Berlin: Veranstaltung zu Zivilisation, Gewalt und Krieg
Gewalt und die zivilisierte Welt
- Die bürgerliche
Gewaltwahrnehmung
zwischen Tabu und Spektakel
Spätestens durch die Bombardierung Afghanistans sind die Attentate des
11. September und der Kampf gegen den Terrorismus zu einem
Herrensignifikanten (Zizek)geworden, zu einem Platz im öffentlichen
Raum, auf den sich jeder bezieht und beziehen muss. Im Kampf gegen den
Terrorismus formiert sich die »zivilisierte Welt« und vergewissert sich
ihrer selbst. Sie drängt im »ersten Krieg des 21.Jahrhunderts«, der mit
einer
dramatischen innenpolitischen Hochrüstung einher geht, trotz der
permanenten Versicherung, keinen Kampf der Kulturen führen zu wollen,
auf die Universalität
ihres Verständnisses von Freiheit und Gerechtigkeit.
So scheint es, dass erst die Zerstörung ihres Wahrzeichens die
eigentliche Geburtsstunde jener »zivilisierten Welt« eingeläutet
hat, die nun über den Lagern der Al Quaida Bomben ablädt.
Nahezu alle auch nur im entferntesten betroffenen Teile der »freien
Welt« versuchen kritisch-solidarische Besonnenheit an den Tag zu
legen, die auf Seiten der Angreifer während der Kriege im letzten
Jahrhundert wohl undenkbar gewesen wäre. England und die USA
inszenieren sich derweil mit ihrer Brot-und-Bomben-Kampagne so
penetrant als Vertreter des Guten, von Freiheit und Gerechtigkeit,
dass es nicht einmal des Verweises auf den Charakter der
außenpolitischen Einsätze der USA nach 1945 bedarf, um stutzig
zu werden.
Während die Großmächte dieser Welt in Afghanistan dauerhafte
Freiheit herbei bomben wollen, macht sich selbst in der radikalen
Linken das Bedürfnis nach Identifikation breit. Die einen ergehen
sich in einem antisemitisch konnotierten Antiamerikanismus und
leiten aus dem ominösen Wort vom »Selbstbestimmungsrecht der
Völker« ab, dass niemand sich in afghanische Belange
einzumischen habe; die anderen stehen kurz vor einem freiwilligen
Fronteinsatz und würden am liebsten selbst mitbomben.
Doch genau so absurd wie es angesichts der Situation in
Afghanistan ist, dort einen kollektiven Willen zu imaginieren, oder
den Anschlag auf das World Trade Center antiimperialistisch zu
nennen, so abwegig ist auch die Überaffirmation der militärischen
Überlegenheit von USA und England aus der Motivation heraus,
einen möglichen Großangriff auf die westliche Welt, dessen erstes
Opfer Israel sein könnte, abzuwehren.
Dieser unkritischen Positionierungswut setzen wir Aufklärung als
das Gebot der Stunde entgegen (oder wie Gremliza sagt: fragen,
wie die Kuhscheiße aufs Dach gekommen ist), da es derzeit keine
Möglichkeit gibt, solidarisch im engeren Sinne zu sein. Die
Ablehnung der Taliban oder Bin Ladens halten wir für genau so
selbstverständlich, wie die Effizienz des amerikanischen Angriffs
in Hinblick auf die Beseitigung des Terrorismus fraglich ist.
Den Fokus auf mögliche imperialistische Interessen der USA und
zentralasiatische Ölpipelines zu richten, erscheint uns ebenso
wenig vielversprechend, wie das Leid der afghanischen
Zivilbevölkerung zum Ausgangspunkt des politischen Denkens zu
machen.
Gerade weil es für die Linke keinen Identifikationspunkt auf Seiten
der Angegriffenen gibt, gilt es, einen Schritt zurück (und so
bekanntlich zwei nach vorn) zu treten, das Projekt »zivilisierte
Welt« ernst zu nehmen und an den eigenen Ansprüchen zu
kritisieren. Das Erbe Ulrich Wickerts antretend sollen einige
Gemeinsamkeiten zwischen den Taliban und den USA aufgegriffen
werden, um Merkwürdigkeiten des bürgerlichen Gewaltdiskurses
zu verdeutlichen.
Sowohl Ossama Bin Laden als auch George W. Bush bekräftigen
unentwegt, dass sie für keine geringeren Ziele als für ein Ende von
Gewalt und die Wiederinkraftsetzung einer guten und schönen
Welt zur Gewalt greifen. Bin Laden beruft sich auf
Gewalttätigkeiten der USA und Israels in der arabischen Welt, um
zum finalen »Kampf zwischen Glauben und Unglauben« zu
hetzen. Und in einer verblüffenden Ähnlichkeit nimmt Bush die
Attantate des 11. September zum Anlass, um einen
»monumentalen Kampf zwischen Gut und Böse« zu beschwören.
Damit reproduziert Bush die Ächtung nicht staatlich verübter
Gewalt sowie die undifferenzierte Bannung »politisch oder
ideologisch motivierter Gewalt« ins »Extreme«, schlimmstenfalls
in den Terrorismus. Dies lohnt näherer Betrachtung. Es ist
notwendig, den Schein der Gewaltfreiheit von Demokratie, Recht
und Moral zu zerstören, und den Begriff von Gewalt im
Spannungsfeld von Tabu und Spektakel (das als Ganzes in den
Zoomaufnahmen von verzweifelt aus den oberen Etagen des World
Trade Centers springenden Menschen erscheint) näher zu
bestimmen.
Im Krieg wird augenscheinlich, dass kapitalistischer Betrieb nicht
des – ständig eingeforderten – Verzichts auf »jede Gewalt« bedarf.
Er verträgt lediglich jene Formen von Gewalt nicht, die seine
Verkehrsformen beeinträchtigten, während er sich notwendig auf
andere stützt. Dem Selbstverständnis der bürgerlichen
Gesellschaft entsprechend erscheint Gewalt als ausgeschlossen,
zivilisationsfeindlich und ordnungszerstörend. Diese
Gegenüberstellung der Gewalt als das Andere der demokratischen
Gesellschaft – wie die freie, zivilisierte Welt früher hieß – versucht
in ihren immer noch gültigen Gründungsmythen, Gewalt in einen
vermeintlichen Naturzustand zu projizieren, auf einen »Krieg Aller
gegen Alle« auszulagern, der von den bürgerlichen Rechtsformen
zu bändigen sei, obwohl in Wirklichkeit diese doch erst den
marktliberalen Kampf »Aller gegen Alle« ermöglichen. Die
Gewaltfreiheit des demokratischen Bürgers ist daher nicht die
reflektierte Gewaltlosigkeit einer emanzipierten Gesellschaft,
sondern konstitutives Element der Rechtsform des
Warenbesitzers.
In der kapitalistischen Gesellschaft erscheint Gewaltverzicht nur
deshalb vernünftig und moralisch zwingend, weil er der Vernunft
und Moral der Marktwirtschaft und des freien und gleichen
Warenverkehrs entspricht. Der Gewaltverzicht kann dem
Individuum abverlangt werden, ohne dass er Wesensmerkmal der
Gesellschaft zu sein bräuchte. Im Gegenteil: die Gewaltlosigkeit
richtet sich genau nach jenen Kategorien kapitalistischer
Vergesellschaftung aus, in denen Gewalt an anderer Stelle
notwendig und alltäglich bleibt. So garantiert das Gewaltmonopol
des Staates nicht das Ende der Gewalt, sondern bestimmt
lediglich deren Grenzen und sanktioniert dysfunktionales und
destruktives Verhalten gegenüber der kapitalistischen
Warenproduktion und ihren notwendigen Rechtsformen.
Völlig zu Recht stehen die Taliban in der Wahrnehmung der
westlichen Welt für den Versuch, in einem bestimmten Raum alle
Spuren der Moderne auszulöschen und durch Gewalt und Religion
zu ersetzen. Dennoch sind sie kein Relikt aus vormoderner Zeit,
sondern eher als Antwort, als Abwehr einer bestimmten Erfahrung
der Moderne zu verstehen. Die Taliban und Bin Laden sind auch
da ernst zu nehmen, wo sie die westliche Welt als gewalttätig und
imperialistisch verurteilen. Derlei Äußerungen als Propagandatrick
für »Terror« zu entlarven, versperrt womöglich das Verständnis
ihrer Bestrebungen.
Offensichtlich lassen sich die USA und Afghanistan nicht anhand
der Frage der Gewalttätigkeit gegeneinander ausspielen.
Nutzbringender, weil kritischer, wäre es zu fragen, ob sich die
Kritik von Gewalt(tätigkeit) überhaupt als kritischer Standpunkt
halten läßt. Die Frage ist also weniger, wo weniger Gewalt und
mehr Zivilisation ist, sondern warum sich Gewalt und Zivilisation
überhaupt als Antipoden darstellen. Warum erscheint Gewalt als
das Andere der bürgerlichen Gesellschaft?
In unserer Podiumsdiskussion »Gewalt und zivilisierte Welt – die
bürgerlichen Gewaltwahrnehmung zwischen Tabu und Spektakel«
werden die Referenten diskutieren, wie der bürgerliche
Gewaltbegriff zu kritisieren ist. Gestritten wird also darum, wie es
um die permanent versicherte Gewaltlosigkeit der bürgerlichen
Verkehrsformen bestellt ist, welchen Ort Gewalt in kapitalistischen
Gesellschaften einnimmt, und wie es – trotz ihrer strukturellen und
alltäglichen Gegenwart dazu kommt, dass sie als ein der
kapitalistischen Gesellschaft völlig äußerliches Moment aufgefasst
wird. Dies berührt die Frage nach den Bedingungen von
Widerstand und die Frage nach dem Wesen von Kritik, die der
Diskussion der Gewaltfrage nicht äußerlich bleiben sollten.
Diskussion
mit Johannes Agnoli
emeritierter Professor für Politik am Otto-Suhr-Institut der Freien
Universität Berlin, u.a. Autor von »Die Transformation der
Demokratie« und »Der Staat des Kapitals« (ça ira Verlag).
und Christoph Türcke
Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik
und Buchkunst Leipzig, u.a. Autor von »Gewalt und Tabu.
Philosophische Grenzgänge« und »Vermittlung als Gott.
Methaphysische Grillen und theologische Mucken didaktisierter
Wissenschaft« (zu Klampen Verlag).
Termin/Ort
Dienstag, 6. November 2001, 18 Uhr
Freie Universität Berlin
Hörsaal 2, Rost/Silberlaube, U1 Thielplatz
Veranstalter
Hochschulgruppe der
Antifaschistischen Aktion Berlin
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