Nach dem 11.September wird nichts mehr so sein wie zuvor?
"Nach dem 11.September wird nichts mehr so sein wie zuvor" - von wegen!
Terroristen sollen es also tatsächlich geschafft haben, alles zu ändern, was
die schöne freie Welt der Marktwirtschaft und des demokratisch organisierten
Imperialismus ausmacht:
Seit dem 11. September
- gibt es also keine NATO-Kriege mehr zum Niedermachen störrischer
Mitglieder der Staatenfamilie, bei denen "Kollateralschäden" unter der
Zivilbevölkerung, "unschuldige Frauen & Kinder" inklusive, "leider
unvermeidlich" sind?
- produziert die ganz normale Mehrung des als Kapital akkumulierten
Reichtums in den sogenannten Industriestaaten nicht mehr die "leider
unvermeidlichen" Nebenwirkungen: immer größere Armut bei den notorischen
Hungerleidern in der "Dritten Welt" und bei dem von "unserer" Wirtschaft
angewandten bzw. als Arbeitlose ausgemustertem Menschenmaterial?
- hat die Unterwerfung des Gebrauchswerts unter den Profit in den hoch
entwickelten Gesellschaften der florierenden Marktwirtschaft keine negativen
Konsequenzen mehr für Gesundheit und sogar für das blanke Überleben - wie z.
B. durch BSE?
- haben mündige Bürger aus der mörderischen Anwendung religiösen
(Wahn-)Sinns, der hinter dem Terror stecken soll, den einzig vernünftigen
Schluss gezogen, endlich mit diesem irrationalen und lebensgefährlichem
(Un-)Sinn aufzuhören?
Nichts auch nur annähernd dergleichen ist passiert!
Ist es nicht eher so, dass die politischen Sachwalter des weltweiten
Geschäfts machtvoll demonstrieren, dass Terroristen sie gewiss nicht davon
abbringen können, die Welt weiterhin und erst recht auf dem eingeschlagenen
und feststehenden Weg zu regieren und zu regulieren. Mit mutigen
Bekenntnissen zum Fundamentalismus, der den Prinzipien
freiheitlich-westlicher Weltalleinherrschaft zu Grunde liegt, drohen sie dem
Rest der Welt damit, dass sie vor keiner Gewalt zurückschrecken, um ihre
Maßstäbe von Weltordnung als die allein gültigen durchzusetzen. Dafür wird
seit dem 7. Oktober mit Bomben und Raketen auf Städte in Afghanistan
"zurückgeschossen".
Längst schon hat Amerika mit seinem Abschreckungsmonopol der ganzen Welt
beigebracht, dass Widerstand von Staaten gegen seine Weltoberaufsicht nur um
den Preis schwerer Schädigungen bis hin zur Gefährdung der eigenen
Staatlichkeit zu haben ist. Gegnerschaft zu dieser Weltfriedensordnung wurde
von den USA und ihren Partnern als ein Verbrechen behandelt, unbotmäßige
Staaten wurden zu "Schurkenstaaten" erklärt, die vom selbst ernannten
Weltgerichtshof USA verurteilt und entsprechend bestraft werden.
Da konnte es gar nicht ausbleiben, dass auf der ganzen Welt unterlegene
Nationalisten auf die ihnen fortwährend vorgeführte Oberherrschaft der
amerikanischen Nation mit Anti-Amerikanismus reagieren. Freilich trägt sich
der sehr unterschiedlich vor:
Da gibt es erstens Bündnispartner, die zu Konkurrenten um die Weltmacht
geworden sind. Die kamen jetzt sich und anderen mit "besorgten Fragen": Hat
Amerika durch "Übertreibungen" beim Beherrschen der Welt den Terrorismus
nicht auch ein bisschen hervorgerufen? Könnte der amerikanische Präsident
beim "Zurückschlagen" eventuell "übertreiben" und dadurch dem Terrorismus
noch mehr Parteigänger zuführen? Deswegen haben die europäischen
Bündnispartner Mitbestimmung beim Abschlachten des mutmaßlichen Terrorismus
und beim Krieg gegen seine Unterstützerstaaten gefordert.
Zweitens gibt es eine Mehrzahl von Nationen, die fortwährend feststellen
müssen, dass durch den ganz normalen Gang amerikanischen Geschäfts und
amerikanischer Weltpolitik ihre Interessen geschädigt werden. In diesen
Ländern gibt es genügend Leute, die sich die Schädigungen, unter denen das
Volk in ihren Augen leidet, mit der Machtlosigkeit ihres Staates oder als
Verrat der Regierung am eigenen Volk erklären. Auch dort macht sich also der
ganz normale politische Sachverstand um die Interessen seines Staates Sorgen
und teilt von diesem Standpunkt den Rest der Welt in Freund und Feind seiner
Nation ein. Daher finden so politisierte Menschen gerade in Staaten, die zur
Unterordnung oder zur Ohnmacht verurteilt sind, genug Gründe, gegen Amerika
zu sein, weswegen Washington dort jede Menge
"anti-American activities"
registriert.
Aufgrund des Attentats vom 11. September sieht sich Amerika zu einer
Selbstkritik in Sachen Weltherrschaft herausgefordert - und verordnet sich
einen Kampfauftrag für einen langanhaltenden Weltkrieg gegen den
"Terrorismus":
- Jeder Staat auf der Erde wird auf einen totalen Pro-Amerikanismus
verpflichtet. Wer nicht mit und für Amerika den "anti-terroristischen Krieg"
führt, erklärt sich selbst zum Feindstaat.
- Es gibt nämlich offensichtlich immer noch Staaten, in denen sich
"Aktivitäten" erkennen oder vermuten lassen, die den Terrorismus "nähren"
(Bush sprach von "über 60 Ländern": Also fast die halbe Welt, die Amerika
immer noch nicht genug unter Kontrolle hat!)
- Ab sofort werden solche Staaten ohne Rücksicht auf ihre Souveränität und
mit dem Mittel gewaltsamer Einmischung in alle ihre inneren Angelegenheiten
dafür haftbar gemacht, noch den letzten Rest von Anti-Amerikanismus bei sich
zu unterdrücken.
- Das wird die Konflikte in diesen Staaten mit Sicherheit noch um einiges
gewaltsamer werden lassen. Bürgerkriege, z. B. in Pakistan, werden schon
offen angesagt.
Diese Änderung dessen, was man naiv "die Weltlage" nennt, ist nun wirklich
nicht das Werk des Terrorismus, der angeblich nichts mehr so sein lässt wie
zuvor. - Diese Änderung verdankt sich ausschließlich der Re-Aktion der
Weltvormacht auf die Attentate. Gerade weil Amerika jede Herausforderung und
jede Schädigung seiner Macht für unerträglich befindet, schlägt es mit
seiner überlegenen Gewalt zu. Und damit für alle potenziellen Herausforderer
der "Preis" klargestellt wird, fällt der "Gegenschlag" so aus, dass kein
Stein auf dem anderen bleibt - Kollateralschäden an UNO-Mitarbeitern u. a.
"unschuldigen Unbeteiligten" gehen selbstverständlich auf die Rechnung der
Herbergsväter des Terrorismus.
Auch hierzulande soll der Terrorismus für tief greifende Veränderungen
gesorgt haben. In den Feuilletons ergehen sich kritische Journalisten und
Kulturschaffende in der Ausmalung eines "Überwachungsstaates", der nun
einmal "leider" durch den "Kampf den Terrorismus" unumgänglich geworden sei.
Über "unser aller" Sicherheit dürfe aber das "hohe Gut" der Freiheit nicht
in Vergessenheit geraten.
Aber ist es denn tatsächlich so, dass der Terrorismus der Demokratie eine
Schlagseite oder gar Einseitigkeit in Sachen innerer Sicherheit aufzwingt,
die ihrem Wesen angeblich zutiefst fremd sind? Den Prinzipienstreit
"Freiheit contra Sicherheit" gibt es doch seit den Anfängen der Demokratie.
Und das Grundgesetz hat ihn auch eindeutig geregelt: Wenn der Staat seine
unumschränkte Kontrolle über sein Volk gefährdet sieht, steht seine Freiheit
immer über derjenigen seiner Bürger. Daher hält der demokratische Staat die
Überwachung seiner Bürger immer für nötig. Immer hegt er den Verdacht, dass
sie ihre Freiheiten dazu benutzen, staats- und kapitalismuswidrige
Aktivitäten zu entfalten; daher räumt er den verfassungsmäßigen Organen
genug Raum ein, diese auszukundschaften und zu bekämpfen. Wenn es also immer
in seinem Ermessen und seiner Abwägung liegt, in welchem Maße er die
Freiheit seiner Bürger beschränkt oder nicht, dann wird daran
offensichtlich, was im Verhältnis von "Freiheit und Sicherheit" Sache ist:
Die famosen demokratischen Rechte sind nicht welche, die den Bürgern
sozusagen von Natur aus zukommen und vor denen der Staat Respekt zu haben
hätte. - Es handelt sich vielmehr immer um Freiheiten, die er ihnen gewährt,
damit sie sie in seinem Sinne gebrauchen.
Im "Kampf gegen den Terrorismus" setzen Schily und Beckstein daher
folgerichtig Freiheit als die ihre fest, einem prinzipiellen Verdacht gegen
Unzuverlässigkeit bei den Bürgern mehr und bei den Ausländern jeden Raum zu
gewähren. Mit der Wiedereinführung der Rasterfahndung nach "Schläfern" zieht
der Staat also die Konsequenz aus einer Selbstkritik: Er beschuldigt sich
grober Nachlässigkeit, dass die bisherige Rechtslage nur gestattet zu
fahnden, wenn ein konkreter Verdacht vorliegt. Ab sofort werden die Bürger
von vornherein als Verdächtige behandelt. Womit man bisher als ordentlicher
Bürger durchging - keine Schwierigkeiten mit der Staatsgewalt zu kriegen,
die Gesetze einzuhalten, unter seinesgleichen nicht aufzufallen -, das
reicht dem Staat ab sofort nicht mehr aus.
Früher gab es einmal eine Debatte über den "gläsernen Bürger". Demokratien -
so hieß es - unterscheiden sich von Diktaturen - Stasi, Stasi! - dadurch,
dass sie die Privatsphäre ihrer Bürger respektieren. Jetzt kann der Bürger
dem Staat gar nicht ?gläsern? genug sein. Und wer da laut
"Überwachungsstaat" schreit, muss sich von Schily und Beckstein vorhalten
lassen, dass er in der Alternative zwischen Demokratie und Terrorismus
offensichtlich auf der falschen Seite steht.
"Trauer und Entsetzen" sollen in den Tagen nach dem 11. September so
"überwältigend" gewesen sein, dass "nichts mehr so sein wird wie zuvor".
Rund um die Uhr wurde in Politikerreden, von Presse und Fernsehen Mitleid
mit den Opfern von New York und Washington bekundet. Die Toten und ihre
trauernden Angehörigen gerieten aber immer mehr an den Rand der öffentlichen
Anteilnahme. Von Tag zu Tag wurde der Kreis der Opfer immer größer; das
öffentliche Beileid gilt immer mehr lauter alten Bekannten:
- Die Versicherungswirtschaft hat einen schweren Schlag hinnehmen müssen -
hat sie womöglich mit sinkenden Renditen zu rechnen?
- Die Passagierzahlen bei den Fluggesellschaften gehen zurück - muss da
nicht der Staat den Airlines und am besten gleich noch der gesamten
Tourismusbranche unter die Arme greifen?
- Die Börsen registrieren Schäden und Entschädigungssummen aufmerksam und
lassen die Kurse fallen - wen reißen sie mit rein?
- Der "Kampf gegen den Terrorismus" muss finanziert werden - könnte es sein,
dass Eichels Steuererhöhungen der Konjunktur schaden?
- Die Staaten legen, sei es wegen "Anti-Terror", sei es für in Bedrängnis
geratene Kapitale, Ausgabenprogramme auf - geraten sie dadurch in
Haushaltsnöte?
- Droht "uns" nun gar eine Rezession der Weltwirtschaft?
- Können die Staaten sie verhindern, womöglich sogar mit Hilfe des "Kampfes
gegen den Terror"?
Die öffentlich ausgerufene "Trauer" und das vielstimmig angesagte
"Entsetzen" werden so offen, ehrlich und brutal auf das heruntergebracht,
was wirklich zählt: Wie läuft der kapitalistische Laden? Der Terrorismus hat
die kapitalistische Normalität gestört. Um diese Normalität
wiederherzustellen, sehen sich die führenden Nationen des demokratischen
Imperialismus zu einem einzigen großen Kraftakt herausgefordert. Wie der
aussehen soll? Dazu fällt ihnen ihrer und der Natur der Sache nach, um die
es geht, wirklich nichts Neues ein: Sie versprechen, ganz viel Gewalt
aufzufahren! Am 7. Oktober erfolgte der erste Gewaltakt und die Freie Welt
wartet gespannt auf die Erfolgsbilanz der angloamerikanischen
Vernichtungsmaschinerie.
Sie kennt also nur ein Problem: Wird diese Gewalt zweckmäßig eingesetzt?
Darüber werden sich tatsächlich einige Änderungen in der Welt einstellen.
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