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Erfurt: Martin Walser Besuch

Warum Martin Walser nicht reden soll

DIE DEUTSCHEN UND IHR DICHTER

Für den 13.September hat die Universität Erfurt den Schriftsteller Martin
Walser eingeladen. Er soll 18 Uhr in der Michaeliskirche über den "Lebenslauf
der Liebe" reden.

1998 erhielt Martin Walser den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. In
der Frankfurter Paulskirche hielt er vor der deutschen Polit-Elite seine
Dankesrede. Nach seiner Rede erntete er stehenden Applaus, nur drei Menschen
blieben sitzen: Der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland Ignatz
Bubis, Ida Bubis sowie Friedrich Schorlemmer. In seiner Rede kämpfte Martin
Walser "vor Kühnheit zitternd" gegen "die Instrumentalisierung unserer Schande"
durch unbenannte Mächte, welche die Nationalsozialist(inn)en wohl
jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung nannten.

Nicht der Beifall von Junge Freiheit bis NPD und DVU, nicht die attestierte
Missverständlichkeit der Rede steht in unserer Kritik, sondern Martin Walser
selbst, seine Unterstützer(innen) und die deutschen Verhältnisse.

Das Bild ist alt. Den Deutschen, einem einfachen, harmonischen, natürlichen,
normalen Kollektiv, wird Gewalt angetan. Anonyme Mächte lassen nichts
unversucht die Deutschen zu quälen, um sich dabei zu bereichern. Dagegen lohnt es
sich aufzubegehren. Den letzten solchen deutschen Aufstand bezahlten 6
Millionen Juden/Jüdinnen mit dem Leben. Keine 60 Jahre später halluziniert
Martin Walser die Deutschen wieder als Opfer einer Verschwörung und das nicht
trotz, sondern wegen Auschwitz. "Uns" soll weh getan werden. "Unsere Schande"
- gemeint ist der Holocaust - werde "zu gegenwärtigen Zwecken"
instrumentalisiert. Mit "Moralkeulen" wird auf "uns" eingeschlagen, es sei nicht möglich
die Seite der "Beschuldigten" zu verlassen. Jetzt wird sogar noch ein Mahnmal
- ein "Alptraum" - errichtet.

Welchen Zweck "die" dabei verfolgen, "uns" mit "unserer Schande" zu quälen,
das lässt Martin Walser offen. Doch sein Publikum hat verstanden. Gerade
fanden die Verhandlungen über die Entschädigung von NS-Zwangsarbeiter(inne)n
statt, ihnen muss an der "Schande" gelegen sein. Dreist genug, dass sie über ihre
Entschädigung verhandeln müssen, gelten sie bzw. ihre Anwält(inn)e(n) der
deutschen Gemeinschaft als ausgesprochen rachsüchtig. So ahnt der Spiegel
Herausgeber Rudolf Augstein, dass das Mahnmal in Berlin "gegen die Hauptstadt" und
das sich neu formierende Deutschland gerichtet sein müsse, aber mit
Rücksicht auf die "New Yorker Presse" und die "Haifische im Anwaltsgewand",
also der Vertretung der NS-Zwangsarbeiter(innen), spräche dies niemand aus.
Das Neonaziblatt "National Journal" schließlich ergänzte die "jüdische
Weltführung".

Bei dieser Denunziation des Bösen hindert jede Beschäftigung mit der eigenen
Verantwortung und mit der Verantwortung des deutschen Kollektives. Nicht
nur, dass Martin Walser, der als Wehrmachtsoldat seinen Beitrag leistete, dass
Auschwitz weiterbetrieben werden konnte, die eigene - ganz persönliche -
Verantwortung nicht in den Mund nimmt, bei ihm gibt es überhaupt keine
Verantwortlichen mehr, nur "Schande" und "Beschuldigte".

Doch Antisemitismus ist nicht das alleinige Problem eines Herrn Martin
Walser. Der moderne Antisemitismus ist in der bürgerlichen Gesellschaft angelegt.
Er hat nichts mit Juden/Jüdinnen zutun, vielmehr ist er die falsche
Projektion des/der Antisemit(inn)en: Im Juden wird all das zusammengefasst, was an
den Verhältnissen stört. Die kapitalistische Ausbeutung erscheint in der
Zirkulationssphäre des Kapitals - die qua christlicher Ideologie mit dem/der
Juden/Jüdin assoziiert wird - als arbeits- und müheloses Einkommen. Dort scheint
sich das Geld von alleine, ohne schweißtreibende Arbeit zuv ermehren. Dabei
wird das Kapital aufgespalten in vermeintlich raffendes und schaffendes. Die
kapitalistischen Verhältnisse werden so zu moralischen Versagen einzelner
verklärt, deren Leben man/frau ihnen neidet. So werden alle Erscheinungen der
Moderne durch die sich der/die Antisemit(in) bedroht fühlt auf den Juden
projiziert. Sei es Geld, Abstraktion, Aufklärung, Demokratie oder Kommunismus. So
werden die Juden/Jüdinnen zu "unserem Unglück". Dies ermöglicht eine "vor
Kühnheit zitternde" Revolte gegend die bürgerliche Gesellschaft, welche diese
niemals wirklich in Frage stellt.

Doch Antisemitismus ist ebenso insbesondere das Problem einer halluzinierten
deutschen
Volksgemeinschaft, die sich seit dem Bestehen in Abgrenzung zu allem
Modernen versteht, was als jüdisch wahrgenommen wird. Weder die gemeinsame
Geschichte, noch eine geglückte Revolution konnten in Deutschland für die Herstellung
der Nation herangezogen werden. Was blieb sind völkische
Mechanismen in Abgrenzungen zu äußeren (französischen) und inneren
(jüdischen) Feind(inn)en. Das Blut und Boden Prinzip fand in Auschwitz seinen
Höhepunkt. Das völkische Prinzip ist im deutschen Staatsbürger(innen)schaftsrecht bis
heute nicht abgeschafft. Das Deutschsein war nicht ohne Antisemitismus
denkbar, seit Auschwitz ist es das auch für die Zukunft nicht.

So wundert es auch nicht, dass niemand außer Ignatz Bubis öffentlich
wahrnehmbar das Wort ergriff, um Martin Walsers Rede als das zu bezeichnen, was sie
ist: geistige Brandstiftung. Zu einig sind sich die Deutschen in ihrem Bild
von Juden/Jüdinnen und von ihrer Geschichte.

Schon Konrad Adenauer hatte formuliert: "Dat Weltjudentum is eine jroße
Macht". Allerdings war dieser öffentliche antisemitische Ausfall in den 50iger
und 60iger Jahren eher die Ausnahme, zu sehr schaute die Welt auf das
Nachkriegsdeutschland. Doch auch Helmut Kohl besuchte 1985 einen Wehrmachts- und
SS-Friedhof, um den Toten die Ehre zu erweisen. Mit der Wiedervereinigung sprachen
viele Deutsche ihren Wahn wieder offen aus. Vier Brandanschläge auf
Synagogen hat es seit der Wiedervereinigung in Deutschland gegeben, etliche jüdische
Friedhöfe wurden geschändet. Die meisten Schändungen wurde als "sinnlose
Zerstörungswut" heruntergespielt. 1997 wehrte sich das Dorf Gollwitz kollektiv
gegen jüdische Kontingentflüchtlinge, ein Großteil der deutschen Öffentlichkeit
zeigte dafür zumindest Verständnis. Doch auch mit ihrer Geschichte haben die
Deutschen abgeschlossen. Die Stadt Erfurt erwähnt in ihrer Online-Chronik
den Holocaust kaum und bejammert die Bombardierungen der Stadt. Das Buch
"Hitlers willige Vollstrecker" von Daniel Goldhagen löste in der deutschen Debatte
vor allem Abwehrreflexe aus, Norman Finkelsteins Ausführungen über eine
"Holocaust-Industrie", also ein unterstelltes Profitinteresse am Holocaust,
hingegen wurde positiv aufgenommen. 1999 log die deutsche Bundesregierung Auschwitz
im Kosovo herbei, um Krieg gegen ein Land zu führen, das ein Resultat des
Widerstandes gegen Nationalsozialismus war. Nach dem Sieg der UCK und NATO
wurden die meisten Juden/Jüdinnen, Sinti und Roma sowie Serb(inn)en aus dem
Kosovo vertrieben. TAZ und FAZ fordern inzwischen deutsche Truppen für Israel,
damit die Deutschen den Juden/Jüdinnen endlich mal die Menschenrechte beibringen
können. Das ist deutsche Realität. Das erschreckende daran ist, dass sich in
diesen Fragen eine überwältigende Mehrheit quer durch alle politischen
Strömungen einig ist.

Das Phänomen Antisemitismus der bürgerlichen Gesellschaft lässt sich nur in
der Überwindung derselben bekämpften. Eine Emanzipation der Deutschen als
Deutsche vom Antisemitismus ist nicht möglich, es bleibt die Emanzipation vom
Deutschtum.

Alle, welche die Hoffnung auf eine Gesellschaft, in der der Mensch kein
geknechtetes, erniedrigtes und verächtliches Wesen ist, nicht aufgegeben haben,
sind aufgerufen mit uns gegen die deutschen Zustande zu protestieren.

Die unterzeichnenden Gruppen
>StuRA Uni Erfurt Referat Soziales
>Besetzer(innen) des Topf und Söhne Geländes (Erfurt)
>anarchistisch-kommunistische Gruppe yafago (Erfurt)

MITTWOCH | 12.9. | 19:00 UHR | OFFENE ARBEIT | ALLERHEILIGENSTRASSE 9 |
ERFURT

Lese- und Diskussionsveranstaltung zu sekundärem Antisemitismus und
deutscher Vergangenheitspolitik

DONNERSTAG | 13.9. | 18:00 UHR | MICHAELISKIRCHE | ERFURT

Wir rufen zu Protesten und Störungen der Veranstaltung mit Martin Walser auf

aktuelle Infos
>> www.infoladen.net/sabotnik
>> 0361-5661321 (AntifaInfoTelefon)

 

07.09.2001
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