Manhattan Transfer
aus: konkret - zeitschrift für Politik & Kultur
Heft 11 November 2001 [http:www.konkret-verlage.de]
Günther Jacob
Manhattan Transfer
Wie der Kampf gegen den US-Imperialismus die Linke überlebt hat
Antiimperialismus heute
"Wer ist der wahre Schuldige an der Zerstörung des World Trade Centers?" Diese
Frage stellte sich am 28. September in einem einflußreichen deutschen Organ
antiimperialistischer und kulturlinker Strömungen die linke indische Schriftstellerin
Arundhati Roy. Ihr Essay enthält eine umfassende Anklage gegen den
US-Imperialismus sowie gegen die anmaßende Abgrenzung der "westlichen
Zivilisation" von der "orientalischen Barbarei". Gerade im Moment der Trauer der
Amerikaner möchte die Autorin unangenehme Fragen stellen und über die Schmerzen
sprechen, die Amerika den Menschen in den armen und in Abhängigkeit gehaltenen
Ländern zugefügt hat und zufügt. Anhand vieler gut gewählter Beispiele beschreibt
sie eine Welt, "die durch die amerikanische Außenpolitik verwüstet wurde, durch ihre
Kanonenbootpolitik, ihr Atomwaffenarsenal, ihre unbekümmerte Politik der
unumschränkten Vorherrschaft, ihre kühle Mißachtung aller nicht-amerikanischen
Menschenleben, ihre barbarischen Militärinterventionen, ihre Unterstützung für
despotische und diktatorische Regimes und ihre wirtschaftlichen Bestrebungen, die
sich gnadenlos wie ein Heuschreckenschwarm durch die Wirtschaft armer Länder
gefressen haben". Sodann erinnert die Autorin, die den Nachrichtentüffel Wickert so
hübsch in Schwierigkeiten gebracht hat, daran, daß die USA seit dem Einmarsch der
Roten Armee in Afghanistan im Jahr 1979 alles getan haben, um in den muslimischen
Sowjetrepubliken eine islamische Erhebung gegen die Kommunisten zu fördern und
daß in diesem Zusammenhang auch Osama Bin Laden und etwa 100.000 radikale
Mudjaheddin aus vierzig Ländern finanziert wurden. "Der Djihad griff über nach
Tschetschenien, in den Kosovo und schließlich nach Kaschmir." Schließlich erinnert
sie an die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki sowie an "die Millionen Toten" in
Korea, Vietnam und Kambodscha, Chile, Nicaragua, El Salvador, Panama,
Dominikanische Republik, Somalia und Jugoslawien.
Am Ende ihres Essays kommt die Schriftstellerin auf ein weiteres Verbrechen
des US-Imperialismus zu sprechen. Denn zu erinnern sei auch an "die 17.500 Toten,
als Israel 1982 im Libanon einmarschierte, und die Tausende Palästinenser, die im
Kampf gegen die israelische Besetzung des Westjordanlandes den Tod fanden".
Diese Anklage unterstützt auch der Pekinger Professor Han Deqiang. Zwei Tage vor
Erscheinen des Aufsatzes von Arundhati Roy wird in derselben Zeitung dessen
Antwort auf die Frage nach den "wahren Schuldigen" gemäß einer dpa-Meldung
zitiert: "Die Amerikaner selbst. Amerika wollte erstens über die Welt herrschen und
sich zweitens die Ölquellen sichern. Deshalb hat man jahrzehntelang die jüdischen
Chauvinisten in Israel unterstützt. Die amerikanische Bevölkerung erfährt von diesen
Verbrechen des Imperialismus am arabischen Volk nichts."
Das antiimperialistische Zentralorgan, das diese Texte publizierte, ist die
"Frankfurter Allgemeine Zeitung". Wie kommt sie dazu, und wie kommen eine linke
indische Schriftstellerin und ein kommunistischer Pekinger Professor dazu, eine
zunächst durchaus zutreffende Charakterisierung des US-Imperialismus in eine
Anklage gegen den "jüdischen Chauvinismus" münden zu lassen und diesen den
"Verbrechen des Imperialismus" zuzuschlagen? Wie ist es möglich, daß zwei
Autoren, die immerhin beanspruchen, im Namen derer zu sprechen, deren
Hoffnungen von Amerika mißachtet werden, zu Schlußfolgerungen gelangen, deren
Nähe zur Propaganda von Islamisten und Neonazis unübersehbar ist? War nicht
gerade von Bin Ladens Organisation Al-Qaida, die auch "Islamistische Weltfront
gegen Juden und Kreuzfahrer" genannt wird, in diesen Tagen ständig zu hören, die
Vereinigten Staaten stünden unter jüdischer Kontrolle, und bezeichnete nicht der
NPD-Funktionär Steffen Hupka am 3. Oktober während der Berliner Kundgebung
seiner Partei zum "Tag der Deutschen Einheit" die Anschläge von New York und
Washington als "Widerstand der unterdrückten Völker gegen den US-Imperialismus"?
"Unterdrückte Völker, vereinigt Euch"
Die USA sind nach dem von ihnen erfolgreich betriebenen Untergang der Sowjetunion
und ihres assoziierten Staatenbündnisses die einzig verbliebene Weltmacht. Und als
solche demonstrieren sie nach den Attentaten ihre Handlungsfähigkeit. Das "Bündnis
gegen den Terror", das die USA durch eine gekonnte Kombination aus militärischen
Drohungen und Diplomatie im September erzwungen haben, relativiert die
konkurrierenden europäischen pro-arabischen Ambitionen im Nahen Osten,
vergrößert Amerikas Einfluß in Zentralasien und schwächt die vielfältigen
Widerstände gegen das National-Missile-Defense-Programm, das nicht nur gegen
Langstreckenraketen von "Schurkenstaaten" und Regionalmächten wie Indien und
Pakistan gerichtet ist, sondern vor allem gegen die von Rußland und China.
Man benötigt keine ausgefeilte Imperialismustheorie, um in den USA die einzige
verbliebene Weltmacht zu erkennen. Es liegt aber nahe - besonders in
kriegsträchtigen Zeiten -, daß eine derartige Machtkonstellation nicht nur benannt,
sondern auch nach ihren Voraussetzungen befragt wird. In der Linken wurde die
ökonomische und politische Konkurrenz der kapitalistischen Staaten und die
Herausbildung von Großmächten meistens auf der Grundlage von
Imperialismustheorien beurteilt, von denen die bekannteste die Leninsche ist, die
später im Kontext des Marxismus-Leninismus kanonisiert wurde. Zu den Essentials
dieser Theorie gehört unter anderem die Annahme, daß der Kapitalismus der
Konkurrenz sich zum Imperialismus der Monopole und des Finanzkapitals entwickelt
hat. Davon ausgehend wurde seinerzeit von der kommunistischen Bewegung eine
"imperialistische Epoche" definiert, eine "Niedergangsperiode" des Kapitalismus, in der
antiimperialistische Kämpfe von unterdrückten "Völkern" die Funktion von
bürgerlich-nationalen Revolutionen haben, die prinzipiell zum Sozialismus führen
können (s. KONKRET 5/94).
Diese Sichtweise hatte trotz ihrer offensichtlich fragwürdigen werttheoretischen
Grundannahmen ("Monopol") und Substantialisierungen ("Völker") bis in die Zeiten des
Kalten Krieges so viele Anhaltspunkte in der Realität, daß sie selbst durch die
Beteiligung der USA an der Anti-Hitler-Koalition nicht wesentlich modifiziert wurde.
Schließlich war es wiederum nach 1945 der US-Imperialismus, der als
entschiedenster Gegner der realsozialistischen Staaten, Chinas, verschiedener linker
Bewegungen und vieler Befreiungsbewegungen den "Weltimperialismus" verkörperte.
Mit anderen Worten: Welche Fehler dabei auch gemacht worden sind - der Kampf
gegen den "Weltimperialismus" wurde immer mehr ein Kampf gegen den
US-Imperialismus, und als solcher wurde er zum Bestandteil einer mit den linken
Biographien und Gefühlswelten fest verknüpften "Weltanschauung". Der linke
Antiimperialismus unterschied sich überdies von allen anderen linken Positionen durch
seinen immensen Einfluß auf andere Strömungen und Bewegungen. Liberale
Metropolenbewohner sympathisierten mit dieser Weltsicht, und Millionen Aktivisten der
"unterdrückten Völker und Nationen" in Asien, Afrika, Lateinamerika und in den
arabischen Ländern begründeten mit ihr die antikolonialen Kämpfe. Man kann sagen,
daß der marxistisch-leninistische Antiimperialismus über Jahrzehnte die
weltgeschichtlich einflußreichste linke Position war und daß der "Kampf gegen den
US-Imperialismus" die Linke schließlich sogar überlebt hat.
Zionisten und Imperialisten
Durch die Selbstverständlichkeit, mit der der linke Antiimperialismus positiv auf
"Völker" und "Nationen" wie auf "organisch" gewachsene Gegebenheiten Bezug
nahm und mit der er die ganz und gar unkommunistischen Interessen von Bauern und
"patriotischen" Aristokraten in instrumentalisierender Absicht als "progressiv"
bewertete, entwickelte sich der Antiimperialismus schon bald zu einem Konglomerat
aus nationalistischen Mythen, verschwörerischen Praktiken und fragwürdigen
Bündnissen mit reaktionären politischen Kräften. Hinzu kam, daß in den zentralen
Kategorien dieser Weltanschauung - "Finanzkapital", "Parasitismus" etc. - ein
antisemitisches Potential steckt, das nach Lenins Tod auch wirksam wurde, das
jedoch gewissermaßen eingegrenzt blieb, solange und soweit der Antiimperialismus
noch auf Klassenkampf und Antifaschismus verpflichtet blieb.
Zum festen Bestandteil des Antiimperialismus wurde der Antisemitismus erst
durch die Nutzanwendung des Konzepts der "nationalen Befreiung" auf die Situation
im Nahen Osten nach der Gründung Israels, und dies nicht zuletzt, weil die
realsozialistischen Staaten in den "Völkern des Nahen Ostens" eine Klientel sahen, die
sich gegen den US-Imperialismus mobilisieren ließe. Deshalb stellte sich die
Sowjetunion, nachdem sie zunächst für Israel votiert hatte, auf die Seite der
palästinensischen "nationalen Befreiung", weshalb Israel in der damaligen bipolaren
Welt gar keine Wahl blieb, als sich an den Westen zu halten und damit ein "Bündnis mit
dem Imperialismus einzugehen". Für einen Antiimperialismus, dem Lenins naive
Warnungen vor nationalistischen Tendenzen schon nichts mehr bedeuteten, gehörten
von nun an Zionismus und US-Imperialismus zusammen, wobei Israel als eine
besonders perfide Variante des imperialistischen Kolonialismus galt - als rassistischer
Siedlerstaat, der vom US-Imperialismus erfunden wurde, um eine ölreiche Region
militärisch kontrollieren zu können. Die antiisraelische Propaganda wurde nun zum
Schatten, der den Antiimperialismus begleitet. Diese Propaganda hat sich in dem Maße
antisemitisch radikalisiert wie der Antiimperialismus zum kulturell begründeten
Antiamerikanismus wurde.
Antiimperialismus in Namen Gottes
In der den Holocaust relativierenden Variante nahm der "antiimperialistische Kampf"
synchron zum Zerfallsprozeß der Neuen Linken und der weiteren Erosion des
Realsozialismus mehr und mehr wahnhafte Züge an. Die Agitation gegen "Zionismus
und US-Imperialismus", zunächst mitgetragen vor allem von deutschen und
japanischen Linken, wurde nach deren endgültiger Marginalisierung schließlich zur
Sache von Islamisten und Neonazis. Ehemalige Linke in den arabischen Ländern, in
Europa und natürlich in Deutschland waren und sind daran direkt beteiligt. Zu den
bekanntesten deutschen Figuren gehört der NPD-Anwalt Horst Mahler, der während
seiner RAF-Jahre in palästinensischen Lagern eine Ausbildung im "bewaffneten
Kampf" erhalten hatte. Daß es sich bei der US-Regierung um ein "Zionist Occupation
Government" handelt und US-Imperialismus und "jüdisches Finanzkapital"
zusammengehören, ist heute für islamistische und rechtsradikale Antiimperialisten
gleichermaßen eine Selbstverständlichkeit.
Die politischen (Camp David), militärischen (Pentagon) und ökonomisch-kulturellen
(World Trade Center) Zielobjekte der Anschläge vom 11. September belegen, daß die
Attentäter die USA umfassend treffen wollten. Die Zahl der Opfer und das Ausmaß
der Zerstörung weisen aber darauf hin, daß das World Trade Center und damit New
York ihr Hauptziel war. Auch von vielen US-Amerikanern mit Mißtrauen beobachtet,
stellt New York in der symbolischen Ordnung der westlichen Kultur eine
eigenständige Größe dar, die mit Urbanismus, Kommerz und Populärkultur identifiziert
wird und weniger mit der militärischen Größe Amerikas. Vor allem aber ist New York
die Stadt, in der die meisten Juden außerhalb Israels leben. Für das islamistische Ziel,
weltweit "alle Amerikaner und Juden" anzugreifen, stellt das "multikulturelle" New
York daher ein ideales Angriffsobjekt dar. Diese Motive des "antizionistischen
Antiimperialismus" und seines Anschlags auf das World Trade Center sind so
unübersehbar, daß es schon auffällt, wie wenig in Deutschland und wie wenig in
Flugblättern der deutschen Linken davon die Rede ist - und das, obwohl die Attentäter
als ihren Vorbereitungsraum nicht zufällig Deutschland gewählt hatten.
Beim Sichten der Erbschaft
Nach den Attentaten auf das Pentagon und das World Trade Center muß die Kritik am
Wirken der einzig verbliebenen Weltmacht nicht zurückgenommen werden. Aber die
historische Transformation des linken Antiimperialismus zum antisemitischen "heiligen
Antiimperialismus" macht es unmöglich, dabei das alte Kategoriensystem
weiterzuverwenden. Auch der verschwörungstheoretisch raunende "neue
Antiimperialismus" der "Globalisierungsgegner", die behaupten, es gäbe nun "keine
nationale Macht mehr, die die Kontrolle über die gegenwärtige globale Ordnung
ausübt", weshalb der "Protest nicht mehr antiamerikanisch" sein sollte, sondern sich
"gegen eine andere, größere Machtstruktur" (Antonio Negri) richten müsse, muß
wegen seiner antisemitischen Konnotationen abgelehnt werden.
Für Linke ist das eine aus mehreren Gründen unkomfortable Situation. Erstens: Die
Kontrolle über die gegenwärtige militärische, politische und ökonomische globale
Ordnung wird zweifellos nicht von der "Weltbank" (wie bei Negri), sondern von der
einzig verbliebenen Weltmacht ausgeübt, zu der sich ambitionierte imperialistische
Mächte wie Deutschland bei jedem Machtzuwachs aufs neue ins Verhältnis setzen
müssen. Jede antikapitalistische und antideutsche Bestrebung stößt daher auch auf
die Machtpolitik des US-Imperialismus, der die gegenwärtige Weltordnung am
effektivsten garantiert, der zugleich aber als einzige Macht auch die Existenz Israels
garantiert, selbst dann, wenn er Israels Interessen - wie derzeit - dem "Bündnis
gegen den Terrorismus" unterordnet.
Zweitens: Die USA waren über vierzig Jahre lang der Hauptveranstalter der
atomkriegsträchtigen Feindschaft mit der Sowjetunion und ihrem realsozialistischen
Staatenbündnis. Die USA haben das "Reich des Bösen" schließlich zur Kapitulation
gezwungen und die deutsche "Wiedervereinigung" möglich gemacht. Alle
geschichtsrevisionistischen Tendenzen und Praktiken der Gegenwart gehen auf
dieses Ereignis zurück, auch der wachsende Druck auf Israel. Ein Attentat wie das
vom 11. September hat es erst nach dem Ende der bipolaren Ost/West-Welt geben
können, deren Regulierungsmechanismus die USA nun durch ihr
Raketenabwehrsystem und das Anti-Terror-Bündnis ersetzen will.
Drittens: Die der Linken durch die USA besonders 1990 zugefügte Demütigung
produziert beinahe zwangsläufig das Gefühl, daß diese Supermacht eine
Erniedrigung verdient hat. Diese mit den linken Biographien verbundene Emotion gerät
für einen Moment in das Kraftfeld jenes wahnhaften "heiligen Antiimperialismus", der
für das Attentat auf das World Trade Center verantwortlich ist, eines
Antiimperialismus, der ganz offensichtlich nicht der unsere ist, der uns aber an eigene
Irrtümer und Niederlagen erinnert.
Viertens: Die alten Argumentationsfiguren des antikapitalistischen Antiimperialismus
behalten so lange mehr oder weniger stark ihre Bedeutung für die Groborientierung in
der sozialen Welt, wie sie nicht durch "handelnde Selbstkritik" überwunden werden.
Bei bestimmten Analysen von weltpolitischen Machtkonstellationen greifen wir vorerst
noch auf klassische antiimperialistische Kategorien zurück. Das seit 1990 unter dem
Schock der "Wiedervereinigung" erarbeitete Wissen steht häufig noch unverbunden
neben dem älteren (zum Beispiel über die "Ausbeutung der Dritten Welt"). Gleiches gilt
für die Mentalitäten. Es gibt nach all dem eine Diskrepanz zwischen emotionaler
Disposition (linke Tradition) und dem politischen Wissen über Holocaust,
Antisemitismus und die Gefährdung Israels.
Fünftens: Es ist davon auszugehen, daß der linke politische Habitus im Verhältnis zu
den geführten Debatten ein eigenes Gewicht hat. Diskurse und Verhalten fallen sogar
meistens auseinander. Die expliziten Normen des "politisch korrekten" Sprechens
stimmen nicht unbedingt überein mit jenen, die tatsächlich in den "politischen
Mentalitäten" zum Vorschein kommen, meistens aber implizit bleiben. Das Bewußtsein,
welches nötig ist, damit die üblichen politischen Praktiken vollzogen werden können,
ist nicht kongruent mit demjenigen, das Rechenschaft über das Tun abgibt.
Beispielhaft zeigt das die Literatur über das politische Denken von jüdischen
Kommunisten. Konfrontiert mit der bitteren Tatsache, daß die Bewegung, der sie
angehörten, zwar antifaschistische Arbeit geleistet, letztlich aber wenig gegen
Antisemitismus und zur Verhinderung der Vernichtung der europäischen Juden
unternommen hatte, können sie meistens das "kommunistische Lebensgefühl" nicht
überwinden, in dem beispielsweise beim Stichwort "sowjetische Lager" automatisch
der Verdacht im Raum steht, daß sich jetzt der Antikommunismus äußert. Und solche
Gefühle sind nicht einfach vergangenheitsselig, weil die Abwertung aller linken
Bemühungen ja weitergeht. Hazel Rosenstrauch schreibt in ihrem Buch Beim Sichten
der Erbschaft (Heidelberg 1992) unter anderem über die Kinder von New Yorker
jüdischen Kommunisten: "Für sie waren die russische Revolution mit dem Ende der
Pogrome und das kommunistische Lebensgefühl nicht mit Stalin, sondern der
Hexenjagd gegen ihre Eltern in der McCarthy-Zeit verbunden."
Formen der Verleugnung der Erbschaft
Die schlechten Alternativen zur "handelnden Selbstkritik" sind seit dem 11. September
notorischer Antisemitismus ("Junge Welt"-Milieu), linke Kriegsbegeisterung
("Bahamas"-Milieu) und Lobgesänge auf die aufgeklärte Zivilgesellschaft ("Jungle
World"-Milieu). Für ersteren ist der islamische Terrorismus Symptom einer Krankheit,
die Zionismus und US-Imperialismus heißt. In dieser Vorstellung ist niemand mehr für
etwas verantwortlich: "Irgendwann mußte es so kommen. Irgendwann mußte dem
Labor Frankensteins ein Monster entspringen, das sich gegen seinen Schöpfer
wenden würde" ("Junge Welt", 17.9.).
Diese Krankheit/Symptom-Metaphorik scheint für viele die letzte argumentative
Zuflucht zu sein, die sich aus unterschiedlichen Gründen mit dem Attentat nicht
identifizieren, aber darauf beharren wollen, daß die USA sich nicht wundern sollten.
Indem man aber sagt, die Attentäter hätten trotz "falschen Bewußtseins" die Richtigen
getroffen, verschweigt man ihre antisemitischen Motive. Und auf die Titelseite schreibt
man dann Headlines wie "Sharon blockt Nahost-Dialog" oder "Britischer Soldat getötet:
Intifada in Skopje".
Aus der begrifflichen Konstruktion der Wirklichkeit - nach Adorno das "Urbild der
Lösungen" - folgt notwendig die Forderung nach ihrer realen Veränderung. Nur die
Handelnden sind frei, in der Welt etwas Neues anzufangen und einen neuen
Sachverhalt herbeizuführen. Diese Freiheit kann sich die amerikanische Regierung
leisten, und auch die Attentäter haben gehandelt. Die Handlungsmöglichkeiten von
Linken sind hingegen derzeit eingeschränkt. Einige wollen daher wenigstens in ihrer
Einbildung Handelnde sein. Die Zeitschrift "Bahamas" fordert von den USA nicht
weniger als die militärische "Beseitigung islamischer Herrschaft" und das Ende des
"moslemischen Götzendienstes", was einem Ruf nach Kriegsverbrechen gleichkommt,
weil dieses Ziel nur durch Massenmord zu erreichen wäre. Außerdem würde ein
solcher Krieg eine maximale Gefährdung Israels bedeuten. Hier führt offensichtlich die
völlige Verleugnung der eigenen Demütigungen und des Wunsches nach Revanche
direkt in den Wahn der Identifizierung. Das hat den Totalverlust des angelesenen
Wissens (Adorno, Wertkritik) zur Folge. Der Begriff, den man sich "vom Kapitalismus"
machte, soll nun mit Hegel in den Krieg ziehen. Ohne es zu wissen, so nimmt man
wohl an, könne die US-Army den Stoßtrupp des Weltgeistes abgeben und in den
arabischen Ländern "den Wunsch nach kommunistischer Aneignung aufkeimen
lassen".
Auch weniger kriegsbegeisterte Linke glauben seit dem 11. September wieder
an eine "zivilisatorische Mission des Westens" (sie meinen natürlich Deutschland).
Leute, die es den Sowjets vermutlich einst verübelten, als sie tatsächlich, aber ohne
westlichen Dünkel, das Licht der Aufklärung nach Afghanistan brachten, entdecken
trotz der westlichen "Ethnien"-Förderung auf dem Balkan nun die angeblich objektiv
"emanzipatorische" Funktion der USA und der Nato. Noch nie wurden so viele linke
Schwüre auf die Aufklärung, auf die "Menschenrechte" und die "Zivilität unserer
Gesellschaften" geschworen. "Aber wenn etwas am amerikanischen Imperialismus
positiv zu bewerten ist, dann ist es genau das amerikanische Element: die globale
Zerstörung ethnischer und religiöser Identität, die Vernichtung des (oft gewalttätigen)
Idylls der Doofen und Zurückgebliebenen" ("Jungle World", 26.9). Engagiert vergleicht
man das Taliban-Regime mit dem Schröder/Fischer/Scharping-Regime, um dann
erleichtert feststellen zu können: "In diesem Falle ist der Kapitalismus seinen Feinden
vorzuziehen." Na Bravo! "In einer solchen Welt wäre der Gedanke der Emanzipation
endgültig abgeschafft. Das muß verhindert werden. Wenn nötig, auch mit Gewalt."
Sehr gut! Kritik am Kapitalismus ist gut und schön, aber wenn's drauf ankommt, weiß
man doch, was man an ihm hat.
Günther Jacob stellte in KONKRET 10/01 eine Collage zur
"Wehrmachtsausstellung" im Kanzleramt zusammen
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