Hamburg: Essen&Reden IV ¤¤¤ nadir & indymediacafé am 20.01.2004 - Momentaufnahme vom "Dach der Welt" - Überleben im Pamir nach dem Ende sowjetischer "Entwicklungspolitik"
Nach dem jähen Ende von 70 Jahren sowjetischer Minderheiten- und
Wirtschaftspolitik sind in Mittelasien souveräne Nationalstaaten
entstanden, deren abgeschotteten Grenzen heute den ethnischen
Flickenteppich Mittelasiens zerschneiden. Sie haben in einem mehr oder
weniger chaotischen Prozeß versucht, eine eigene Nationalstaatlichkeit zu entwicklen,
ihr Wirtschaften vom Sozialismus zum Kapitalismus zu
transformieren und sich aus dem sowjetischen Netzwerk der starken
wirtschaftlichen Verflechtungen mit Rußland zu befreien.
Dieser Prozeß begann in Tadschikistan mit einem grausamen Bürgerkrieg, nach
dessen Ende ein nicht sehr robustes Staatswesen mit einer - im Mittelasien
der Despoten einzigartigen - Regierungsbeteiligung einer Opposition
entstanden ist. Das den Hochgebirgsraum des Pamir umfassende administrativ
autonome Gebiet Gorno- (Berg-) Badachschan im Osten Tadschiksitans ist
zweigeteilt: In den tief eingeschnittenen Tälern des West-Pamir siedeln
schon sehr lange nichttadschikische, kleinste ethnische Gruppen, die unter
"Pamiri" subsummiert werden. Die lebensfeindlichen Hochebenen des Ost-Pamir
sind erst seit ca. 2oo Jahren das Siedlungsgebiet einer Gruppe der
Kirgisen, die mit ihrer nomadischen Viehhaltung die Pioniere der Besiedlung
und wirtschaftlichen Erschließung dieser kargen Hochgebirgsregion sind.
Die 3500-4000m hoch gelegenen, ausgetrockneten Plateaus des Ost-Pamir sind
hinsichtlich ihrer Vegetation kalte Hochgebirgswüsten mit einer
Jahrestemperatur von durchschnittlich minus 1°C - bieten sich also nicht
unbedingt zum Siedeln an. Doch dieser Grenzraum zu China und Afghanistan
war seit dem russisch-englischen "Great Game" von großer strategischer
Bedeutung und eine Bewirtschaftung deshalb auch zu Zeiten der Sowjetunion
hochsubventioniert. Die einzige landwirtschaftliche Nutzung -
Viehwirtschaft mit Jaks und Schafen war von externer Futterversorgung, die
stark gestiegene Bevölkerung von sowjetischer Brennstoff- und
Lebensmittelversorgung abhängig und wurde deshalb vom Zusammenbruch der SU
sowie den Versorgungsblockaden und Füchtlingsströmen des Bürgerkrieges
besonders stark betroffen.
Nach zwei Hungerwintern setzte die übliche internationale Lebensmittelhilfe
ein, die -seit 10 Jahren bis heute andauernd- die Menschen ziemlich
abhängig gemacht hat. Wirtschaftlich ist die Lage weiterhin schwierig, die
Viehzahlen sind im Vergleich zu SU-Zeiten auf weniger als die Hälfte
abgesackt und können die Bevölkerung längst nicht mehr ausreichend
ernähren. Alle Lebensmittel, Konsum- und Industriegüter müssen über
450km
abenteuerliche Hochgebirgsstrassen über die kirgisisch-tadschikische
Grenze
importiert werden, wo schlecht bezahlte Beamte sich vom Warenverkehr
versorgen lassen. Obwohl 10 Monate im Jahr geheizt werden muss, gibt es
ausser schlecht brennbarem Jak-Dung und "Tersken", einem kleinen
Wüstenbusch, keinerlei Brennmaterial. Ungewohnt ist für die unter
sowjetischen Infrastrukturstandards aufgewachsene Bevölkerung auch die
fehlende Elektroenergie, wegen der Abwesenheit großer Flüsse wurden in
sowjetischer Zeit statt Wasserkraftwerken und Generatoren aufgestellt - und
die haben seit dem Ende der SU keinen Sprit mehr gesehen.
Vor diesem Hintergrund agiert dort seit drei Jahren eine kleine
französische NGO, die versucht, den Menschen wieder eine Perspektive
eigener wirtschaftlicher Entwicklung zu geben. Verschiedene Aktivitäten
zielen auf die Erweiterung der Viehwirtschaft, die Etablierung eines
Hochgebirgsgartenbaus zur Selbstversorgung, die wirtschaftliche
Re-Integrierung von Frauen, die Entwicklung eines für die lokale
Bevölkerung profitablen Tourismus, die Wiederbelebung einer fast
vergessenen kulturellen Tradition und die Wiederbelebung von
staatsunabhängigen Selbstverwaltungsstrukturen.
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