Dossier der
„Jungle-World“ - Nr. 06/2002 - 30. Januar 2002
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Ganz
oder gar nicht
Immer
die Teutonen
In
seiner spezifischen Form der Krisenbewältigung unterscheidet sich der deutsche
Sonderweg vom kapitalistischen Mainstream. Von Gerhard Scheit
Die heutige Linke vertritt mit am entschiedensten die These von
der »Stunde Null«, dem Zeitpunkt, da der deutsche Sonderweg endgültig in den
Mainstream des Kapitalismus eingemündet und alle Macht in der Führung der USA
identisch geworden sei, die Geburtsstunde also der berühmten »Globalisierung«.
Den »Weltpolizisten« als Bollwerk des Guten zu verklären, wird jedem
unterstellt, der weiterhin auch nur zwischen den USA und Deutschland
differenzieren möchte.
Was aber hat eine solche Unterscheidung mit Verklärung zu tun,
wenn sie weiß, dass es jene ohne dieses gar nicht geben kann und vice versa;
dass beide - wie sehr sie sich auch unterscheiden - einander bedingen und also
hier ein reales Gleichgewicht des Schreckens sich entpuppt, in dem es aber ganz
und gar nicht gleichgültig ist, auf welche Seite einer sich stellt. Es kommt
mit anderen Worten darauf an, die Identität von Identität und Nichtidentität im
Verhältnis der beiden Mächte zu erfassen, um sich darüber Klarheit zu
verschaffen, wie die Funktionen in der drohenden Bewältigung der Krise sich
verteilen.
Demnach gibt es noch einen anderen Begriff von Krise als das, was
Robert Kurz und die Zeitschrift Krisis als Markenzeichen eingetragen haben.
Einen Begriff, der erst kenntlich macht, wovon das »Schwarzbuch Kapitalismus«
nicht mehr als einen Exkurs übrig lässt: das ganze Ausmaß dessen, was die
Deutschen geleistet haben und was sie sich darum jetzt leisten können.
Er macht es notwendig, noch einmal das alte gedankliche Ensemble
der Kritischen Theorie zu vergegenwärtigen - jenseits ihrer an die Adresse der
Nachkriegsdemokratie gerichteten Galanterien. Mit Walter Benjamin beginnend,
der die Weltkriegsdeutschen als eine »blinde Masse« begreift - voll »tierischer
Dumpfheit, aber ohne das dumpfe Wissen der Tiere« -, worin die Verschiedenheit
individueller Ziele belanglos geworden sei »vor der Identität der bestimmenden
Kräfte«; den »Gemeinschaftskräften« so untertan, »wie nur das Leben irgend
eines primitiven exotischen Volks bestimmt sein kann von den Clangesetzen«.
Aber es sind eben keine Clangesetze. Darin folgt die Kritische
Theorie dem Marxschen »Kapital«. Bei diesem hatte die Krise allerdings die
Rechnung noch ohne den Staat gemacht. Nun aber ist es der Staatskapitalismus,
der wie Max Horkheimer sagt, »die Krise für die Dauer des ewigen Deutschlands«
hypostasiert. Die in dieser Bestimmung enthaltene Differenz zur
Totalitarismustheorie wäre durchaus festzuhalten: Nur wer Deutschland so beim
Namen nennt, hat das Recht, von Staatskapitalismus zu sprechen.
Wenn die Krise nach Marx darin besteht, die Einheit des
Gegensatzes, der in der Ware steckt, gewaltsam geltend zu machen - mithin die
Einheit des Gegensatzes von Produktion und Zirkulation, Mehrwerterzeugung und
Mehrwertrealisierung -, dann hat der Nationalsozialismus die Krise in eben
diesem Sinn hypostasiert. Er hat die Identität in der totalen Vernichtung - im
Krieg für Deutschland und im Massenmord an den Juden - geltend gemacht.
Anders als der »Sozialismus in einem Lande« hat das »ewige
Deutschland« darum eben kein Verfallsdatum. Es ist so endlos konzipiert wie der
krisenhafte Charakter des Kapitals, dem es entsprungen ist; so kontinuierlich
wie dessen Akkumulation, die es über die bisher größte Krise hinweg durch eine unfassbare
Vernichtungsanstrengung vermittelt hat.
So erweist sich selbst der Gedanke, dass das Gesetz des Stärkeren
das Wertgesetz abgelöst habe, wie ihn Wolfgang Pohrt im Anschluss an die
Kritische Theorie auf den Punkt bringt, als ziemlich doppelbödig. Wäre es doch
eine undialektische Betrachtungsweise, jene beiden »Gesetze« als einander
ausschließende jeweils zu isolieren, wo die Krise gerade deren katastrophale
Einheit und wechselseitige Bedingung erweist.
Die Frage, woraus der Stärkere seine Stärke bezieht, führt stets
zurück zu jener Krise des Wertgesetzes, die sich durch das Gesetz des Stärkeren
hindurch nur erneuert; und mit ihr der Wahn der Deutschen, endlich der Stärkere
zu sein.
Die Meister der Krise
Drei Ausschnitte aus dem neuen Buch von Gerhard Scheit über den Zusammenhang
von Vernichtung und Volkswohlstand
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Die
Meister der Krise
Drei
Ausschnitte aus dem neuen Buch von Gerhard Scheit über den Zusammenhang von
Vernichtung und Volkswohlstand
»Uns eint in Wahrheit das Nichts.
Darum gehört uns ALLES.«
Elfriede Jelinek: »Wir, Herren der Toten«
Es geht um einen einzigen Gedanken, der auch in einem einfachen
Satz ausgedrückt werden kann: Der Wohlstand in den Nachfolgestaaten des
Nationalsozialismus und darüber hinaus - aber dadurch vermittelt - der ganzen
westlichen Nachkriegswelt hat die Vernichtung zur Voraussetzung, die von den
Deutschen organisiert worden ist.
Der Gedanke ist keine These im gewöhnlichen Sinn: Er lässt sich
nach den Maßgaben des herrschenden Begriffs von Wissenschaft nicht »beweisen« -
eine notwendige Folge seiner Negativität. Verstanden als Hypothese eines
kausalen Zusammenhangs wäre er nur beweisbar, wenn sich Totalität als
Versuchsanordnung (wie in einem naturwissenschaftlichen Experiment)
rekonstruieren ließe; wenn man also wissen könnte, was gewesen wäre, wenn ...
Da das unmöglich ist, hat der Gedanke lediglich eine einzige positive
Bedeutung, die zu beweisen nicht Sache der Wissenschaft oder des Schreibens
sein kann - und heute vielleicht schon als Inbegriff von Wahnwitz gilt: Dass
ein Leben ohne Kapital und Krise, ohne Staat und Vernichtung, und darum auch
ohne die Meister der Krise, nicht nur möglich, sondern notwendig ist.
Wenn es im Folgenden scheint, als würden dennoch wissenschaftliche
Beweise gesucht und zu diesem Zweck sogar empirische Fakten beigebracht,
handelt es sich also allein darum, etwas nahe zu legen: den Zusammenhang von
Menschenvernichtung und Volkswohlstand unmöglich zu machen, die Wahrheit des
Gedankens im doppelten Wortsinn zu realisieren.
Zur Logik der Krise
Die Krise ist eine Konstellation, worin die Identität des Ganzen
sich gewaltsam geltend macht. Insofern ist die kapitalisierte Gesellschaft ein
Zusammenhang von Menschen, der die Krise systematisch hervorbringt.
Die Krise ist damit keine Sachlage, die einem selbst äußerlich
sein könnte. Sie existiert nicht unabhängig vom Bewusstsein, das die Menschen
von ihr haben. Denn dieses Bewusstsein ist seinerseits ein Moment jener
Identität, die sich in der Krise unnachgiebig durchsetzt - und nicht etwa deren
Widerspiegelung, wie der vulgärökonomische Verstand meint. Als solches verweist
es auf die Macht, die mit aller Gewalt für das falsche Ganze einzustehen hat:
den Staat.
Der Begriff ist also mit gutem Grund doppeldeutig - und die
Formulierung: eine Krise werde »bewältigt«, bestätigt diese Doppeldeutigkeit.
Zum einen bezeichnet er drohende Nichtidentität (als Zerfallstendenz) - zum
andern Wiederherstellung von Identität (auf erweiterter Basis); ob darin eine
Entscheidungssituation liegt - Krise kommt vom griechischen Wort krinein, das
scheiden bedeutet - bleibt so lange offen, wie der Kreislauf des Ganzen, der
sich in der Krise bisher nur vollendet hat, nicht unterbrochen wird. Um eine
Situation der Unterscheidung aber handelt es sich unbedingt.
Ist die Krise auch der Punkt, an dem Marx gerade in der
Verselbständigung ökonomischer Vorgänge den Zusammenhang des Ganzen vor Augen
führen kann, so sieht er dennoch von den praktischen Möglichkeiten ihrer
Bewältigung und damit vom Staat weitgehend ab. »Dass die selbständig einander
gegenübertretenden Prozesse eine innere Einheit bilden, heißt ebenso sehr, dass
ihre innere Einheit sich in äußeren Gegensätzen bewegt. Geht die äußerliche
Verselbständigung der innerlich Unselbständigen, weil einander ergänzenden, bis
zu einem gewissen Punkt fort, so macht sich die Einheit gewaltsam geltend durch
eine - Krise.«
In welcher Weise die Einheit sich geltend machen und welche Gewalt
dabei ausschlaggebend sein kann, wird nicht weiter ausgeführt (obwohl Marx das
Moment der Gewalt immer wieder betont), und historisch gesehen war eine solche
Kritik der ökonomischen Politik auch noch kaum denkbar, soweit der Rede vom
Nachtwächterstaat eine gewisse Realität zukam und der Souverän sich tatsächlich
über den Schutz des Eigentums hinaus nur wenig um die Wirtschaft kümmerte.
Stattdessen kehrt der Kritiker der politischen Ökonomie zum
dialektischen Ansatzpunkt der Krise zurück: In dem der Ware immanenten
Gegensatz »von Gebrauchswert und Wert, von Privatarbeit, die sich zugleich als
unmittelbar gesellschaftliche Arbeit darstellen muss, von besondrer konkreter
Arbeit, die zugleich nur als abstrakt allgemeine Arbeit gilt, von
Personifizierung der Sache und Versachlichung der Personen«, ist bereits die
Möglichkeit - »aber auch nur die Möglichkeit« - der Krisen gesetzt. (1)
Wenn nun die Krise darin besteht, die Einheit dieses Gegensatzes
gewaltsam zur Geltung zu bringen, die Identität von Identität und
Nichtidentität zwanghaft herzustellen, dann darf sie auch nicht auf das real
Abstrakte, das überall mit sich identisch ist, reduziert werden; dann kann die
Krise keineswegs unabhängig von jenem real Konkreten, das Kapitalverhältnis
nicht losgelöst von seinen nicht identischen Voraussetzungen begriffen werden -
obgleich diese Voraussetzungen und jenes real Konkrete immer nur durch das real
Abstrakte und das identische Kapitalverhältnis vermittelt sind. (2)
Die Frage, mit welchem Bewusstsein vom Konkreten - von
Gebrauchswert und besonderer Arbeit - abstrahiert, in welcher ideologischen
Gestalt die »Sache« personifiziert wird, zielt darum selber auf ein Konkretes
im Ideologischen. Als Frage nach den Unterschieden im falschen Ganzen ist sie
mit dem Hinweis auf dessen Identität nicht erledigt. Radikalität verlangt
Differenzierung.
So wenig irgendein Konkretes das Wahre oder Echte sein kann, auf
das im Gegenzug zur Abstraktion positiv zurückzugreifen wäre, so wichtig der
Gedanke (der den frühen Georg Lukács mit dem späten Theodor W. Adorno
verbindet), dass Erfahrung im Negativen und Erkenntnis als Kritik überhaupt nur
möglich sind, wenn jenes Nichtidentische in der Abstraktion eben nicht
verschwindet. Gegen eine Theorie gewendet, der alles eins ist, weil sie vor
allem anderen vom physischen Leiden der Opfer abstrahiert, eröffnen allein
Erfahrung und Kritik, die im »quälbaren Leib« (Bertolt Brecht) ihren ständigen,
nicht aufhebbaren Bezugspunkt haben müssen, worin die Gewaltsamkeit besteht,
mit der die Einheit in der Krise geltend gemacht wird.
Die oberste Instanz der Gewalt ist aber der Staat. Seine
Souveränität ist so allgemein wie das Kapitalverhältnis. Anders als bei dessen
Fetischismus, der im Logisch-Abstrakten der Wertform steckt, erschließt sich
Ideologie hier jedoch im Historisch-Konkreten - möglich allerdings nur durch
die Kritik jener fetischistischen Form. Denn Souveränität wird letztlich durch
die von vornherein gegebene Möglichkeit der Krise konstituiert - in Carl
Schmitts apologetischer Diktion: durch den »Ausnahmezustand«. Die Kritik der
Warenform (von der Schmitt begreiflicherweise nichts wissen will) ist zwar die
Bedingung dafür, die Macht radikal in Frage zu stellen, die das Monopol auf die
gewaltsame Durchsetzung dieser Form beansprucht - aber die Staatsmacht geht
darum in der Warenform so wenig auf wie der Gebrauchswert im Tauschwert.
Für die Darstellung bedeutet das die so gut wie nicht zu
meisternde Aufgabe, die Logik des Kapitals und die Geschichte des Staats
jederzeit als einen einzigen, unauflösbaren Zusammenhang zu begreifen - ohne
sie entweder als Logisch-Abstraktes oder Historisch-Konkretes kommensurabel zu
machen, ohne die Nichtidentität in der Identität verschwinden zu lassen.
Der Wert ist immer und überall derselbe - mit sich selbst absolut
identisch (Differenz ist allein quantitativ möglich); und er kann überhaupt nur
als diese absolute Identität auf den Begriff gebracht werden; seine einzige
Bestimmung liegt darin. Der Staat entspricht zwar seinerseits solcher realen
Abstraktion und ist insofern immer und überall der gleiche; untrennbar davon
aber - also gerade in seiner Allgemeinheit - lässt er sich nur als ganz
bestimmter begreifen, das heißt: im Zusammenhang, in dem er mit seinesgleichen
steht und worin er sich unterscheidet.
So ist es ein- und dasselbe Kapitalverhältnis, das überall in die
Krise gerät, doch gerät es überall auf je verschiedene Weise in die Krise, und
darüber entscheidet nicht zuletzt, welches Bewusstsein von Krise und
Krisenbewältigung das Verhältnis zum Staat bestimmt und die Menschen zur Nation
formiert. So wären nicht nur ganz allgemein die Warenbesitzer mit dem Staat in
Beziehung zu bringen - unter dem Gesichtspunkt: Was ist eine Nation? -, sondern
genau in diesem Punkt die Staaten zueinander ins Verhältnis zu setzen. Also:
Was ist deutsch?
Das Unerklärliche erklären
Den Juden gegenüber stellt sich - so die Dialektik der Aufklärung
- »die Harmonie der Volksgemeinschaft automatisch her«. Nirgendwo aber - und
vor dieser Erkenntnis schreckten Max Horkheimer und Adorno wirklich zurück -
stellte sich diese Harmonie so automatisch her wie in Deutschland.
Das ist keine Erklärung der Shoah. Es kann eine solche Erklärung
mit den Mitteln der Vernunft so wenig geben wie eine Begründung dafür, warum
das falsche Ganze überhaupt existiert, das die Vernichtung möglich gemacht hat.
Was aber sichtbar werden kann und soll: Dass dieses Ganze sie ebenso
ermöglicht, wie es durch sie existiert - und in dieser Immanenz des Sinnlosen
müssen die vernünftigen Mittel jedes Erklärungsversuchs notwendig sich selber
in Frage stellen, muss die historisierende Erkenntnis die Wiederkehr des
Immergleichen eingestehen und das aufgeklärte Bewusstsein den magischen
Bannkreis, dem es nicht entkommen kann, reflektieren. »Zwischen Antisemitismus
und Totalität bestand von Anbeginn der innigste Zusammenhang.« (Theodor W.
Adorno/Max Horkheimer)
Wer jedoch nicht aufhört, das Ganze als das wie auch immer Wahre
anzusehen und die Vernunft als das bereits Wirkliche zu behaupten, wird der
Shoah - soweit sie nicht einfach verschwiegen oder als beliebige Katastrophe
behandelt werden kann - stets einen nachträglichen Sinn geben, und sei es den,
dass sie eben das Singuläre ist, von dem der Pluralismus sich abzugrenzen hat.
So wird die Totalität zwangsläufig auf das »Totalitäre« reduziert, damit die
Demokratie, die sie fortsetzt, vom »Ganzbrandopfer« ihre Legitimation abschöpfen
kann.
Über diesen Ursprung der postfaschistischen Demokratie, dem
wirklich das neuere Wort vom »Holocaust« auf ebenso frappierende wie unbewusste
Weise entgegenkommt, soll also die Erkenntnis einer Art Binnenrationalität im
deutschen Faschismus nicht hinwegtäuschen. Die Tötungsmaschinerie funktionierte
natürlich nach überaus rationalen, d.h. Zeit und Aufwand sparenden
Gesichtspunkten; Verfolgung und Massenmord zeugten ebenso rationale
Nebeneffekte: Die »Arisierung« erleichterte die Modernisierung der deutschen
Wirtschaft, die der Nationalsozialismus vorantrieb, und die Verwendung der für
den Tod Bestimmten zur Zwangsarbeit brachte Extraprofite, die das deutsche
Bürgertum gern kassierte.
Worin sich Massenmord und Vernichtungskrieg aber als »funktional«
im Sinn der Totalität, als deren Fluchtpunkt und integrierendes Moment,
erwiesen haben, da versagen solche Begriffe - nicht anders allerdings die Rede
vom Irrationalismus. Hier unterscheidet sich ja auch der antisemitische Wahn,
der eine Gesellschaft synthetisiert, radikal vom normalen Wahnsinn, dem ein
Individuum verfallen kann: Dessen Dignität beruht darauf, dass sein »Irresein«
fürs gesellschaftliche Ganze nicht funktional, sein Verhalten alles andere als
systemkonform ist - das Individuum wird darum für gewöhnlich sofort isoliert
und »behandelt«, um Störungen des Betriebs zu vermeiden; während die
antisemitisch Wahnsinnigen und rassistisch Paranoiden überhaupt keine Würde
bewahren, weil sie in ihrem Innersten vollkommen integriert und integrierend, funktional
fürs krisenhafte Ganze, mit Staat und Kapital identisch geworden sind - und in
entsprechenden Situationen zum gesellschaftlichen Leitbild werden. (Nur in
dieser Hinsicht, weil er diese Unterscheidung nicht macht, erscheint
Horkheimers und Adornos Begriff der pathischen Projektion fragwürdig und wäre
vielleicht besser durch funktional-pathische Projektion zu ersetzen.)
Hebt der Gesamtzusammenhang die Rationalität ebenso auf wie ein
davon separierbares Irrationales, resultiert er doch aus einer Krise, wovon er
nicht mehr abgelöst werden kann; degradiert die zwecklose Akkumulation des
Kapitals auch alles zum Mittel - und hebelt so dessen Begriff aus -, ist sie
nunmehr zugleich und unabdingbar das Ergebnis einer von den Deutschen in
Angriff genommenen Zwecksetzung: »Tod den Juden«. Solche »Kausalität« spottet
der logischen Begriffe und ideellen Abstraktionen, die sich hinterher
einstellen. Sie kann nicht »bewiesen« werden, und sie vollständig zu erkennen,
wäre gleichbedeutend damit, die Bedingung ihrer Möglichkeit abzuschaffen.
Genau darin hat sich kritisches Denken zu bewähren: Diese
Bedingung - im Nachhinein und von vornherein - zu denunzieren, solange sie
besteht; gegen jeden Beschwichtigungsversuch das Schlimmste anzunehmen - das,
was die Erfahrung der Opfer ausmacht, deren Tod so sinnlos war, wie das Ganze
unwahr ist, das sich durch ihn hindurch reproduziert hat.
Für die Betreiber des Massenmords gab es eine wahnhafte
Zwecksetzung im Sinne eines Erlösungsglaubens. Wenn die Juden ausgerottet
werden, sind die Deutschen und mit ihnen die Welt erlöst; dieser irrationale
Glaube war identisch mit einem ökonomischen Kalkül: Wenn der Krieg von
Deutschland gewonnen wird, können alle Schulden beglichen werden und
Volkswohlstand kann einkehren. Die letzte Phase des Kriegs, in der die
Niederlage absehbar geworden war, zeigte schließlich, dass sich die Identität
nicht mehr einfach zugunsten irgendeiner ökonomischen Rationalität auflösen
ließ. Die Volksgemeinschaft zerbrach nicht, der Wahn blieb intakt.
Das Wirtschaftswunder, das den Verlierern des Zweiten Weltkriegs,
soweit sie auf der richtigen Seite des ehemaligen Dritten Reichs lebten, einen
nie gekannten Reichtum bescherte, ist also keineswegs nach den Vorstellungen
des nationalsozialistischen Erlösungswahns realisiert worden - und gab ihm
dennoch Recht. Es setzte seinerseits Rationalität und Irrationales in eins;
entsprang dem kapitalistischen Ganzen und bejahte den deutschen Teil.
Hinter dem Rücken der Beteiligten hatte sich im bewusst geplanten
Krieg die weltweite Krise des Kapitals »von selbst« erledigt. Der deutsche
Wahn, die Krise durch Vernichtung zu bewältigen, wurde damit ungewollt, d.h.
nicht von den Siegern des Kriegs, sondern vom automatischen Subjekt des
Kapitals, bestätigt - und das in einem bisher unbekannten Ausmaß.
Die Anerkennung blieb, der Fetischform dieses »Subjekts« gemäß,
anonym; weder Sieger noch Besiegte haben offen ausgesprochen, dass der Reichtum
des Nachkriegsbooms, der die Stabilität der politischen Ordnung einschloss,
nicht ein Geschenk des Himmels oder die Frucht der Arbeit, sondern ein Resultat
von Vernichtungskrieg und Massenmord war. Nur dort, wo der deutsche Wahn
weiterwucherte, in den Herzen der Besiegten, brach sich dieses Verdrängte
plötzlich Bahn: »Wenn das der Hitler noch erlebt hätt'!« (3)
Kriegsverlierer und Vernichtungsgewinner
Der Nachkriegsaufschwung, die erstaunliche Regenerationsfähigkeit
der westdeutschen und österreichischen Gesellschaft und die eminente
Akkumulationsfähigkeit ihres Kapitals beruhten zunächst auf der Beute, die man
im Zweiten Weltkrieg und im Massenmord an den Juden gemacht hatte, ebenso wie
auf der Zwangs- und Sklavenarbeit, die vom Dritten Reich in diesem Zusammenhang
organisiert worden war.
Mit dieser Beute konnten - ganz anders als nach dem Ersten
Weltkrieg - in der Währungsreform von 1948 die übrig gebliebenen Schulden des
Dritten Reichs gegengerechnet werden. Die deutsche Bevölkerung verlor dabei
angeblich noch immer neun Zehntel ihrer Ersparnisse, der große Gewinn sprang
jedoch dadurch (auch für sie) heraus, dass das industrielle Sachvermögen zum
vollen Wert in die DM-Eröffnungsbilanz eingesetzt werden konnte. Und dieses
Sachvermögen war durch den einzigartigen Investitionsschub des
Nationalsozialismus, durch Aufrüstung und Krieg, beträchtlich gesteigert
worden.
Mit diesem Investitionsschub war auch eine ungemein erfolgreiche
Bildungsoffensive des Nationalsozialismus einhergegangen, die in Zusammenhang
mit dem Ausbau des Sozialstaats (Ehestandsdarlehen, Kindergeld,
Gesundheitsfürsorge, Altersversicherung...) eine breite Schicht von
Facharbeitern hervorgebracht hatte. Sie ermöglichte zunächst unter den
besonderen Bedingungen des deutschen Angriffskriegs einerseits Rationalisierung
der Produktion und andererseits Zwangsarbeit auf hoher technologischer
Grundlage - und bald nach der Niederlage schließlich den wirtschaftlichen
Aufschwung.
Mit dem »System Speer« im Rüstungsministerium kam ein neuer Typus
von Wirtschaftsführer hinzu: der des jungen, selbstverantwortlich handelnden
Managers (»Speers Kindergarten«), der auch in der Zeit des Wiederaufbaus nach
1945 weitgehend auf seinem Posten blieb. Es ist allgemein bekannt, dass die
Bundesrepublik Deutschland beim Wiederaufbau in hohem Maße auf die alten
Funktionseliten, die schon dem NS-Regime gedient hatten, zurückgriff; weniger
bekannt ist, dass sie als homogene Arbeitsgesellschaft - d.h. als Einheit von
Eliten, Angestellten und Arbeitern - nur darum so gut funktionierte, weil ihr
die Volksgemeinschaft zugrunde lag. Denn die nationalsozialistische
Verbesserung der Bildungschancen ist nicht von dem Interesse zu trennen, die
Klassengesellschaft als Volksgemeinschaft, den Obrigkeitsstaat als Volksstaat
zu realisieren.
Wenn der Nationalsozialismus, wie Horkheimer sagt, die Krise für
die Dauer des ewigen Deutschlands hypostasierte, konnte davon die
Nachkriegsentwicklung den größten Nutzen ziehen, sie gehört eben auch dem
verewigten Deutschland an. Der Raub von Rohstoffen, Gold und Lebensmitteln in
kaum berechenbarem Ausmaß und der Einsatz von sechs Millionen Zwangsarbeitern,
zwei Millionen Kriegsgefangenen und über einer Million KZ-Häftlingen waren die
Voraussetzung dafür, dass Deutschland sich nach 1945 weiter modernisieren
konnte. Vorbereitung und Durchführung des Vernichtungskriegs legten das Fundament
für den Nachkriegsboom. Der Volkswagen, zärtlich Käfer genannt, in dem der
Wohlstandsbürger mit Frau und Kind durchs Wirtschaftswunderland kurvte, war
bekanntlich im Dritten Reich geplant worden: mit »Raum für zwei Soldaten, ein
MG nebst Munition« (Ferdinand Porsche).
Gerade auf dem Höhepunkt und in der Endphase des Kriegs, unter dem
wachsenden Druck der drohenden Niederlage mit dem totalen Feindbild der
»Weltverschwörung des Judentums« vor Augen - das zur selben Zeit in den
Vernichtungslagern in die Tat umgesetzt den Druck der drohenden Niederlage nur
noch steigerte -, unter den Bedingungen also des totalen Vernichtungskriegs
setzten die deutsche Industrie und die deutsche Arbeitsgesellschaft ihre
entscheidenden innovativen Kräfte frei und realisierten die für die
Nachkriegsentwicklung ausschlaggebende Rationalisierung (die vor dem Krieg noch
durch unproduktive Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gebremst worden war).
Ab 1942 - zeitgleich mit der Massenvernichtung der Juden - setzten
diese Umstrukturierungen voll ein. Die Arbeitsproduktivität in der
Rüstungsindustrie stieg derart, dass dort 1944 der Pro-Kopf-Ausstoß eines
Arbeiters mindestens 60 Prozent über dem Niveau von 1939 lag. Der Überschuss an
Facharbeitern, der durch die Bildungsoffensive zustande gekommen war, konnte
fortlaufend durch Fremd- und Zwangsarbeiter ausgeglichen werden. Der
Kapitalstock verjüngte sich ganz erheblich: 55 Prozent der Anlagen, im Bereich
der Produktionsgüterindustrie zwei Drittel, waren jünger als zehn Jahre.
Die Göringwerke (später Salzgitter und Voest-Alpine genannt) und
die Volkswagenwerke (für die eine ganze neue Stadt aus dem Boden gestampft
wurde) waren nur die Spitze eines Eisbergs, denn die größten der bereits
existierenden Industriebetriebe erreichten im Krieg neue Rekorde an
Produktionssteigerung. Krupp konnte den Jahresumsatz mit Rüstung von 1933
verzwanzigfachen, Daimler-Benz verzehnfachen - und die Gewinne wurden,
abgesehen von einem geringen Teil, nicht von den Herren Kapitalisten verprasst,
sondern neu in die Industrie der Volksgemeinschaft investiert.
»Der Stand des Bruttoanlagevermögens bei Kriegsende (1945) lag um
fast 21 Prozent über dem Stand von 1936. (...) Also hat der Umfang der
Investitionen die Bomben und andere Kriegsschäden bei weitem aufgewogen.
Deutschland stand am Ende des Krieges tatsächlich mit einem stärkeren
industriellen Potenzial da als bei Kriegsbeginn. ( ...) Die untersuchten Fakten
der deutschen Kriegskonjunktur drückten der Nachkriegsgeschichte ihren Stempel
auf. Sie entkleiden das westdeutsche 'Wirtschaftswunder' der 'freien
Marktwirtschaft' allen mirakelhaften Scheins.« (4)
Mit der Bezeichnung Wirtschaftswunder traf die
Nachkriegsöffentlichkeit allerdings ganz spontan die richtige Wortwahl, die
jene Kontinuität nur bestätigte; bereits in den dreißiger Jahren hatte man vom
»deutschen Wirtschaftswunder« gesprochen, um die deutsche Rüstungskonjunktur zu
beschreiben.
Bereits ab Herbst 1943 hatten allerdings die großen Unternehmen
überall im Dritten Reich eine Exportoffensive gestartet, um Vermögen und
Produktionskapazitäten in neutrale Länder (Schweiz, Spanien ...) auszulagern.
Karl Heinz Roth spricht von einer »wilden Nachkriegsplanung« des Kapitals: »Was
aus heutiger Sicht nicht nur skrupellos und zynisch, sondern auch konfus und
widersprüchlich wirkt, wurde von den damaligen Wirtschaftsakteuren
offensichtlich komplementär verstanden. Sie wollten einerseits die 'Festung
Europa' so effizient und so lange wie nur möglich verteidigen, andererseits
klammerten sie sich durch die vorweggenommene Exportoffensive in den
Wirtschaftsstrukturen der neutralen Länder so fest, dass die künftigen Sieger
zu einer europäischen Nachkriegspolitik ohne wesentliche deutsche Beteiligung
nur um den Preis radikaler struktureller Eingriffe auch in den neutral gebliebenen
Ländern in der Lage waren. (...) Für die Verwirklichung beider Varianten gab es
genügend ausländische Partner, die zur Kollaboration bereit waren, weil sie
sich eine europäische Nachkriegsperspektive ohne das Wirtschaftspotenzial der
Deutschen nicht vorstellen konnten.« (5)
Auf welchen Grundlagen die günstige Ausgangsposition Deutschlands
und Österreichs im Nachkrieg ruht, wird unmittelbar an den letzten Maßnahmen
deutlich, die im Dritten Reich zur Sicherung der industriellen Anlagen
getroffen wurden. Die Verlagerung dieser Kapazitäten unter die Erde und in
Bunkerbauten »konnte nur funktionieren, indem die Arbeitskraft von
KZ-Häftlingen bis in die letzten Kriegswochen rücksichtslos ausgebeutet wurde.
Tausende von ihnen mussten sterben, damit die Werksleitungen möglichst große
Anteile der in der Rüstungskonjunktur akkumulierten Anlagen, Fertigungsstraßen
und Vorrichtungen über den Krieg hinaus retteten.« (6)
Die gewaltigen Zerstörungen des Kriegs aber sorgten ihrerseits für
die nötige Nachfrage nach Waren und Arbeitskraft, damit diese Anlagen,
Fertigungsstraßen und Vorrichtungen wieder profitabel arbeiten konnten, deren
Potenzial überhaupt wirksam wurde und die Arbeitsgesellschaft kontinuierlich
funktionieren ließ.
Der Krieg hat das Terrain von Mehrwertproduktion und -realisierung
bereinigt, unabsehbare Absatzgebiete für die Waren - einschließlich der
Arbeitskraft - geschaffen, die Kaufkraft der Massen im großen Maßstab
aufgestaut und die »günstigste Konstellation« der Alterszusammensetzung und des
»Gütegrads« des industriellen Anlagevermögens hergestellt, sodass also die von
den Nationalsozialisten in Gang gesetzte Modernisierung in Deutschland, nach
einer kurzen Übergangsphase, weiter voranschreiten konnte. Der Krieg hat
schließlich auch das Wunder vollbracht und die Volksgemeinschaft von ihren
Schulden befreit.
Wenn jedoch irgendein ehemaliger Leiter von Görings und Speers
Staatsapparaten seinen Lebenserinnerungen den Titel »Krisenmanager im Dritten
Reich« gegeben hat, so scheinen manche Zeithistoriker solchen Memoirendreck
allzu wörtlich zu nehmen.
Götz Aly und Susanne Heim etwa stellen den Nationalsozialismus vor
allem als Werk bewusst geplanter Modernisierung, als Sache des Managements dar.
Die eigentliche Krisenbewältigung, die der Nationalsozialismus ins Werk gesetzt
hat, wird dabei verfehlt, die antisemitische Ideologie nur noch als
»Hilfsmittel« begriffen, um Rationalisierungen möglichst rasch und großräumig
durchzusetzen. Wer den Nationalsozialismus mit der Rationalität von Mittel und
Zweck zu fassen sucht, blendet notwendig aus, was der Antisemitismus als
Projektion für die Durchsetzung der Identität des Ganzen leistet. (Es erstaunt
darum wenig, dass Götz Aly 1999, der Stimmung der Zeit folgend, Serbien mit
Nazideutschland gleichsetzen konnte.)
Wenn demgegenüber Daniel Goldhagen den Antisemitismus als
»kognitives Modell« völlig unabhängig von der Modernisierung durch Vernichtung
analysiert, stellt er immerhin die Rationalität von Mittel und Zweck in Frage
und löst das antisemitische Phänomen prinzipiell aus der Mittel-Funktion, die
immer nur dazu dient, es zu verharmlosen. Allerdings wird der Antisemitismus
der Deutschen damit zu etwas spezifisch Irrationalem, das völlig unabhängig vom
Zusammenhang des Ganzen betrachtet werden kann. (Und nicht zuletzt deshalb
konnte Goldhagen ebenfalls die Gleichsetzung von Serbien und Nazideutschland im
Kosovo-Krieg machen.)
Die merkwürdig existenzialistisch klingende Frage Adornos, ob es
sich nach Auschwitz noch leben lasse, kommt dabei dem gesellschaftlichen Zusammenhang
von Menschenvernichtung und Volkswohlstand wesentlich näher, ohne ihn zu
rationalisieren.
Das hat Adorno selbst in seinen Vorlesungen zur Metaphysik
erläutert, wenn er sagt, man könne sich sehr schwer nur dem Gefühl entziehen,
»dass man eigentlich bereits dadurch, dass man weiterlebt, gewissermaßen einem
anderen, dem das Leben versagt worden ist, die Möglichkeit wegnimmt, ihm das
Leben stiehlt; so wie wenn eine Gesellschaft, die in ihrer absurden Gestalt
heute zwar nicht die Arbeit, wohl aber die Menschen überflüssig gemacht hat,
gewissermaßen eine Rate, einen Prozentsatz, einen statistischen Prozentsatz von
Menschen vorbestimmt, dessen sie sich entledigen muss, um in ihren schlechten
bestehenden Formen weiterleben zu können. Und wenn man dann weiterlebt, dann
hat man gewissermaßen das statistische Glück gehabt, das auf Kosten eben derer
ging, die in den Vernichtungsmechanismus hineingeraten sind und, wie man
fürchten muss, noch hineingeraten werden. Die Schuld reproduziert sich in jedem
von uns - und ich rede nun wirklich mehr auf das Subjekt gewandt - deshalb,
weil wir unmöglich dieses Zusammenhangs in jedem Augenblick unseres wachen
Lebens ganz gewärtig sein können. Wenn wir: jeder von uns, die wir hier
zusammen sitzen, in jedem Augenblick wüssten, was da geschehen ist und welchen
Verkettungen wir auch unsere eigene Existenz verdanken und wie unsere eigene
Existenz verflochten ist mit dem Unheil, selbst wenn man nichts Schlimmes getan
hat, etwa nur dadurch, dass man es aus Angst versäumt hat, im rechten
Augenblick anderen Menschen entscheidend zu helfen, und das ist eine mir sehr
vertraute Situation aus der Zeit des Dritten Reichs, - dass man, wenn einem all
diese Dinge in jedem Augenblick ganz gewärtig wären, dass man dann wirklich
überhaupt nicht leben könnte; dass man gewissermaßen gedrängt wird, gestoßen
wird auf jenes Vergessen, das selbst bereits etwas Schuldhaftes hat und das
dadurch, dass man sich des Drohenden und des Geschehenen nicht in jedem
Augenblick bewusst ist, zugleich auch dazu beiträgt, dass man zu wenig
widersteht und dass es in jedem Augenblick sich wiederholen und sich
wiederherstellen kann.«
Gerhard Scheits Buch »Die Meister der Krise. Über den Zusammenhang von
Menschenvernichtung und Volkswohlstand« ist im Freiburger ça ira Verlag
erschienen.
Anmerkungen
(1) Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW, Bd. 23, S.128. Im
dritten Band ist diese Möglichkeit dann spezifiziert: »Die Bedingungen der
unmittelbaren Exploitation und die ihrer Realisation sind nicht identisch.«
(MEW, Bd. 25, S.254) Produktion und Realisation des Mehrwerts, Produktivkraft
und Konsumtionskraft der Gesellschaft fallen auseinander und sind doch zur
Einheit gezwungen. Das ist die dialektisch gedachte Voraussetzung, damit das
Kapital als seine eigene Schranke betrachtet werden kann, wie dies Marx im
Gesetz über den tendenziellen Fall der Profitrate ausführt. Die Entwicklung der
Produktivkraft der Arbeit erzeugt ein solches »Gesetz«, das »ihrer eignen
Entwicklung auf einen gewissen Punkt feindlichst gegenübertritt und daher
beständig durch Krisen überwunden werden muss«. (MEW, Bd. 25, S.268) Der
Krisenbegriff von Marx besagt also, dass die Logik in jenem Gesetz durch die
dialektische Einheit des Ganzen überwunden werden kann. Rein logisch lässt sich
kein empirischer Punkt ermitteln, an dem das Kapital dialektisch
zusammenbrechen müsste. Stattdessen stellt sich in jeder Krise immer wieder
dieselbe einfache Frage (die Marx ans Proletariat delegierte): Wie lange denn
die Menschen noch bereit sind, sich dieses Ganze anzutun.
(2) In »Geschichte und Klassenbewusstsein« (1923) fixierte
Georg Lukács genau hier den entscheidenden Punkt der politischen Ökonomie wie
der bürgerlichen Wissenschaften insgesamt: »So erweist es sich, dass gerade das
Gelingen der restlosen Durchrationalisierung der Ökonomie, ihr Verwandeltsein
in ein abstraktes, möglichst mathematisiertes Formsystem von 'Gesetzen'í die
methodische Schranke für die Begreifbarkeit der Krise bildet. Das qualitative
Sein der 'Dinge', das als unbegriffenes und ausgeschaltetes Ding an sich, als
Gebrauchswert sein außerökonomisches Leben führt, das man während des normalen
Funktionierens der ökonomischen Gesetze ruhig vernachlässigen zu können meint,
wird in den Krisen plötzlich (...) zum ausschlaggebenden Faktor.« (Darmstadt-Neuwied.
7. Aufl. 1981, S.201f.) Der Faktor selbst jedoch - das qualitative Sein, Ding
an sich, Gebrauchswert - kann nicht unabhängig von seiner Vermittlung durch die
'Gesetze' gedacht werden oder er wird seinerseits fetischisiert - zum wahren
Sein innerhalb falscher Gesetze.
(3) Die Schriftstellerin Elisabeth Freundlich, die 1938 aus
Wien flüchten musste, berichtet über einen solchen Ausbruch anlässlich der
Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrags: »Am 15. Mai 1955 standen
wir, Günter Anders und ich, im Wiener Belvederepark, oben im Spiegelsaal ging
die Unterzeichnung des Staatsvertrags vor sich. (...) Neben mir stand eine
einfache Frau mit Kopftuch und Küchenschürze und schluchzte bitterlich. So viel
Anteilnahme rührte mich. Ich nahm sie um die Schulter, um sie ein wenig
aufzurichten. Schließlich kam es stoßweise aus ihr heraus: 'Wenn das der Hitler
noch erlebt hätt'!'. Erfunden? So etwas lässt sich nicht erfinden.« (E.F.: Die
fahrenden Jahre. Erinnerungen. Hg.v. Susanne Alge. Salzburg 1992, S.134)
(4) Dietrich Eichholtz: Geschichte der deutschen
Kriegswirtschaft 1939-1945. Bd. III. Berlin 1996, S.677
(5) Karl Heinz Roth: Wirtschaftliche Vorbereitung auf das
Kriegsende und Nachkriegsplanungen. In: Dietrich Eichholtz: Geschichte der
deutschen Kriegswirtschaft 1939- 1945. Bd. III. Berlin 1996, S.543
(6) Ebd. S.611
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