Die zionistische und die palästinensische Geschichte
Uri Avnery stellt für den israelischen Friedensblock Gusch Schalom achtzig Thesen für einen gelingenden Friedensprozess auf
In der angesehenen israelischen Zeitung Haaretz ist vor kurzem auf einer Seite ein Thesen-Papier des israelischen Friedensblocks Gusch Schalom erschienen. Verfasser der 80 Thesen ist Uri Avnery, Mitbegründer von Gusch Schalom. Der auch in Deutschland bekannte und vielfach geehrte Avnery wurde 1923 in Beckum geboren und emigrierte 1933 nach Palästina. Avnery erhielt u.a. den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis der Stadt Osnabrück und wird dort am 10. Mai an einer Diskussion der alljährlichen Osnabrücker Friedensgespräche teilnehmen. Wir dokumentieren erstmals in Deutsch Auszüge aus den Thesen, die Ernst Herbst und Ellen Rohlfs übersetzten. Avnery autorisierte den Text.
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Die Wurzel des Konflikts
(...) 12. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist die Fortsetzung des historischen Zusammenpralls zwischen der zionistischen Bewegung und dem palästinensisch-arabischen Volke, ein Zusammenprall, der am Ende des 19. Jahrhundert begann und noch immer kein Ende gefunden hat.
13. Die zionistische Bewegung war im Wesentlichen eine jüdische Reaktion auf die nationalen Bewegungen in Europa, die alle den Juden gegenüber feindlich gesinnt waren. Nachdem sie von den europäischen Nationen abgelehnt worden waren, entschieden einige Juden, sich selbst als Nation zu konstituieren und, nach dem neuen europäischen Modell, ihren eigenen Nationalstaat zu gründen, in dem sie Herr über ihr eigenes Schicksal sein könnten. Das Prinzip der Trennung, das die Basis der zionistischen Idee bildet, hatte später weitreichende Folgen. Das grundlegende zionistische Dogma, wonach eine Minorität, nach europäischem Modell, nicht in einem national homogenen Staat existieren könne, führte später zur praktischen Ausgrenzung der nationalen Minderheit im zionistischen Staat, der 50 Jahre später Wirklichkeit wurde.
14. Traditionelle und religiöse Gründe brachten die zionistische Bewegung nach Palästina (Hebräisch: Erez Israel ) und es wurde entschieden, in diesem Land einen jüdischen Staat zu gründen. Die Losung lautete: "ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land". Diese Losung wurde nicht nur aus Unkenntnis geprägt, sondern auch auf Grund der allgemeinen Arroganz gegenüber nicht-europäischen Völkern, die zu jener Zeit in Europa vorherrschte.
15. Palästina war nicht leer - weder zum Ende des 19. Jahrhunderts noch zu irgend einer anderen Zeit. Zu jener Zeit lebte eine halbe Million Menschen in Palästina, 90 Prozent davon waren Araber. Diese Bevölkerung war natürlich gegen das Eindringen eines anderen Volkes in ihr Land.
16. Die arabische Nationalbewegung entstand fast gleichzeitig wie die zionistische Bewegung, anfänglich um gegen das türkisch-osmanische Reich und nach dessen Zerstörung am Ende des Ersten Weltkrieges gegen die Kolonialmächte zu kämpfen. Eine eigene arabisch-palästinensische Nationalbewegung entwickelte sich im Land, nachdem die Briten einen separaten Staat gegründet hatten, den sie Palästina nannten, und infolge des Kampfes gegen das Eindringen der Zionisten.
17. Seit Ende des Ersten Weltkrieges gab es eine zunehmende Auseinandersetzung zwischen den beiden Nationalbewegungen, der jüdisch-zionistischen und der palästinensisch-arabischen, und beide trachteten danach, im selben Land ihr Ziel zu verfolgen - das den andern völlig außer Acht ließ. Diese Situation blieb unverändert bis zum heutigen Tag.
18. Als in Europa sich die Verfolgung der Juden intensivierte und die Länder der Welt ihre Tore für jüdische Einwanderer, die dem Inferno zu entkommen versuchten, schlossen, gewann die zionistische Bewegung an Stärke. Der Holocaust, dem sechs Millionen Juden zum Opfer fielen, verlieh der zionistischen Forderung, nämlich nach Errichtung des Staates Israel, moralische und politische Macht.
19. Das palästinensische Volk, das die Zunahme der jüdischen Bevölkerung in seinem Land beobachtete, konnte nicht einsehen, warum von ihm der Preis für die von Europäern an Juden begangenen Verbrechen gefordert wurde. Heftig wehrte es sich gegen weitere jüdische Einwanderung und gegen weiteren Landerwerb durch Juden.
20. Die totale Leugnung, durch beide Völker, der nationalen Existenz des anderen führte unvermeidlich zu einer falschen und verzerrten Wahrnehmung, die im kollektiven Bewusstsein beider tiefe Wurzeln schlug. Diese Wahrnehmung beeinflusst ihre Haltung zueinander bis auf den heutigen Tag. (. . .)
Unabhängigkeit und Katastrophe
26. Der Kontrast der beiden nationalen Geschichtsauffassungen gipfelte im Krieg von 1948. Von den Juden wurde dieser "Unabhängigkeitskrieg" oder gar "Befreiungskrieg" genannt, von den Arabern "al-Nakba", die Katastrophe.
27.Mit der Zunahme des Konflikts in der Region und unter der Nachwirkung des Holocaust entschieden die Vereinten Nationen, das Land in zwei Staaten zu teilen, einen jüdischen und einen arabischen. Jerusalem und seine Umgebung sollte einen Sonderstatus erhalten unter internationaler Aufsicht. Den Juden waren 55 Prozent des Landes einschließlich des dünn besiedelten Negev zugeteilt.
28. Die zionistische Bewegung akzeptierte den Teilungsplan, davon überzeugt, dass es das Wichtigste war, eine feste Basis für jüdische Souveränität zu schaffen. In geschlossenen Sitzungen hat David Ben Gurion nie seine Absicht verhehlt, bei der nächsten Gelegenheit, das den Juden gegebene Land zu erweitern. Deshalb definiert Israels Unabhängigkeitserklärung nicht Israels Grenzen und der Staat hat bis heute keine festgelegten Grenzen.
29. Die arabische Welt akzeptierte den Teilungsplan nicht und betrachtete ihn als einen nichtswürdigen Versuch der Vereinten Nationen, (die damals ein Klub von westlichen und kommunistischen Staaten war), ein Land zu teilen, das ihnen nicht gehörte. Da man den größten Teil des Landes der jüdischen Minderheit übergab, die nur ein Drittel der Bevölkerung ausmachte, machte die Sache in ihren Augen noch weniger entschuldbar.
30. Der Krieg, der nach dem Teilungsplan von den Arabern begonnen wurde, war zwangsläufig ein "ethnischer" Krieg, eine Art von Krieg, in dem jede Seite versucht, so viel Land als möglich zu erobern und die Bevölkerung der Gegenseite zu vertreiben. Eine solche Kampagne (die später "ethnische Säuberung" genannt wurde) ist immer mit Vertreibung und Gräueltaten verbunden.
31.Der Krieg von 1948 war eine unmittelbare Fortsetzung des zionistisch-arabischen Konfliktes, bei der jede Seite versuchte, ihre Ziele zu erreichen. Die Juden wollten einen homogenen Nationalstaat errichten, der so groß wie möglich sein sollte. Die Araber wollten die zionistisch-jüdische Gemeinschaft vernichten, die sich in Palästina festgesetzt hatte.
32. Beide Seiten praktizierten ethnische Säuberung als integralen Bestandteil ihres Kampfes. Da blieben nicht viele Araber in den von Juden eroberten Gebieten, und kein Jude blieb in den von Arabern eroberten Gebieten. Da jedoch die von Juden eroberten Gebiete bei weitem größer waren als die von Arabern eroberten, war das Ergebnis keineswegs ausgeglichen. (Die Idee eines Bevölkerungsaustausches und "Transfer" war in den zionistischen Organisationen schon in den 30er Jahren aufgekommen. Tatsächlich bedeuten sie die Vertreibung der arabischen Bevölkerung aus dem Land. Auf der andern Seite waren viele Araber der Meinung, dass die Zionisten dorthin zurückgehen sollten, wo sie hergekommen waren. (. . .)
"Ein jüdischer Staat"
37. Die Unterzeichnung der Waffenstillstandsvereinbarungen am Ende des 1948er-Krieges brachte kein Ende des historischen Konfliktes. Im Gegenteil, dieser wurde auf eine neue und intensivere Ebene gehoben.
38. Der neue Staat Israel widmete seine frühen Jahre der Konsolidierung seines homogenen nationalen Charakters als "jüdischer Staat". Große Teile des Bodens wurden enteignet - von den "Abwesenden" (den Flüchtlingen) und von denen, die offiziell als "abwesend Anwesende" bezeichnet wurden. (Araber, die zwar physisch in Israel geblieben waren, die aber nicht Bürger des Landes werden durften.) Enteignet wurde sogar der größte Teil des Bodens der arabischen Bürger Israels. Auf diesen Ländereien wurde ein dichtes Netzwerk jüdischer Siedlungen geschaffen. Jüdische Immigranten wurden eingeladen oder sogar veranlasst, in Massen zu kommen. Dieser große Aufwand vergrößerte die Macht des Staates in nur wenigen Jahren um ein Mehrfaches.
39. Zur selben Zeit führte der Staat nachdrücklich eine Politik zur Auslöschung der palästinensischen Gemeinschaft als eine nationale Entität. Mit israelischer Hilfe übernahm der transjordanische König Abdullah die Kontrolle über das Westjordanland und seitdem gibt es praktisch eine israelische militärische Garantie für die Existenz des Königreichs Jordanien.
40. Der Hauptgrund für die Zusammenarbeit zwischen Israel und dem Hashemitischen Königreich, die über drei Generationen andauert, war die Verhinderung des Entstehens eines unabhängigen arabisch-palästinensischen Staates, der - damals wie heute - als ein wesentliches Hindernis für die Realisierung der zionistischen Ziele betrachtet wurde und wird.
41. Gegen Ende der Fünfziger Jahre ereignete sich auf palästinensischer Seite ein historischer Wandel, als Yassir Arafat und seine Mitstreiter die Fatah-Bewegung gründeten, die die palästinensische Befreiungsbewegung aus der Vormundschaft der arabischen Regierungen führen sollte. Es war kein Zufall, dass diese Bewegung nach dem Scheitern des großen panarabischen Konzepts entstand, dessen bekanntester Vertreter Gamal Abd el Nasser war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten viele Palästinenser gehofft, in eine vereinigte all-arabische Nation aufgenommen zu werden. Als diese Hoffnung dahinschwand, erwachte die eigene palästinensische Nationalidentität aufs Neue.
42. Die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) wurde von Gamal Abd el Nasser geschaffen, um selbstständige palästinensische Aktionen zu verhindern, die ihn in einen unerwünschten Krieg mit Israel hätte hineinziehen können. Die Organisation sollte die ägyptische Herrschaft über die Palästinenser sichern. Doch nach der arabischen Niederlage im 1967-Krieg übernahm die von Yassir Arafat geführte Fatah die Kontrolle über die PLO, die seither die einzige Vertreterin des palästinensischen Volkes ist.
"Der Sechs-Tage-Krieg"
43. Der Juni-Krieg 1967 wird - wie jedes Ereignis der vergangenen 120 Jahre - von beiden Seiten in sehr verschiedener Weise gesehen. Nach israelischem Mythos war es ein verzweifelter Verteidigungskrieg, der dem Staat Israel wunderbarerweise eine Menge Land bescherte. Nach palästinensischem Mythos tappten die Ägypter, Syrer und Jordanier in eine von Israel gestellte Falle, um all das zu erbeuten, was von Palästina noch übrig war.
44. Viele Israelis glauben, dass der "Sechs-Tage-Krieg" die Wurzel allen Übels ist und dass erst zu diesem Zeitpunkt das friedliebende und fortschrittliche Israel sich in einen Eroberer und Besatzer verwandelte. Diese Überzeugung erlaubt den Israelis, die Idee der absoluten Unschuld des Zionismus und des Staates Israel bis zu diesem Zeitpunkt aufrechtzuerhalten und ihre alten Mythen zu bewahren. Diese Legende entspricht aber nicht den Tatsachen.
45. Der Krieg von 1967 war eine neue Phase des alten Kampfes zwischen den zwei Nationalbewegungen. Er änderte nichts am Wesentlichen. Er änderte nur die Umstände. Die wesentlichen Ziele der zionistischen Bewegung, ein jüdischer Staat, Expansion und Besiedelung machten große Fortschritte. Die besonderen Umstände dieses Krieges machten eine umfassende "ethnische Säuberung" unmöglich. Aber mehrere Hunderttausende Palästinenser wurden trotzdem vertrieben.
46. Israel waren im Teilungsplan von 1947 55 Prozent des Landes (Palästina) zugesprochen worden; zusätzliche 23 Prozent wurden im 1948er-Krieg erobert und nun noch die verbliebenen 22 Prozent - jenseits der "Grünen Linie" (der Waffenstillstandslinie von vor 1967). So wurde 1967 - unbeabsichtigt - das palästinensische Volk unter Israels Herrschaft wieder vereinigt, einschließlich eines Teils der Flüchtlinge.
47. Kaum war der Krieg beendet, begann die Siedlungsbewegung. Fast jede politische Gruppe des Staates beteiligte sich daran - von der messianisch-nationalistischen "Gusch Emunin" bis zu den "Linken" der Vereinigten Kibbuz-Bewegung. Die ersten Siedler erhielten breite Unterstützung von Seiten der meisten Politiker, von linken und rechten, von Yigal Alon (jüdische Siedlung in Hebron) bis Schimon Peres (Kdumin Siedlung). (. . .)
51. Der Generalstab der israelischen Armee spielte bei der Planung und beim Bau der Siedlungen eine bedeutende Rolle. Er zeichnete die Karte der Siedlungen (Ariel Scharon): Blöcke von Siedlungen und Umgehungsstraßen, der Länge und der Breite nach, so dass das Westjordanland und der Gaza-Streifen zerstückelt sind und die Palästinenser in isolierten Enklaven eingesperrt werden, von denen jede von Siedlungen und der Besatzungsarmee umzingelt ist.
52. Die Palästinenser nutzten verschiedene Methoden des Widerstandes, hauptsächlich Überfälle von Jordanien und dem Libanon aus sowie Angriffe innerhalb Israels und überall in der Welt.
Diese Aktionen werden von den Israelis als "terroristisch" bezeichnet, während die Palästinenser in ihnen den legitimen Widerstand einer Nation unter Besatzung sehen. Die Führung der PLO, geleitet von Yassir Arafat, wurde von den Israelis lange Zeit als eine terroristische Führung angesehen, aber nach und nach wurde sie international als die "einzig legitime Vertretung" des palästinensischen Volkes anerkannt.
Der Friedensprozess
53. Als den Palästinensern klar wurde, dass diese Aktionen die Siedlungsbewegung nicht beenden konnten, die ihnen allmählich das Land unter den Füßen wegzog, begannen sie Ende 1987 die Intifada - einen Volksaufstand aller Bevölkerungsgruppen. In dieser Intifada wurden 1500 Palästinenser getötet, unter ihnen hunderte von Kindern, das Mehrfache der israelischen Verluste.
54. Der Oktoberkrieg 1973 begann mit dem Überraschungssieg der ägyptischen und syrischen Truppen und endete in ihrer Niederlage. Er überzeugte Yassir Arafat und seine engsten Mitarbeiter, dass es keinen militärischen Weg gibt, um die palästinensischen Ziele zu erreichen. Er beschloss, den politischen Weg zu einem Abkommen mit Israel zu beschreiten, um wenigstens einen Teil der nationalen Ziele durch Verhandlungen zu verwirklichen.
55. Um dafür eine Grundlage zu schaffen, stellte Arafat zunächst Verbindungen mit israelischen Persönlichkeiten her, die Einfluss auf die öffentliche Meinung und auf die Regierungspolitik in Israel hatten. Seine Vertreter (Said Hamami und Issam Sartawi) trafen sich mit Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens Israels, jenen Pionieren des Friedens, die 1975 den "Israelischen Rat für einen israelisch-palästinensischen Frieden" gründeten.
56. Diese Verbindungen und die wachsende Erschöpfung der Israelis durch die Intifada, der Rückzug Jordaniens aus dem Westjordanland, die Veränderung der internationalen Bedingungen (der Zusammenbruch des kommunistischen Blocks, der Golfkrieg) führten zur Madrider Konferenz und später zum Oslo-Abkommen.
Das Oslo-Abkommen
57. Das Oslo-Abkommen hat positive und negative Eigenschaften.
58. Auf der positiven Seite führte das Abkommen Israel zu seiner ersten offiziellen Anerkennung des palästinensischen Volkes und seiner nationalen Führung und führte die palästinensische Nationalbewegung zur Anerkennung der Existenz Israels. Im Hinblick darauf war das Abkommen (und der Briefwechsel, der ihm vorausging) von größter historischer Bedeutung.
59. Das Abkommen gab der palästinensischen Nationalbewegung eine territoriale Basis auf palästinensischem Boden, die Struktur eines "Staates im Werden" und bewaffnete Kräfte - Tatsachen, die später eine bedeutende Rolle in dem fortgehenden palästinensischen Kampfe spielten. Für die Israelis öffnete das Abkommen die Tore zur arabischen Welt und beendete die palästinensischen Angriffe - solange das Abkommen wirksam war.
60. Der hauptsächliche Mangel des Abkommens war, dass beide Seiten hofften, ihre vollkommen gegensätzlichen Ziele zu erreichen. Die Palästinenser sahen es als ein zeitweiliges Abkommen an, das den Weg zur Beendigung der Besatzung und zur Gründung eines Palästina-Staates in allen besetzten Gebieten bereitete. Auf der andern Seite sahen die jeweiligen israelischen Regierungen in ihm den Weg, die Besatzung in großen Teilen des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens aufrechtzuerhalten mit einer palästinensischen Selbstregierung (self-government), die die Rolle einer Hilfsagentur für die Sicherheit Israels und der Siedlungen spielen sollte.
61. Darum stellt Oslo nicht den Beginn eines Prozesses zur Beendigung des Konfliktes dar, sondern eher eine neue Phase des Konfliktes.
62. Da die Erwartungen auf beiden Seiten so sehr voneinander abwichen und jede völlig an die eigene nationale "Erzählung" gebunden blieb, wurde jeder Teil des Abkommens verschieden interpretiert. Letzten Endes wurden viele Teile des Abkommens vor allem von Seiten Israels nicht umgesetzt. (Der dritte Rückzug, die vier sicheren Passagen zwischen dem Gaza-Streifen und dem Westjordanland, u.a.)
63. Während der ganzen Periode des Oslo-Prozesses fuhr Israel mit der Ausdehnung der Siedlungen fort, indem es hauptsächlich unter verschiedenen Vorwänden neue gründete, die bestehenden vergrößerte, ein sorgfältig ausgearbeitetes Netz von Umgehungsstraßen baute, Land enteignete, Häuser zerstörte und Plantagen verwüstete. Die Palästinenser andererseits nutzen die Zeit, ihre Kräfte innerhalb und außerhalb des Rahmens des Abkommens auszubauen. Tatsächlich ging der historische Konflikt unter dem Vorwand der Verhandlungen und des "Friedensprozesses" - der stellvertretend für tatsächlichen Frieden stand - unvermindert weiter.
64. Im Gegensatz zu seinem Image, das sich nach seiner Ermordung noch verstärkte, hielt Yitzak Rabin den Konflikt "auf dem Boden" am Leben, während er gleichzeitig den politischen Prozess managte, Frieden zu israelischen Bedingungen zu erlangen. Da er ein Anhänger der zionistischen "Erzählung" war und ihre Mythologie akzeptierte, litt er an einer kognitiven Dissonanz, als seine Hoffnungen für Frieden mit seiner Vorstellungswelt zusammenprallten. Er hat anscheinend begonnen, einige Teile der palästinensischen Geschichtsdeutung wahrzunehmen - aber das war erst kurz vor seinem Lebensende.
65. Der Fall Schimon Peres ist viel ernster. Er schuf sich selbst ein internationales Image als Friedensmacher und richtete seine Redeweise derart aus, dass sie dieses Image reflektiert ("Der Neue Nahe Osten"), während er im Wesentlichen ein traditioneller zionistischer Falke blieb. Dies wurde während der kurzen und gewalttätigen Periode deutlich, als er nach der Ermordung Rabins als Ministerpräsident fungierte, und noch einmal, als er kürzlich die Rolle des Sprechers und Verteidigers von Scharon annahm.
66. Am deutlichsten wurde das israelische Dilemma, als Ehud Barak zur Macht kam und vollkommen von seiner Fähigkeit überzeugt war, dass er den Gordischen Knoten des historischen Konfliktes mit einem dramatischen Schlag beenden könne - in der Art Alexander des Großen. Barak näherte sich dem Problem mit völliger Ignoranz gegenüber der palästinensischen Geschichtsdeutung und ohne Achtung vor derer Bedeutung. Er präsentierte seine Vorschläge als Ultimaten und war erschrocken und wütend, dass sie zurückgewiesen wurden. (. . .)
70. Der Camp David Gipfel im Sommer 2000, der Arafat gegen seinen Willen aufgedrängt wurde, war vorzeitig und spitzte die Probleme zu. Barak forderte - seine Forderungen wurden beim Gipfel als solche Clintons präsentiert - die Palästinenser sollten den Konflikt als beendet erklären und auf das Rückkehrrecht und die Rückkehr selbst verzichten; sie sollten komplizierte Regelungen für Ost-Jerusalem und den Tempelberg, ohne Souveränität über beides, akzeptieren; sie sollten mit großen territorialen Annektionen im Westjordanland und im Gaza-Streifen einverstanden sein, desgleichen mit israelischer Militärpräsenz in weiteren großen Gebieten und mit der israelischen Kontrolle über die Grenzen, die den palästinensischen Staat vom Rest der Welt trennen. Kein palästinensischer Führer könnte jemals solch ein Abkommen unterzeichnen. Und so endete der Gipfel mit einem toten Punkt und die Karrieren von Clinton und Barak waren auch am Ende.
Die Al-Aksa-Intifada
71. Der Zusammenbruch des Gipfels, das Verschwinden jeglicher Hoffnung für ein Abkommen zwischen den beiden Seiten und die bedingungslose Pro-Israel-Haltung der Amerikaner, führte unvermeidlich zu einer neuen Runde von gewalttätigen Konfrontationen, die den Namen Al-Aksa-Intifada bekamen. Für die Palästinenser ist dies ein gerechtfertigter nationaler Aufstand gegen die fortdauernde Besatzung, deren Ende nicht in Sicht ist und die es ermöglicht, ihnen ständig und täglich ihr Land unter den Füßen wegzuziehen. Für die Israelis ist dies ein Ausbruch mörderischen Terrors. Für die Palästinenser erscheinen die Ausführenden dieser Akte Nationalhelden - für die Israelis gnadenlose Verbrecher, die liquidiert werden müssen.
72. Die offiziellen Medien in Israel sprechen inzwischen nicht mehr von "Siedlern", sondern von "Einwohnern"; ein Angriff auf sie ist demnach ein Verbrechen gegen Zivilisten. Die Palästinenser dagegen sehen in den Siedlern die vorderste Reihe eines gefährlichen Feindes, dessen Absicht es ist, sie ihres Land zu berauben, und der besiegt werden muss.
73. Ein Großteil des israelischen "Friedenslagers" brach während der Al-Aksa-Intifada zusammen und es stellt sich heraus, dass viele seiner Überzeugungen auf tönernen Füßen standen. Besonders nachdem Barak "jeden Stein umgedreht" und "großzügigere Angebote als jeder frühere Ministerpräsident" gemacht hatte, war die Reaktion der Palästinenser für diesen Teil des "Friedenslagers" unbegreiflich. Dieser hatte nämlich die zionistische "Erzählung" nie gründlich revidiert und nicht zur Kenntnis genommen, dass es auch eine palästinensische "Erzählung" gibt. So blieb ihm nur die Erklärung, dass die Palästinenser das israelische Friedenslager betrogen hätten, dass sie nie beabsichtigt hätten, Frieden zu schließen, und dass es ihre wahre Absicht sei, die Juden ins Meer zu werfen, wie die zionistische Rechte seit jeher behauptet.
74. Das Ergebnis war, dass die Trennlinie zwischen der zionistischen "Rechten" und "Linken" verschwand. Die Führer der Arbeitspartei traten in die Scharon-Regierung ein und wurden ihre wirksamsten Apologeten (Schimon Peres) und sogar die formelle linke Opposition (Yossi Sarid) beteiligte sich am Konsens. Dies beweist erneut, dass die zionistische Geschichtsdeutung der entscheidende Faktor ist, der alle Facetten des politischen Establishments in Israel eint und die Unterschiede zwischen Rehavam Zeevi und Avraham Burg, Yitzah Levi und Yossi Sarid unbedeutend werden lässt.
75. Es gibt einen spürbaren Rückgang der palästinensischen Bereitschaft, den Dialog mit den israelischen Friedenskräften wieder aufzunehmen; dies ist eine Folge der großen Enttäuschung über die "linke Regierung", die nach den Netanyahu-Jahren so viele Hoffnungen geweckt hatte, wie auch eine Folge der Tatsache, dass mit Ausnahme der kleinen radikalen Friedensgruppen, von keiner israelischen Empörung über die brutalen Reaktionen der Besatzungskräfte zu hören war. Die Tendenz, die Reihen zu schließen, typisch für jede Nation in einem Befreiungskrieg, ermöglicht es den extremen nationalistischen und religiösen Kräften auf der palästinensischen Seite, sich gegen jede israelisch-palästinensische Zusammenarbeit zu stellen.
Ein neues Friedenslager
76. Der Zusammenbruch des alten Friedenslagers erfordert die Schaffung eines neuen israelischen Friedenslagers, das realistisch, zeitgemäß, wirksam und stark sein wird, das auf die israelische Öffentlichkeit Einfluss ausüben und eine umfassende Neubewertung der alten Axiome herbeiführen kann, um einen Wechsel im israelischen politischen System zu bewirken.
77. Dazu muss das neue Friedenslager die öffentliche Meinung zu einer mutigen Neubewertung der nationalen "Erzählung" und deren Befreiung von falschen Mythen führen. Es muss danach streben, die Geschichtsauffassungen der beiden Völker in einer gemeinsamen "Erzählung" zu vereinen, die frei von Fälschungen ist und von beiden Seiten akzeptiert werden kann.
78. Dabei muss es der israelischen Öffentlichkeit auch vermitteln, dass, bei all den schönen und positiven Seiten des zionistischen Unternehmens, dem palästinensischen Volk ein furchtbares Unrecht angetan wurde. Dieses Unrecht, das seinen Höhepunkt während der "Nakba" erreichte, verpflichtet uns, Verantwortung zu übernehmen und den Schaden wieder gutzumachen, so weit wie dies nur möglich ist.
(...)
80. Die Unterzeichnung eines Friedensabkommens und dessen ehrliche Umsetzung wird zu einer historischen Versöhnung zwischen den beiden Nationen führen, die auf Gleichheit, Zusammenarbeit und gegenseitiger Achtung beruht.
Quelle: http://www.hagalil.com
Deutsch: http://www.nahost-politik.de/friedensbewegung/frieden-80.htm
Vollständiges Thesenpapier:
Englisch: http://www.nahost-politik.de/friedensbewegung/peace-80.htm
Hebräisch: http://www.israel-nachrichten.de/gush-shalom/peace-80h.htm
Arabisch: http://www.gush-shalom.org/arabic/articles/80_basic_a.pdf