ist. Wir haben bei Motkraft [ein linkes Internetprojekt in Schweden]
versucht, täglich über das zu berichten, was während des Gipfels in Göteborg
passiert. Unsere Texte waren oft bloße Aneinanderreihungen der Ereignisse, wir
haben keine Zeit gefunden, anzuhalten, nachzudenken und das Geschehene zu
analysieren.
Dies hier ist ein erster Versuch, ein übergreifendes Bild zu zeichnen. Denn
ein alternatives Bild ist notwendig, wenn man sieht, wie einheitlich
pechschwarz die Schilderungen der etablierten Medien von den Protesten waren. Noch
einmal hat sich gezeigt, wie wichtig es ist, über unabhängige Medien zu
verfügen. Denn das Bild der kommerziellen Medien ist klar: Sie verteidigen das
Eigentum mehr als die Menschen. Sie sind mehr empört über eingeschlagene
Schaufenster, als über Übergriffe gegen soziale Bewegungen oder über angeschossene
DemonstrantInnen. In den letzten Tagen hat es [in Schweden] keinen Raum für
soziale Bewegungen gegeben, ihrer Empörung Gehör zu verschaffen und ihre
Sichtweise deutlich zu machen. Die meisten Artikel sind von solch mieser Qualität,
dass sie ebenso gut alle Pressemitteilungen der Polizei direkt abdrucken
könnten. Wir warten immer noch darauf, dass sich die ersten kritischen Stimmen
erheben.
Göran Persson [der schwedische Ministerpräsident] hat im Fernsehen versucht,
uns als eine Armee darzustellen - mit viel besseren Waffen, großen
ökonomischen Ressourcen und gut organisiert. Alle, die mit uns in Kontakt gekommen
sind, wissen, dass nichts davon wahr ist. Der Teil der außerparlamentarischen
Linken, zu dem wir gehören, ist in losen Netzwerken organisiert. Die
internationale Organisierung passierte dadurch, dass wir per E-Mail Einladungen
verschickten und dass wir herumreisten und auf Treffen in Europa Apelle hielten, wie
bei der LL-Demo in Berlin und beim PGA-Treffen in Mailand. Das ganze
Frühjahr über haben wir Soliparties organisiert, um etwas Geld zu bekommen und das
meiste haben wir aus eigener Tasche bezahlt. Wir haben keine Zuschüsse für
unsere Tätigkeiten bekommen.
In den Medien wurden wir als ein Anhängsel der ?seriösen? Proteste
dargestellt. Auch dieses Bild hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Wir haben einen
großen Teil der Aktivitäten vor dem Gipfel organisiert, unter anderem durch
unsere aktive Teilnahme am großen Bündnis ?Göteborgsaktionen 2001?. Dieses
Bündnis wäre ohne die Arbeit der libertären Linken unmöglich gewesen.
Unsere Aktivitäten wurden mit den Krawallen, mit Gewalt und mit Vermummung
verbunden. Ironischer weise gerade zu einem Zeitpunkt, an dem wir neue Wege
des Protestes jenseits der Straßenschlacht suchten. Ya Basta entwickelte das
White Overall-Konzept um aus der Sackgasse zu kommen, in die sie die
italienische autonome Bewegung sahen. Im Norden waren sowohl ?Globalisering Underifrån?
[Globalisierung von unten] als auch die AFA [autonome Antifa] von diesen
Formen inspiriert.
Wir entschieden uns, mit einer bedeutend größeren Offenheit zu arbeiten als
sonst. Wir planten fantasievolle Blockaden, bei denen wir uns friedlich
hineinschieben wollten mit Körperschutz, um nicht von den Polizeiknüppeln verletzt
zu werden. Aus diesen Aktionen wurde nichts. Der Einsatzleiter der Polizei,
Håkan Jaldung, erklärte frühzeitig, dass er willens sei, alle Aktionen zu
stoppen, bevor sie ankommen [am Gipfelgelände]. Von daher begann die Gipfelwoche
mit Zugriffen auf Schulen und Wohnungen. Die Repression traf besonders
unsere Strukturen, sie verhafteten unsere AktivistInnen, verhinderten unsere
Treffen und beschlagnahmten unseren Körperschutz.
Wir distanzieren uns nicht von den Krawallen, die ausbrachen, im Gegenteil,
viele von uns nahmen aktiv daran teil. Aber wir können nicht sagen, dass wir
es waren, die die Tagesordnung bestimmten.
Sämtliche Krawalle die entstanden, passierten nach Polizeiangriffen. Am
Donnerstag führte die Einkesselung und Räumung der Hvitfeldska-Schule zu
Ausbruchsversuchen. Gleichzeitig führte die Räumung des Vasaparkes vor der Schule zu
Zusammenstößen. Am Freitagmorgen griff die Polizei DemonstrantInnen an, die
auf die Absperrungen zugingen, wonach Krawalle auf der gesamten Avenyn [das
Vorzeige-Boulevard von Göteborg] ausbrachen. Am Abend hatte die Polizei sich
entschlossen, die Reclaim the City-Party um jeden Preis aufzulösen, die Stadt
wurde mit Containern versiegelt und die Party angegriffen, Krawalle brachen
aus und die Polizei eröffnete das Feuer.
Wenn die Polizei sich zurückhielt, liefen die Proteste friedlich ab, wie die
Anti-Bush-Demo am Donnerstag, die Nein-zur-EU-Demo am Freitag abend und die
große Bündnisdemo am Samstag. Göteborgsaktionen [das Bündnis] verstand sehr
früh, dass der beste Weg, um Ruhe und Ordnung zu erhalten war, die Polizei
dazu zu bekommen, sich so fern wie möglich zu halten, und sie bekamen Recht.
Einige Bilder haben sich einem eingebrannt. So die Sozialdemokraten, in
Göteborg, die die Polizei lobt, die AktivistInnen angeschossen hat. Der Aushang
der Zeitung ?Aftonbladet?, der diese Bullen zu Helden ernennt. Die Wirtschaft
in Göteborg, die öffentlich der Polizei dankt. PolitikerInnen, Medien und
Wirtschaft klopfen sich gegenseitig auf die Schulter.
Wir wurden niemals so gedemütigt wie während dieser Tage. Die schwedische
Polizei war die erste, die das Feuer auf die Globaliserings-Protestbewegung
eröffnete. Drei unserer GenossInnen wurden niedergeschossen, wovon einer um sein
Leben kämpft. In ganz Göteborg gab es willkürliche Verhaftungen während des
Ausnahmezustandes am Samstag - "Operation Sanierung" - mit der Einkesselung
aller Menschen auf dem gesamten Gebiet des Järntorget als Höhepunkt. Bei der
Stürmung der Schiller-Schule am Samstag schleifen mit Maschinenpistolen
bewaffnete Bullen junge Leute aus ihren Schlafsäcken und zwingen sie, in
Unterwäsche vor der Schule auf dem Boden zu liegen. Die hunderte Personen von
?Globalisering Underifrån?, die an der Hvitfeldska-Schule verhaftet wurden, bewahrten
dort ihre weißen Overalls für ihre gewaltfreie Aktion. Deutsche
AktivistInnen wurden aufgrund des Terroristenparagraphen im Ausländergesetz verhaftet.
Wie kann jemand erstaunt sein, dass so eine Situation explodoert?
Was wollten wir eigentlich? Aus Teilen der außerparlamentarischen Linken
hatten wir uns einige konkrete Ziele für Göteborg gesetzt. Wir wollten den
Gipfel stören, die Polizei sollte sehen, dass sie die Sicherheit des Gipfels nicht
garantieren kann und wir wollten den Versuch der Sozialdemokraten brechen,
einen neuen Konsens über das EU-Projekt aufzubauen. Die EU als Institution
wurde gebildet, um einen europäischen Binnenmarkt zu schaffen und neoliberale
ökonomische Politik durchzusetzen. Für die Mehrheit der EuropäerInnen (und der
Weltbevölkerung) bedeutete dies eine gesteigerte Ausbeutung, da wir gezwungen
werden, mehr zu arbeiten für weniger Geld, und weniger Einfluss und Macht
über unser eigenes Leben zu haben. Wir haben uns entschieden, uns an den
globalen Protestzug gegen ökonomische Gipfeltreffen anzuhängen, der in den letzten
Jahren in Fahrt gekommen ist. Krass formuliert kann man sagen, dass dieses
Ziel erreicht wurde.
Es wären niemals so viele Leute nach Göteborg gekommen, wenn es nicht darum
gegangen wäre, auf der internationalen Protestwelle gegen die Gipfel
mitzureiten. Deshalb brauchten wir keine Ressourcen oder eine große Organisation, um
die Leute dafür zu interessieren, zu kommen.
Es sollte nicht merkwürdig anmuten, dass Leute aus ganz Europa kommen, um
dagegen zu Protestieren, dass die ?Entscheidungsträger? hier sitzen und eine
Politik bestimmen, die ganz Europa betrifft. Aber dennoch ist es genau das,
wogegen das Establishment Sturm läuft.
Die Ökonomie wird globalisiert. Die staatlichen Institutionen, die der
Ökonomie dabei dienlich sind, werden globalisiert. Menschen werden global versetzt
als passive Objekte, als Ware Arbetskraft. Aber wenn die Menschen beginnen,
sich global als aktive Subjekte zu bewegen, egal ob sie sich zu
internationalen Protesten bewegen oder ob sie nach Europa ziehen, dann ist auf einmal
Schluss mit der Bewegungsfreiheit und der Globalisierung.
Wir wurden als rückwärtsgewandt bezeichnet, es wurde gesagt, dass wir Angst
vor Veränderung haben. Aber wir glauben nicht an ein Schweden außerhalb der
EU, Nationalstaaten in all ihren Formen sind heutzutage verschmolzen mit den
Interessen des Kapitals. Wir träumen nicht von irgend einem goldenen
Wohlfahrtsstaat in der Vorzeit. Nur wenn das Kapital und die Staaten global werden,
muss auch der Kampf der sozialen Bewegungen global werden, um Erfolg zu haben.
Wir sind nicht gegen Globalisierung, aber wir glauben an eine Globalisierung
von unten. Eine Organisierung sozialer Bewegungen, die auf internationaler
Gegenkonferenzen und sozialen Foren (wie im brasilianischen Porto Alegre)
stattfindet. Hier, in den globalen sozialen Bewegungen, sie sich ihrer eigenen
Kraft bewusst werden, beginnt die Demokratie in der wahren Bedeutung des Wortes
Gestalt an.
Heute merken wir, die wir die Proteste mitorganisiert haben, eine große
Müdigkeit. Der Preis war hoch. Wir werden uns einige Wochen Urlaub leisten und
dann nehmen wir neuen Anlauf auf das G8-Treffen in Genua und auf den globalen
Aktionstag gegen Kapitalismus im Zusammenhang mit dem Treffen von IWF und
Weltbank in Qatar im November.
Göteborg mag uns hart getroffen haben - aber die Ereignisse dieser Tage
haben und Kraft und Hoffnung in Menschen auf der ganzen Welt gegeben, die globale
Protestwelle weiterzutragen.
Alle Leute, die an den Protesten in Göteborg teilnahmen, egal was sie
gemacht haben, verdienen einen großen Applaus. Ein großer Dank an das Bündnis
Göteborgsaktionen und da besonders an all die Organisationen, die aktiv diese
Zusammenarbeit möglich gemacht haben: SAC, Miljöförbundet Jordens Vänner,
Rättvisepartiet Socialisterna, Socialistiska Partiet, AFA und Attac.

Olle M - AFA Stockholm

 

20.06.2001
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