nadir start
 
initiativ periodika archiv adressbuch kampagnen aktuell

Berlin: Text zu Genua

Bei denjenigen von uns, die in Genua vor Ort waren, herrscht bisher noch
vornehmlich Sprachlosigkeit vor. Sprachlosigkeit angesichts eines
Eskalationsniveaus militärischer Auseinandersetzungen, die keineR von uns in
Westeuropa so einfach vermutet hätte. Dieser Text soll den Versuch darstellen,
diese Sprachlosigkeit zu überwinden und, jenseits von Augenzeugenberichten, zu
einer ersten politischen Einschätzung der Ereignisse zu gelangen.

In Genua hat der Straßenkampf, der seit Seattle die Anti-Globalisierungs-
Proteste kennzeichnet, regelrecht militärische Dimensionen angenommen. Das
begann schon im Vorfeld in Form eines Informationskrieges, in dessen Verlauf
die italienische Regierung die Bereitstellung zusätzlicher Kühlhäuser und Särge
für die zu erwartenden Toten ankündigte. Doch auch vor Ort wurden
DemonstrantInnen, obwohl sie sich bereits auf dem Rückzug vom Hauptgeschehen
befanden, von Panzern durch die Straßen getrieben. Eine Polizeiwache brannte
komplett aus, ein Gefängnis wurde gestürmt (La Repubblica 22.7.2001). Die
militanten Straßenkämpfer haben mehrere Tankstellen in der Innenstadt
geplündert, um serienmäßigen Nachschub an Molotov-Cocktails zu produzieren. Die
italienischen Medien berichten, militärische Einrichtungen seien in Gefahr
gewesen, was die Intervention der Marine notwendig gemacht habe. Auch wurden
Menschen, die vor der Polizei ins Wasser flüchteten, von Polizeibooten aus
angegriffen. Und es wurde an mehreren Stellen, zu mehreren Gelegenheiten scharf
geschossen, nicht nur an dem Ort, wo Carlo Giulani aus nächster Nähe exekutiert
worden ist, sondern mindestens noch beim Angriff auf eine weitere
Polizeistation und bei den Krawallen am Samstag durch die sogenannte
Finanzpolizei. Man kann also sagen, daß auf beiden Seiten Mittel der
Auseinandersetzung gewählt wurden, die für Westeuropa zumindest im Kontext
sozialer Bewegungen unüblich sind.

Zunächst steht die Frage im Raum, wie dieses Eskalationsniveau erreicht werden
konnte. Augenzeugen berichten, daß die militanten Gruppen, die später von den
italienischen Medien als ?Anarchisten? und ?Schwarzer Block? homogenisiert
worden sind, am Freitag morgen (also dem Tag des Gipfelsturms) sich über
mehrere Stunden lang quasi unbehelligt in der Innenstadt ausagieren konnten.
Ohne nennenswerte Eindämmungsversuche seitens der Polizei zerstörten sie in
ganzen Straßenzügen die Geschäfte und Banken. Als die großen Demonstrationszüge
in der Innenstadt ankamen, stiegen dort bereits dicke Rauchsäulen auf. Erst als
die Massendemos ankamen, startete die Polizei ihre Gegenangriffe durch sehr
massiven CS-Gas-Beschuß, Knüppel und Wasserwerfer, wobei diese sich vornehmlich
gegen die Demozüge richteten und nicht gegen die militanten Gruppen. Hierbei
wurde nicht differenziert zwischen Gruppen mit einem erklärtermaßen
gewaltfreien Konzept, den Anhängern der von den Tute Bianche propagierten
defensiv/offensiv-Strategie (siehe unten) und eventuellen ?Schwarzen Blocks?.
Die Repression richtete sich also ausdrücklich gegen die nicht-militante breite
Masse, während im Stadtzentrum der Rock?n Roll immer noch fortgesetzt wurde.

Carlo Giuliani wurde am Rand der Tute-Bianche- Demonstration erschossen, deren
Spitze an das Innenstadtgebiet angrenzte, als sie von der Polizei aufgehalten
und zurückgeschlagen wurde. Diese Demonstration war straff organisiert, zielte
in ihrer Militanz ausschließlich auf die Durchbrechung von Polizeikordons und
Zaun auf dem Weg in die Rote Zone und wollte, um einer breiten Öffentlichkeit
ein politisch gezieltes offensives Vorgehen zu vermitteln, explizit keinen
Sachschaden in der Stadt anrichten. Ein siebenköpfiges, plural zusammengesetzes
Gremium traf im Verlauf der Demonstration die Entscheidungen über das
gemeinsame Vorgehen, die bis zum Schluß über den (für die Menge zu leisen)
Lautsprecherwagen an die TeilnehmerInnen vermittelt wurden. Auch das interne
Infosystem über Funk hat offenbar den ganzen Tag sehr gut funktioniert. Es
gelang so weitgehend, ein Vertrauen der DemonstrantInnen in die Demoleitung
herzustellen und (Gruppen)-Individualismen zugunsten eines geschlossenen
Vorgehens zu vermeiden. Am Rande der Tute-Bianche- Demonstration kam es demnach
auch zu Handgemengen zwischen Demo-ordnern und Militanten, die sich in die
Masse flüchten wollten, um von dort aus erneut auszuschwärmen. Das Konzept von
zivilem Widerstand der Tute Bianche zielt auf eine Verbreiterung der
Aktionsformen der Anti-Globalisierungs-Bewegung nach dem Vorbild der
Zapatisten. Dabei sind sie sehr stark auf Transparenz und Vermittelbarkeit
bedacht. Ihre Ausrüstung (Helme, Panzerungen aus Schaumstoff und Plastik, große
Plexiglasschilde, Feuerlöscher und Flexgeräte, um den Zaun aufzuschneiden) ist
in Italien explizit legal, d.h. sie reizen die Legalität auf sehr
phantasievolle Art bis an ihre Grenzen aus. Zudem waren Anti-CS-Gas- Brigaden
im Einsatz, die die Patronen in mit Wassern gefüllten Mülleimern löschen
sollten, und diverse andere Gruppen mit besonderen Aufgaben im zu erwartenden
Handgemenge. Im Carlini-Stadion, der Homebase der Tute Bianche, wurden Konzepte
und Entscheidungen auf Massenplena vorgestellt und so zumindest für alle
nachvollziehbar gemacht. Entscheidungen fällte ein Delegiertentreffen der
verschiedenen italienischen Städte und internationalen
UnterstützerInnengruppen. Dabei gelang es, Transparenz und demokratische
Entscheidungsstrukturen nicht in Handlungsunfähigkeit umschlagen zu lassen,
v.a. weil die einzelnen Gruppen den Erfolg des gemeinsamen Vorgehens im Auge
hatten und nicht die genaue Durchsetzung einer eigenen Linie oder das
politische Reinheitsgebot. Wichtig für eine Einschätzung hierzulande ist auch,
daß die Tute Bianche in der italienischen Öffentlichkeit sehr präsent sind.
Bereits vor dem Gipfel haben sie über die Medien eine sehr breite Debatte über
die Legitimität ihres defensiv-offensiven Vorgehens geführt, flankiert von
einer Umfrage nach dem Vorbild der Zapatisten, ob die Bevölkerung es für
gerechtfertigt halte, in die von Polizei und Militär belagerte Rote Zone, wo
der Gipfel stattfinden sollte, unter Einsatz legaler Mittel und des eigenen
Körpers einzudringen. Gescheitert sind die Tute Bianche diesmal in der
Auseinandersetzung mit der Polizei, aber nicht in der Öffentlichkeit, wo sie
die Auseinandersetzung nach wie vor mitbestimmen, wie keine linksradikale
Gruppe in Deutschland dies in den letzten 20 Jahren vermocht hat. Ein Engpass
in der gewählten Route und das Durcheinander in der Aufstellung der Demoblöcke,
was automatisch bei einer derartig großen Anzahl beteiligter Gruppen entsteht,
haben dazu geführt, daß die Demonstration zwar zeitweise die erste
Polizeisperre durchbrechen konnte, den dadurch gewonnenen Raum aber aufgrund
des sehr massiven Gegenangriffes nicht lange halten konnte. Doch war zum
Zeitpunkt des Todes von Carlo Giuliani, der dann zum definitiven geschlossenen
Rückzug führte, noch nicht das letzte Wort gesprochen.

Noch am selben Tag tauchten die ersten Meldungen auf, unter den militanten
Gruppen im Zentrum seien zahlreiche Provokateure der Polizei am Werk gewesen.
Einen Tag später belegten Filmaufnahmen, wie größere Gruppen von
Schwarzvermummten aus den Polizeiwachen stürmten und sich aktiv unter die
Randale mischten. Nach Einschätzung des Genoa Social Forum, des breiten
Bündnisses vor Ort, das die Proteste getragen hat, diente die Polizeirazzia im
Independent Media Center und der gegenüber liegenden Schule am Samstag nacht
vor allem der Vernichtung von weiterem Beweismaterial, welches die aktive
Beteiligung von Zivilpolizisten bei den Krawallen belegte. Immerhin wird der
Sachschaden auf über 3 Milliarden Lire geschätzt (zerstört wurden 83 PkWs, 41
Geschäfte, 34 Banken, 16 Tankstellen, 3 öffentliche Gebäude - darunter das
Gefängnis, neun Postämter, vier Wohnhäuser etc. Alle Angaben aus La Repubblica
com 22. Juli 2001). Nach Angaben des Genoa Social Forum wurden unter den
militanten Gruppen auch europäische und italienische Neonazis gesichtet,
konkret wird eine Gruppe von Forza Nuova genannt (il manifesto 24.7.). Auch ein
britischer Nazi-Sympathisant berichtet von Einladungen durch italienische
Faschisten ( http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/co/9153/1.html) .

Andererseits markiert diese Razzia aber auch den Beginn des entfesselten
Staatsterrors, der seitdem den GlobalisierungsgegnerInnen in Genua und Umgebung
entgegenschlägt und in die Außerkraftsetzung sämtlicher Grundrechte mündete.
Vermutlich ist es für die Bewegung politisch gewinnbringender, sich auf diesen
Aspekt zu konzentrieren und dagegen zu agieren, als sich von den Meldungen über
Provokateure und Nazis verunsichern zu lassen.


Erst als die Lage in der Innenstadt sich weitgehend beruhigt hatte, also am
Abend nach der großen Demonstration vom Samstag, begann die Polizei mit
massiven Festnahmen. Ein beträchtlicher Teil davon fand unter extrem brutalen
Bedingungen bei der nächtlichen Razzia statt, die sich wiederum nicht gegen
einen Rückzugsort von Militanten richtete, sondern gegen die ?Köpfe? der
Bewegung, nämlich ihr Medienzentrum und das Headquarter des Genoa Social Forum.
Alles deutet darauf hin, daß die Politik der Sicherheitskräfte auf die extreme
Eskalation, so wie sie stattgefunden hat, ausgerichtet war. Eine
durchschnittliche Einsatzleitung hätte mit polizeitaktischen Mitteln den
wenigen tausend Militanten leicht und frühzeitig Einhalt gebieten können, wenn
das gewollt gewesen wäre. Immerhin waren in Genua 18 000 Beamte verfügbar, die
Sperren hätten errichten können, Straßenzüge räumen etc. Das alles ist jedoch
nicht einmal ansatzweise passiert.

Eine solche Strategie kann eigentlich nur die Spaltung der Anti-Globalisierungs-
Bewegung beabsichtigen. Indem man eine Situation bewußt anheizt und so
eskalieren läßt, daß es Tote gibt, der Sachschaden immens ist und die nicht-
militanten Teile der Bewegung angesichts der unverhältnismäßigen Repression,
die sie erlebt haben, unter Schock stehen, führt man deren dauerhafte
Distanzierung vom sogenannten schwarzen Block herbei. Besonders in der
Bundesrepublik hat diese Strategie medial offenbar hundertprozentig
angeschlagen. Die Sprecher von großen NGOs sehen sich hierzulande offenbar
genötigt, sich von den Militanten zu distanzieren. Die deutsche
Medienberichterstattung bildet dabei weniger die realen Ereignisse von Genua
ab, als daß sie ein altbewährtes Debattenschema reproduziert, das schon
mehrmals eingesetzt wurde, um soziale Bewegungen zu diskreditieren: böse
Gewalttäter hier, gute Friedfertige dort, die nun von Journalisten möglichst
schnell zu ersteren auf Distanz gedrängt werden. Bestes Beispiel ist der
Artikel ?Gewalt in Weiss? in der Süddeutschen Zeitung vom Wochenende: Hier
wurde das Tute Bianche-Konzept, das sich in obiges schwarz-weiss-Schema eben
gerade nicht einfügt und u.a. daraus seine politische Brisanz bezieht, mal eben
unter völliger Mißachtung der realen Begebenheiten dem Randale-Flügel
zugeordnet, nur um das Bewertungsmuster des Autors nicht durcheinanderzubringen.

Ganz anders in großen Teilen der italienischen Öffentlichkeit: Dort wurde
diesen Spaltungsversuchen offensiv entgegengetreten und die Provokation der
Polizei denunziert. Genoa Social Forum- Sprecher Vittorio Agnoletto
beispielsweise schätzt die Proteste von Genua trotz des extrem hohen Preises,
der mit dem Tod von Carlo Giuliani bezahlt werden mußte, als Erfolg ein. Für
ihn steht nicht nur die Oligarchie des G8 auf dem Spiel, sondern es geht bei
diesen Auseinandersetzungen auch um konträre Konzepte von Demokratie. Eine
Demokratie, die angesichts von Ausreiseverboten, hemmungslosen Prügelorgien der
Carabinieri, scharfen Schüssen auf Demonstranten, Folterungen in italienischen
Gefängnissen, dem tagelangen Verschwinden von Verhafteten etc. im Rahmen des
entfesselten Neoliberalismus offenbar auf südamerikanisches Maß reduziert
werden soll.

Das Genoa Social Forum setzt auf eine breite Massenbewegung, in der keine
Gruppe und keine Aktionsform ausgegrenzt wird, um die illegitime neue
Weltordnung und ihre Vorstellungen einer Demokratie der Mächtigen zu bekämpfen
und das Recht auf Protest und Widerstand durchzusetzen. Auch wenn die Randale
aufgrund der Beteiligung von Provokateuren und Nazis im Nachhinein wenig
ruhmreich erscheint, geht es nun darum, sich vom politischen Gegner keine
Debatte über die Legitimität von Mitteln des Protests aufzwingen zu lassen.
Militanz war schon immer Teil einer jeden größeren sozialen Bewegung und hat
auch wesentlichen Anteil an ihrer medialen Wahrnehmbarkeit und ihrem
politischen Erfolg oder Mißerfolg gehabt. Auch wenn einige Aktionen mit
Sicherheit zu hinterfragen sind, bleibt doch festzuhalten, dass der Sachschaden
von Genua in keinem Verhältnis zu dem Elend steht, in dem die Milliarden von
Ausgegrenzten weltweit leben. Jetzt ist der Augenblick, in dem sich die
politische Integrität der Nichtregierungsorganisationen wie ATTAC u.a., die die
Breite der Bewegung ausmachen, erweisen muß - und zwar auch im Verhältnis zu
und in der Abhängigkeit von eventuellen Finanziers.

Aber auch von Seiten der radikalen Linken sollte der Wille zur Einheit der
Bewegung die Abgrenzungsgelüste von ?reformistischen Flügeln? im Keim
ersticken, denn mittlerweile sollte klar sein, daß auch radikale Strömungen auf
eine breite Massenbewegung angewiesen sind, wenn sie wirklich die Verhältnisse
angreifen wollen.

Die Stärke dieser jungen internationalen Bewegung liegt genau im
Aufeinandertreffen verschiedenster Erfahrungen aus verschiedenen nationalen
Kontexten, die bei allen Beteiligten althergebrachte Bewertungsmuster in Frage
stellen. So geraten z.B. eigene Positionen zur Gewaltfrage ins Wanken, wo
friedfertige deutsche Ökoaktivisten bei solchen Treffen neben militanten
Waldschützern aus Kanada stehen... Dies bezieht sich sowohl auf taktische
Fragen der Auseinandersetzung mit der Repression, als auch auf analytische
Fragen. Offene, auf massive Beteiligung ausgerichtete Modelle der
Meinungsbildung wie das von den Zapatisten geprägte erlangen darin neue
Bedeutung.

Großen Respekt haben die italienischen OrganisatorInnen verdient, sowohl die
Tute Bianche als auch das Genoa Social Forum, das bis heute geschlossen gegen
die Spaltungsversuche Front macht und die eigenen Inhalte nicht aus dem Blick
verliert. Hier könnten deutsche Aktivistinnen einiges lernen, auch was
Diskussionskultur anbelangt. Diskutiert werden müßte, wie eine offene und
trotzdem zuverlässige Informationsstruktur geschaffen werden kann (die
beispielsweise Beiträge von Polizei und Nazis im Netz rechtzeitig enttarnt).
Die Entscheidungsstruktur des Genoa Social Forum, ein morgendliches
Delegiertentreffen und allabendliches Plenum zur Mitteilung der Ergebnisse, hat
sich für die Tage vor dem Gipfel als tauglich erwiesen, wurde dann aber durch
den Riot außer Kraft gesetzt. Vor allem hätte der gemeinsame Rückzug aus der
Stadt von vorneherein besser organisiert werden können, damit die Letzten nicht
die Hunde beißen. Im Carlini-Stadion hat das ansatzweise funktioniert, dort
reiste die große Mehrheit, u.a. aufgrund von Lautsprecherdurchsagen, noch am
Samstag abend ab. Doch hätten hier Erfahrungen auch an andere Spektren der
Bewegung vermittelt werden können.

Gruppe "Gemeinsam sind wir
stark"

 

26.07.2001
Gemeinsam sind wir stark   [Aktuelles zum Thema: Int. Solidarität]  Zurück zur Übersicht

Zurück zur Übersicht