Berlin: Pressemitteilung von nadir.org zum Prozess "Jost B. vs. nadir.org"
Pressemitteilung von nadir.org
----------------------------------
Seit März diesen Jahres wurde vor dem Landgericht Berlin die Klage
"Jost B. ./. nadir.org e.V." verhandelt. Das Gericht wies nun die Klage ab.
Jost B. verklagte den unkommerziellen, alternativen
Informationsdienst und Provider "nadir.org" aufgrund der Nennung
seiner Person anläßlich einer Jubiläumsfeier der schlagenden
Verbindung "Marchia zu Osnabrück". Die Berichterstattung von einst
sei heute eine Persönlichkeitsrechtsverletzung, so der Kläger, der
bei der JN (Jugendorganisation der NPD) und den Republikanern
leitende Funktionen inne hatte.
Inzwischen hat das Gericht entschieden, daß die Klage unbegründet
ist und sie deshalb abgewiesen. Die Berichterstattung von nadir.org
ist kein rechtswidriger Eingriff ins Persönlichkeitsrecht Herrn Bs.
nadir.org betreibt seit 1994 ein linkes und alternatives
Internetportal, unter dessen Dach sich über 20 Online-Ausgaben von
Zeitschriften, Websites unzähliger politischer Gruppen,
Kampagnenseiten zu antirassistischen Grenzcamps und zahllose andere
Projekte organisiert haben. "Es geht darum, einem breiten Spektrum
der undogmatischen Linken eine virtuelle Bleibe zu geben. Außerdem
sucht nadir.org gern die Nähe zur Bewegungslinken und versucht,
mediale Repräsentationen dauerhaft und kostenfrei der Erinnerung für
alle zugänglich zu machen." so Luther Blisset von nadir.org. Die
archivarische Stabilität von Dokumenten ist ausdrückliches Interesse
der BetreiberInnen.
Der umstrittene Artikel stammt aus einer bei nadir.org archivierten
Publikation, die sich mit den Burschenschaften in Osnabrück befaßt.
In ihr findet u.a. Jost B. mit vollem Namen Ewähnung.
Der Kläger will aber von seiner bei nadir.org archivierten braunen
Biographie befreit werden. Nach seiner Mitgliedschaft im
rechtsextremen "Unabhängigen Schülerbund" in den späten 70ern wurde
er, wie im Niedersachsenspiegel, dem Organ der NPD Niedersachsen,
berichtet, erst Kreisvorsitzender der JN, dann Mitglied in deren
Bundesvorstand. Er publizierte 1986 im NHB, der Zeitschrift des
nationaldemokratischen
Hochschulbundes, einen längeren Artikel. Darin glorifizierte er
studentische Verbindungen, z.B. eine der extremen Rechten
nahestehende, zu der er als Student gestoßen war:
die schlagende Verbindung "Marchia Berlin zu Osnabrück", die einst
aus Berliner Unis von AntifaschistInnen ausgesperrt wurde und ins
provinzielle Osnabrück auswandern musste. Im Artikel nennt er
Mitglieder anderer Verbindungen, die sich weigerten, die erste
Strophe des Deutschlandliedes mitzusingen, "politische Eunuchen".
1997, zur 125-Jahr Feier der Verbindung, konnte B. die
Gunst der Stunde nicht vorbeiziehen lassen und ließ, nach dem er
seine Festrede im Osnabrücker Rathaus beendet hatte, die erste
Strophe des Deutschlandliedes anstimmen. Über diesen Skandal
berichteten daraufhin die Neue Osnabrücker Zeitung, das Stadtblatt
in Osnabrück, als auch die "Buschen Raus!", die bei nadir.org
gehostet und archiviert sind. 1998 ließ B. in einem
Leserbrief in den CC-Blättern, dem Organ des Dachverbandes der
Verbindungen, noch einmal von sich hören. Er trug seine Sorge zum
Ausdruck, dass man sich dem Zeitgeist anbiedere, was nicht "von
einer waffenstudentischen Haltung" zeuge. Weiter sorgte er sich um den
"geeigneten" Nachwuchs, der nur zu finden sei, "wenn wir selbst uns
nicht scheuen unsere Positionen zu vertreten, auch wenn wir darin z.
Zt. anecken." (CC-Blätter 4/98)
Vertreten wurde der Jurist B. von der Kanzlei des
Medienrecht-Staranwalts Prinz, der auch gleich mit einem Streitwert
von 20.000 Euro vors Landgericht Berlin zog. Prinz hat sich in einem
Bereich des Zivilrechts einen Namen gemacht, der das bürgerliche
Individuum in seiner Privatssphäre vor der Verwertung durch
seinesgleichen beschützt: im Persönlichkeitsrecht. Das nämlich sei
verletzt durch die Berichterstattung auf "Burschen raus!".
"Abwegig", so Luther Blisset für nadir.org. "Der beanstandete
Artikel nennt Jost B., der sich in seiner Eigenschaft
als Festredner selbst exponiert hat, an unprominenter Stelle.
Die Kontextualisierung seiner Person ist schlicht guter
Journalismus." So sieht auch das Gericht in seiner
Urteilsbegründung keinen Grund, wieso Bs "früheres
Verhalten nicht herangezogen werden sollte, um seine heutigen
Äußerungen zu interpretieren". Schließlich habe der Kläger auch
"keine innere Abkehr von früheren politischen Standpunkten"
erkennen lassen.
Trotz des guten in Ausgangs dieses Prozesses werden die darin
aufgeworfenen Fragen in netzpolitischer Hinsicht weiter Bedeutung
haben: Mit einer gerichtlich erzwungenen Änderung des archivarischen
Dokuments von 1998 wäre durch den ehemaligen JN-Funktionär die
Geschichtsschreibung im Archiv der sozialen Bewegungen geändert
worden. "Das wirft eine ganz grundsätzliche Frage auf", so Blisset
von nadir.org. "Wie soll ein online-Archiv noch glaubhaft sein, wenn
jeder darin rumpfuschen kann? Hätte es sich bei dem betroffenen
Artikel um eine gedrucke Brochüre gehandelt, die bereits seit vielen
Jahren in den verschiedensten Archiven und Bibliotheken aufbewahrt
wird, so wäre die Entfernung von einzelnen Informationen oder
Anonymisierung von Namen schlichtweg undenkbar - zu einem Prozeß wie
diesem wäre es nie gekommen. Erst die technischen Strukturen, in
welchen ein Onlinearchiv seine Voraussetzungen findet, lassen ein
nachträgliches Eingreifen in Archivbestände im vollen Ausmaß denkbar
werden. Das wäre gewissermassen das Ende der Geschichte in
Echtzeit." Zwar hat das Gericht sorgfältig zwischen dem Recht der
Öffentlichkeit auf Information und dem Persönlichkeitsrecht des
Klägers abgewägt, damit hat es obige Fragestellung aber zielsicher
umgangen und die prinzipielle Antastbarkeit von Onlinearchiven sogar
bestätigt.
die Begründung des Landgerichts Berlin ist hier zu finden:
http://www.nadir.org/nadir/selbst/begruendung.pdf
Der beanstandete Text liegt unter:
http://www.nadir.org/nadir/periodika/anarcho_randalia/br_4/saenger.htm
Das gesamte Magazin unter:
http://www.nadir.org/nadir/periodika/anarcho_randalia/br_4/
Mit freundlichen Grüssen, nadir.org
|