Leipzig: Stalingrad - Anfang vom Ende der Barbarei
"Der Spiegel" (51/02) hat es auf die Titelseite gedruckt: "Vor 60 Jahren: Der Anfang vom Ende des Dritten Reichs". Von den Deutschen hat es trotzdem kaum jemand eingesehen: Stalingrad ist ein Anlass zum Feiern. Statt dessen fühlen die Deutschen sich weiterhin als Opfer. Die, die jetzt sagen, dass das neu sei, dass die Deutschen nun, über 50 Jahre nach Kriegsende, anfangen, ihr eigenes Leiden zu entdecken, lügen. Und doch sind Günther Grass΄ Novelle "Im Krebsgang" über den Untergang des Flüchtlingsschiffes "Wilhelm Gustloff" oder das Buch "Der Brand" von Jörg Friedrich über den Bombenkrieg der Alliierten wohl erst jetzt möglich, Jahre nach der Selbstfindung der Deutschen und nach Abzug der Besatzungsmächte, welche die Deutschen 45 Jahre haben "Befreier" nennen müssen.
Und so werden die Deutschen weiterhin mit dem Spiegel rätseln, "was Hitler bis nach Stalingrad getrieben hat", warum in aussichtsloser Lage General Paulus sich dem "Führerbefehl" zum Durchhalten nicht widersetzt hat und sie werden sich im "Deutschlandfunk" Feldpostbriefe anhören, in denen deutsche Wehrmachtssoldaten ihr Leiden schildern. Und sie werden nicht auf die Idee kommen zu reflektieren, was eigentlich die Deutschen (es waren ja viele mehr als Hitler zumindest am Anfang der Schlacht) "bis nach Stalingrad getrieben hat". Sie werden nicht zur Kenntnis nehmen, dass Daniel J. Goldhagen ihnen das in "Hitlers willige Vollstrecker" schon 1996 gesagt hat: Es war vor allem der eliminatorische Antisemitismus der Deutschen, der den Vernichtungskrieg antrieb. Und aus den Feldpostbriefen, die jetzt im "Deutschlandfunk" verlesen werden, geht auch hervor, dass deutsche Friedenssehnsucht Vernichtung beinhaltete: "...doch Krieg ist auf Erden und viele Tausende Menschen stehen hier im Ringen gegen den Weltfeind (...) Und ich und wir alle hier heraußen nehmen dieses Opfer gerne auf uns, damit unsere Jugend frohe und lichtere Tage hat und nie das Wort Krieg in den Mund nehmen muss.", schreibt zum Beispiel Herwig Schürl zu Weihnachten 1942 an seine Lieben (gesendet am 26.11.02).
Was wir feiern wollen, ist die Wende im deutschen Vernichtungskrieg. Erstmalig ist es in Stalingrad gelungen, die Deutschen an ihrem Vorhaben der Vernichtung wirksam zu hindern. Obwohl die Mord-Maschinerie, die von den Deutschen betrieben wurde, nach Stalingrad nicht zum Stillstand kam und obwohl es noch mehr als zwei Jahre brauchte, bis die Alliierten Deutschland besiegt und alle anderen, nicht die Deutschen, befreit hatten, ist tatsächlich die Schlacht von Stalingrad der Anfang vom Ende des deutschen Nationalsozialismus. Dieser war eben nicht eine Diktatur von Wahnsinnigen über die deutsche Bevölkerung, sondern ein Projekt der deutschen Volksgemeinschaft, dessen wesentliche Ziele die Vernichtung der Juden und die "Germanisierung des Ostens" waren. Und so sind es Ergebnisse von Stalingrad, dass Jüdinnen und Juden den Nationalsozialismus überleben konnten und dass die Menschen Europas vom nationalsozialistischen Terror befreit wurden.
In gewisser Weise steht Stalingrad auch für einen Sieg der Aufklärung gegen die völkische nationalsozialistische Variante des Kapitalismus, die die erklärte Gegenthese zur Aufklärung darstellte: Sowohl die westlichen Demokratien als auch der Staatssozialismus, also beide siegreichen Vergesellschaftungsprinzipien, stehen in der Tradition der Aufklärung. Insofern wurde mit der Niederschlagung des Nationalsozialismus emanzipatorische Kritik mit dem Ziel der Freiheit als freie Entwicklung der Einzelnen im Einflussgebiet der Deutschen überhaupt erst wieder möglich. Das hat zwar nicht für die Mehrheit der deutschen Bevölkerung, wohl aber für emanzipatorische Kräfte eine große Bedeutung.
Daher ist mit dem Sieg der Roten Armee in Stalingrad für uns auch die Bedingung der Möglichkeit von Emanzipation verbunden. Die in der Folge des in Stalingrad begonnenen Untergangs des deutschen Nationalsozialismus entstandene Nachkriegsordnung, die deutsche Teilung also, bewerten wir im Gegensatz zur deutschen Mehrheit positiv, weil durch diese Teilung das deutsche Volk für mehrere Jahrzehnte an seiner Entfaltung wirksam gehindert wurde. Sowohl die Re-Education der westlichen Alliierten als auch die DDR als "sozialistische Nation auf deutschem Boden" haben die Deutschen nicht zivilisiert. Statt dessen konnten nur die Besatzung Deutschlands und die Einbindung in den "West-" bzw. "Ostblock" den deutschen Vernichtungswillen bändigen.
Die "Aufarbeitung der Vergangenheit" war in den beiden Teilen Nachkriegsdeutschlands anders und doch ähnlich es ging um Schuldabwehr: Während in der BRD die Heroisierung des sogenannten bürgerlichen Widerstandes in Gestalt vor allem von General Stauffenberg und seiner Gruppe stattfand nachdem diesem Widerstand zunächst jahrzehntelang "Vaterlandsverrat" vorgeworfen worden war wurde in der DDR der kommunistische Antifaschismus im Sinne von Ernst Thälmann gefeiert. In beiden Fällen ging es darum, das "bessere Deutschland" gegen die "NSDAP-Verbrecherclique" in Stellung zu bringen. Das deutsche Volk, das ja dann auch durch die Alliierten von der "Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten befreit" wurde, sei entweder völlig unschuldig gewesen oder zu den Taten, die Wehrmacht und SS unleugbar vollbracht hatten, verführt worden. Aber der Nationalsozialismus konnte nur bestehen, weil es eine Volksgemeinschaft gab, deren Grundkonsens der Antisemitismus war. Und Stauffenberg (zu dessen Umfeld auch Carl Goerdeler, ehemaliger Leipziger Oberbürgermeister, gehörte) hatte als Begründung für seinen Widerstand die aussichtslose Lage im Krieg, nämlich die drohende Niederlage, die eben seit Stalingrad absehbar war, angeführt. Das nationalsozialistische Projekt der Vernichtung der europäischen Juden war für diese Widerstandsbewegung nicht der ausschlaggebende Grund zu opponieren. Im kommunistisch-sozialdemokratischen Widerstand ging es vor allem um die "Unterdrückung der Arbeiterklasse durch das Monopolkapital", dessen "aggressivste Kreise" in der Dimitroffschen Lesart den Faschismus ausmachten und eben das unschuldige Volk für ihre "imperialistischen Ziele" missbrauchten. Und deshalb konnte das deutsche Volk auch nach dem Krieg im Kern bleiben, was es war: unter einer dünnen demokratischen Hülle eine Volksgemeinschaft, gestärkt und zusammengeschweißt durch Trümmerfrauen, die sich gleich wieder an den Aufbau machten (nachdem sie einige Tage zuvor noch an die "Wunderwaffen des Führers" geglaubt hatten), danach für Jahrzehnte gebändigt durch die Besatzungsmächte; und schließlich konnte es wieder zu sich kommen in der großen Vereinigungsfreude mit Deutschlandlied am Brandenburger Tor und mit der Trauer um die "Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft", zu denen auch die deutschen Täterinnen und Täter gezählt werden.
Nachdem nämlich die Zwänge der Nachkriegszeit beseitigt waren, konnte ganz unbefangen loserinnert werden. Die Kriegserinnerungen der Deutschen haben jahrzehntelang vor allem aus lustigen Episoden aus dem Alltag bestanden. Nebensächlichkeiten wurden kolportiert, über die Kriegshandlungen, insbesondere über die Verbrechen der Deutschen, wurde geschwiegen. Günther Jacob hat dieses Phänomen als "Verdrängung in der Überlieferung" bezeichnet. Im Familienkreis erzählten die ehemaligen Wehrmachtssoldaten Sachen wie: "Damals haben wir aus nichts was gemacht; im Stahlhelm haben wir unsere Suppe gekocht". Die Zuhörenden haben nicht nachgefragt, obwohl sie wissen konnten, dass der Krieg nicht aus diesen Episoden bestanden haben konnte. Dann, nach dem Ende der Nachkriegszeit, also ab 1990 und in den letzten Jahren verstärkt, war es "endlich an der Zeit", das eigene Leiden zu betonen. Dafür ist die Feldpostbrief-Senderreihe des "Deutschlandfunks" genau so ein Beispiel wie es das Buch "Der Brand" von Jörg Friedrich oder Günther Grass΄ "Im Krebsgang" sind. In den Feldpostbriefen aus Stalingrad werden Kriegshandlungen geschildert, allerdings nur die "Grausamkeiten und Hinterlistigkeiten der Russen". Die Mission der Deutschen findet keine Erwähnung. Der "Bombenkrieg" (der doch den Deutschen ganz gut gefallen hatte, so lange er außerhalb Deutschlands stattgefunden hatte) wird von Friedrich erklärtermaßen ohne Parteinahme geschildert. Das Buch richte sich nicht gegen Churchill oder Hitler, sondern gegen den "Bombenkrieg" sagt der Autor. Auch er will "nach all der Zeit" davon wegkommen, Ursache und Wirkung zu benennen, als ob "in all der Zeit" eben das erschöpfend stattgefunden hätte. Auch Günther Grass, der in dem Buch "Im Krebsgang" das Leiden der deutschen "Flüchtlinge" auf dem Schiff "Wilhelm Gustloff" schildert, meint, dass die Zeit nun gekommen sei, an die "deutschen Opfer" des Krieges zu erinnern.
Als in den 90er Jahren Versuche wie der der "Wehrmachtsausstellung" des Hamburger Instituts für Sozialforschung den Vernichtungskrieg als solchen zu benennen und darzustellen gemacht wurden, haben nicht nur Veteranenverbände von Wehrmacht und SS, sondern große Teile der Deutschen Anstoß daran genommen: Der Opa, der immer so lustig (Suppe im Helm) oder so traurig (Winter in Russland) erzählt hat, ist kein Mörder. In ihren Gedenkreden sprechen die Deutschen gern vom "dunkelsten Kapitel in der Geschichte" und von den Untaten, die "in deutschem Namen" begangen worden seien. Parallel dazu wurde begonnen, Auschwitz den Juden übelzunehmen. Martin Walser sprach von der "Dauerpräsentation unserer Schande". Im Rahmen der sogenannten Zwangsarbeiterentschädigung, die über 50 Jahre nach Kriegsende wesentlich auf Druck der deutschen Wirtschaft, die sich vor Schadensersatzforderungen schützen wollte, auf den Weg gebracht wurde, haben die Deutschen den Juden vorgehalten, sie würden sich bereichern. Amerikanische Rechtsanwälte würden zu hohe Honorare kassieren usw. Solche und andere antisemitische Klischees werden von den Deutschen mobilisiert, wenn es darum geht, "die Vergangenheit aufzuarbeiten", ohne von den Verbrechen der Deutschen sprechen zu müssen. Eine andere Möglichkeit der Schuldabwehr ist zu behaupten, die Deutschen hätten "aus Auschwitz gelernt", um daraufhin "verantwortungsbewusst" die eigenen Verbrechen immer wieder anderswo von Ruanda über Jugoslawien bis Israel zu entdecken.
Wir wiederholen noch einmal warum wir feiern wollen: Mit Stalingrad begann das Ende des zweiten Weltkrieges. In diesem deutschen Vernichtungskrieg wurden sechs Millionen Jüdinnen und Juden ermordet. Es gab 20 Millionen sowjetische Kriegsopfer. Insgesamt wurden in diesem vom nationalsozialistischen Deutschland geführten Krieg 50 Millionen Menschen getötet. Dass in Stalingrad der Untergang des deutschen Nationalsozialismus begann, ist für uns ein guter Grund zu feiern. Wer einem solchen Kollektiv wie dem deutschen Volk eine entscheidende Niederlage zufügt, wie das der Roten Armee in Stalingrad und (im Verbund mit den anderen Alliierten) bis zum Sieg 1945 gelungen ist, verdient Dank und Anerkennung.
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