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Das Ströbele-Prinzip

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Das Ströbele-Prinzip


Wenn Sie wissen wollen, wie man eine Gewissensfrage beantwortet, fragen Sie Ihren Arzt oder grünen Bundestagsabgeordneten

Wozu die notorischen Nörgler gut sind, die ihrer grünen Partei mindestens zweimal jährlich eine Grundsatzdebatte aufzwingen, um nach jeder Niederlage auf jeder Bundesdelegiertenkonferenz in der offenbar durch nichts zu erschütternden Überzeugung, gerade auf sie könne diese Partei am wenigsten verzichten, weiterzumachen und weiter zu protestieren und bis ans Ende wohl auch noch der übernächsten Legislaturperiode ihrem Gewissen zu lauschen und seine Imperative einer geduldigen Öffentlichkeit unverzüglich und deshalb unredigiert mitzuteilen, weiß inzwischen selbst die »Taz« nicht mehr. Sie verhindern nichts, sie bewirken nichts, aber die Basis nominiert sie und der Wähler wählt sie doch. Man könnte auf die abwegige Idee kommen, es sei ihre historische Mission, in einer Zeit, da es keine Meinungs- geschweige Interessenunterschiede mehr gibt, immerhin den Anschein von parlamentarischem Streit, von Opposition und lebendiger Demokratie zu erzeugen, damit Lord Dahrendorf nicht verzweifelt und auch die Presse nicht plötzlich aufhört.

Eine ähnliche Idee kam neulich selbst dem »Spiegel«. Wenige Tage bevor in seiner papierenen Ausgabe die Empörung darüber, daß die deutschen Schüler die dümmsten der Welt sind, mindestens aber zunehmend die weltweit eher dümmsten, größer war als die Freude darüber, daß es auch in zwanzig Jahren an Abonnenten und Nachwuchsredakteuren nicht mangeln wird, berichtete ein digitaler Matthias Gebauer vom Parteitag der Grünen aus Rostock. »Das Bild in großen Teilen der Öffentlichkeit und den Medien wird klar ausfallen, das zeichnete sich schon vor dem Parteitag ab: Die Grünen sind umgefallen, so kommentieren die Kritiker, aus Machtsucht beugen sie sich dem Votum des Bundeskanzlers und werfen alle ihre Grundsätze über Bord.« Und zwar genau in dieser Reihenfolge. Jene Kritiker irren aber, »die Realität sieht anders aus, denn es waren eben diese angeblich so opportunistischen Grünen, die als einzige Partei eine Frage öffentlich diskutierten, über die es in allen anderen Parteien strikte Denkverbote gab und weiter gibt. (...) Als einzige Partei außer der PDS debattieren die Grünen eine Frage, über die außer ihnen ganz Deutschland diskutiert.« Und, wie gesagt, außer allen anderen Parteien außer der PDS. Was das sollte? »Wenn die Grünen innerhalb der eigenen Reihen streiten, kann Schröder zumindest von einer kritischen Diskussion in seiner Regierung sprechen. Das Prinzip des Systems des Outsourcings von solchen Konflikten funktioniert nicht nur bei der in der SPD nicht stattfindenden Kriegsdebatte, sondern auch beim Streit um den drakonischen Sicherheitskatalog von Schröders Sheriff Otto Schily. Auch dort sind die Grünen wieder für den Streit zuständig gewesen, den schließlich Schily durch Kompromisse löste und so öffentlich als Gewinner gerühmt wurde.«

Dieser Analyse kann man ohne Einschränkung zustimmen. Und die Warnung, die sich ihr anschließt, kann nicht oft und nicht laut genug wiederholt werden: »Bei vielen ihrer Wähler«, and this is still Matthias Gebauer, Rostock, for »Spiegel Online«, Hamburg, »stehen die Grünen nach der Entscheidung schlecht da. Die Gruppe derjenigen, die die Entscheidungen von Berlin und Rostock als ein Stück Verantwortungsbewußtsein begreifen, das die Teilhabe an der Macht nun einmal verlangt, ist eben doch eher gering. Bei vielen grünen Stammwählern bleibt ein schaler Nachgeschmack, radikale Pazifisten suchen schon jetzt zunehmend ihr Heil bei der PDS. Die Grünen galten vielen doch noch als Friedenspartei und dieses Label haben sie mit der jetzigen Entscheidung endgültig verloren. Und so könnten sie bei der nächsten Wahl ohne den Charakterzug des Friedensengels schnell unter den Tisch fallen.«

Um das zu verhindern, müssen sie die noch geringere Gruppe derjenigen, die vor allen ihren Freundinnen und Freunden beim Streit für den Streit zuständig sind und für die Fragen, über die es andernorts strikte Verbote gibt, in den Bundesvorstand wählen und in die Ministerien rotieren lassen. Daß dem Kanzler nicht langweilig wird, gleichzeitig aber seine eigene Parlamentsmehrheit nicht in Gefahr gerät, dafür sorgt das Gewissen. Was es mit diesem auf sich hat, erklärte im nämlichen Zusammenhang der Vertrauensfrage und des Einsatzes deutscher Soldaten im Krieg gegen den Terrorismus ein Redakteur der »FAZ«. Das Gewissen sei ein Bollwerk gegen die Leidenschaften, zugleich wälze es die großen Probleme der Menschlichkeit, der Toleranz und der Friedensgesinnung. Es könne einen Menschen veranlassen, in die Politik zu gehen, wenn er aber erst einmal drin sei in der Politik, dann habe es an sechs Tagen der Woche zu schweigen. Zumal im Fall der Grünen und ihrer Zustimmung zur Entsendung unserer Parlamentsarmee nach Zentralasien oder ans afrikanische Horn. Denn es gehe ja gar nicht um Krieg oder Frieden, sondern um Bündnistreue. Auch die Frage, wie viele Menschenleben für ein hohes Ziel zu opfern man bereit sei, könne nicht der Gegenstand einer Gewissensentscheidung werden.

Dem widersprach nun ein Kollege aus derselben Redaktion. Es sei »eben keine Redewendung, daß der Bundeskanzler das Vertrauen des Bundestages hat. Er muß wirklich als jemand gelten, dem man etwa Leib und Leben von Soldaten anvertraut – guten Gewissens.« Und guten Gewissens gerade deshalb, weil er eine »Black box« sei, wie alle geborenen Politiker, ein »Undurchsichtiger, dem man sich anvertraut, gerade weil man ihm das zutraut, was man auf das eigene Gewissen nicht nehmen würde«. Die Theologen unter den Gewissensmenschen, so möchte man hinzufügen, müßten aber alle Schweinereien selbst begehen, denn gottgefälliger ist es, die Schuld auf den eigenen Deckel zu schreiben, als den Bruder, auch wenn er bloß ein Politiker ist, mit ihr zu belasten.

Soweit die neueste Frankfurter Moralphilosophie. Brauchbar scheint von ihr allein der Begriff der Black box zu sein, denn er hilft, die grünen Dissidenten zu beschreiben. Schwarze Kartons, in die man allerdings nicht hineintomographieren kann und deren Ausstoß man hinzunehmen hat, ohne sich fragen zu dürfen, wie er zustande kam, sind auch Ströbele, Vollmer, Simmert, Buntenbach und die anderen, die eine Weile so taten, als würden sie womöglich dagegen sein.

Daß es in ihrem Hirnkasten mitunter so dunkel ist wie im Kühlschrank um Mitternacht, bewies anläßlich der Abstimmung über die Vertrauensfrage die stellvertretende Parlamentspräsidentin Vollmer. Jutta Ditfurth hatte den regierenden Oppositionellen bereits einige Tage vorher verraten, wie man dem Kanzler ein Bein stellt, ohne ihn zu stürzen: »Die vermeintlichen grünen ›KriegsgegnerInnen‹ verabreden, daß stellvertretend nur so viele aus ihrem Zirkel im Bundestag mit Nein stimmen, daß die Koalition nicht platzt.«

Dieser Empfehlung folgten sie. Christian Simmert durfte seine Prophezeiung, »es wird bei mir voraussichtlich beim Nein bleiben«, selbst erfüllen. Antje Vollmer aber muß eines der kurzen Streichhölzer erwischt haben, denn obwohl sie im September, als die grüne Fraktion den Bündnisfall der Nato beriet, sich der Stimme enthielt, »weil ich ankündigen wollte, daß ich militärischen Konsequenzen, die sich aus der Erklärung des Bündnifalls ergeben, auf keinen Fall zustimmen werde«, wog sie im November Vertrauen gegen Gewissen und kam zu dem Schluß: »In einer Mandatsaufgabe kann und darf nicht die Lösung dieses Dilemmas liegen. Dies entspricht nach meiner Überzeugung nicht dem Abgeordnetenbild, das den Vätern und Müttern des Grundgesetzes vorschwebte. Ich habe in der Abstimmung mit Ja gestimmt, weil ich mich mit einem Nein gegen den Fortbestand der rot-grünen Koalition ausgesprochen hätte.« Da halfen nun auch die Spitzfindigkeiten einer Frankfurter allgemeinen Ethik nicht mehr, das mußte sie beichten.

Wo aber waren derweil unsere Intellektuellen, aus denen vor zwanzig Jahren noch das Gewissen der ganzen Nation sprach? Man hat ihnen des öfteren zu verstehen gegeben, man bedürfe ihrer nicht mehr, zumal da sie sich mit dem östlichen Totalitarismus gemein gemacht hätten. Inzwischen sind sie von den Promis ersetzt worden, wie sie kurz vor der Vertrauensabstimmung im Bundestag der »Stern« zusammentrommelte. Ob das Niveau deshalb sank, ist schwer zu entscheiden, die Einwände und Prognosen dieser »deutschen Prominenten« waren jedenfalls nicht länger gültig als das beiliegende Fernsehprogramm.

Heute sieht es so aus, als hätten die Amerikaner mindestens zwei ihrer Kriegsziele, nämlich das Regime der Taliban zu beseitigen und die Stützpunkte Bin Ladens zu zerstören, mit geringem Aufwand und in kurzer Zeit erreicht und als seien die Afghanen darüber nicht einmal unfroh. Mitte November aber wußten die überaus deutschen Titelgesichter des »Stern«, daß die Amerikaner erstens ihre Kriegsziele selbst nicht kannten und sie folglich zweitens nicht erreichen würden, daß sie drittens schlechte Strategen seien und viertens selbst schuld an den Verbrechen des 11. September und daß fünftens für Vernunft und Humanität ohnehin die Europäer, also vorzüglich wir Deutschen zuständig seien.

Martin Walser will bekanntlich kein Intellektueller mehr sein, dem man die Meinungspistole auf die Brust setzt, sondern ein Volksdichter, den jeder nach allem fragen darf. Er meinte, »die Macht, der die Weltwirtschaft am liebsten gehorcht«, sei verantwortlich dafür, daß der »Marktfundamentalismus« noch immer nicht »gezähmt« wurde. Sie werde »so« zum Ziel des Terrors. Walter Kempowski hielt es für »unverantwortlich, in Deutschland Truppen zusammenzustellen und sie irgendwann irgendwohin zu schicken. Die Schnelligkeit, mit der das ganze Vorhaben vorangetrieben wird, und die Plumpheit der Zielsetzung scheinen mir höchst bedenklich. Ich habe den Krieg von Anfang bis Ende bewußt miterlebt. Die Zerstörung meiner Heimatstadt war eines der schrecklichsten Erlebnisse, die ich hatte.« Es handelte sich aber gar nicht um Kandahar, sondern um Rostock. Wenn Deutsche vom Krieg sprechen, meinen sie immer den Krieg der Amerikaner gegen die Deutschen, und ihr Mitgefühl gilt nicht den amerikanischen Opfern, sondern den Opfern der Amerikaner. Daran zu erinnern, trieb die 44 Schauspieler, Bischöfinnen und Sänger der Fantastischen Hosen ihr Gewissen.

Joachim Rohloff schrieb in KONKRET 12/01 über die Zivilgesellschaft im Internet

 

31.12.2001
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