Leipzig: Wir sind doch nicht blöd. AOK.
1 1/2 Jahre Anti-Olympisches Komitee Leipzig – eine Bilanz in
dreiundzwanzig Akten
Die Menschen
Das Anti-Olympische Komitee Leipzig fand sich Ende 2002 zusammen und löste
sich am 18. Mai 2004 auf. Im Lauf seiner kurzen Geschichte waren 27 Personen
Mitglied, aber nie mehr als elf gleichzeitig – d.h. es herrschte eine hohe
Fluktuation. Dies erklärt auch gewisse aktionistische Konjunkturen und
inhaltliche Schwerpunktverschiebungen. Drei Personen waren von Anfang bis Ende
dabei. Der Frauenanteil lag bei durchschnittlich bei 40%. Ehemalige
Stasi-Mitglieder gab es keine, dafür vier VeganerInnen(1).
Doppelmitgliedschaften kamen vor, hingegen keine Korruptionsfälle
(leider!). Das Durchschnittsalter betrug 24 Jahre. Trotz grundsätzlicher
und allumfassender Sportkritik betätigen sich die Mitglieder das AOK im
Schnitt drei Stunden in der Woche sportlich – und liegen damit deutlich
über der Zahl für die Leipziger Bevölkerung. Erste Ränge
bei der Hitliste der AOK-Sportarten belegen: Wassertreten,
Wasserpistolenweitspritzen und Pfannkuchenwettessen.
Die
Tradition
Das AOK behauptete, sich in der Tradition der anti-olympischen Bewegung von
Berlin Anfang der 90er Jahre zu sehen. Das war natürlich einerseits
übertrieben (das AOK Berlin mobilisierte zu seinen Demos jeweils 15.000
Menschen und verursachte Kosten in Milliardenhöhe, vgl. mit den Kapiteln
„Die Finanzen“, „Die Demo“)(2), andererseits
ein Trick, um 1) an dem Glamour der Berliner NOlympics zu partizipieren, 2)
nicht viel zu sagen zu müssen (weil ja damals schon alles gesagt wurde)
und 3) sich von Berlin abgrenzen zu können – getreu dem Motto: Wir
sind was besseres! So findet sich im Demoaufruf die an sich richtige Kritik an
der Losung „Volxsport statt Olympia“. Allerdings unterstellt sie,
dass sie damals weit verbreitet war und mit Volxsport ein autonomes Konzept vom
Breitensport à la Volxküche verbunden war. Jedoch: Breitensport
statt Olympia forderten auch einzelne Stimmen auf unserer Demo – viel mehr
waren es damals wohl auch nicht. Und mit dem Wörtchen
„Volxsport“ war damals meist die Wagensportliga (d.h. das Abfackeln
von Bonzen- und Sportautos) gemeint, und eben kein Konzept für den
Massensport. Nun mögen auch diese militanten Aktionsformen gegen
„Bonzen“ kritikwürdig sein, unsere Kritik, dass wir ja Sport
generell ablehnen(3), zielte jedoch leicht daneben.
Die BerlinerInnen fielen auf unsere Tricks jedoch nicht rein und ignorierten
unsere Kampagne konsequent. Zur zweiten geplanten Veranstaltung reiste das
Ex-AOK Berlin gar nicht erst an – und ein positives Feedback aus der
Hauptstadt gab es erstmals nach dem 18. Mai, als die Entscheidung gegen Leipzig
gefallen war.
Die
Finanzen
Es wurden 3417,12 Euro umgesetzt und – ganz im Gegensatz zum
Minusgeschäft der Leipziger Bewerbung – mit Plusminus Null
abgeschlossen. Zum Minusgeschäft der Stadt trug das AOK in nur sehr
beschränkten Umfang bei. Insgesamt entstanden durch das AOK und seinem
Umfeld Kosten in Höhe von ca. 10.200 Euro.(4) Fakt ist,
dass wir mit unserem Umsatz einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der
regionalen Wirtschaft geleistet haben. Wir achteten konsequent auf regionale
Zulieferer, um Mitteldeutschland(5) wieder auf die Beine zu
helfen!
Die
Medienarbeit
Das AOK Leipzig war eine von den Medien ignorierte Mediengruppe. Es platzierte
12 Millionen Buchstaben in seinen Texten(6) (Wiederholungen
mitgezählt!), produzierte ein 8-minütiges Video, verschickte 15
Presseerklärungen(7) an jeweils rund 100 Zeitungen und
Zeitschriften, offerierte den linken Medien mp3-Jingles und
Anzeigen(8) in allen Größen und Formaten. Es
verschickte Tausende von Emails und verstopfte linke Internetseiten wie
nadir(9), indymedia oder Linke Seite mit seinen Texten. Die
Ausbeute war gering. In den bürgerlichen Medien erschienen ein knappes
Dutzend Berichte(10), in denen das AOK meist eher beiläufig
erwähnt wurde. Bei den Alternativmedien sah es nicht viel besser aus. Bis
auf die Jungle World, die Interim und die lokalen Szenezeitungen erschienen in
linken Zeitschriften keine Texte von oder über uns(11)
– höchstens mal eine Anzeige für unseren Reader oder die Demo.
Von einigen Radio- und Fernsehinterviews(12) ist zu berichten.
Und das war’s auch schon.
Die
Inhalte
Das AOK Leipzig lehnt die Olympischen Spiele grundsätzlich ab.
Gegründet hat es sich allerdings, um die Spiele in Leipzig zu verhindern.
Im Laufe der Zeit rückte auch dieses Ziel in unerreichbare Ferne –
die Außenwirkung des AOK war fast Null. Die IOC-Entscheidung für
oder gegen Leipzig hing offensichtlich nicht von unseren Aktionen ab –
ganz im Gegensatz zu erfolgreichen NOlympia-Kampagnen wie in Amsterdam oder
Berlin.
Deswegen wurde auch die Kritik an der Leipziger Bewerbung und die damit
einhergehenden Scheußlichkeiten Bestandteil unserer Arbeit. Es ging dabei
einerseits darum, die Linke für das Thema zu sensibilisieren und am
Beispiel von Olympia eine generelle Sportkritik zu popularisieren. Andererseits
wollten wir mit unseren Nadelstichaktionen die „one family“
wenigstens ansatzweise stören.
Im Zusammenhang mit Olympia ergab sich ganz von selbst eine intensive
Beschäftigung mit Überwachung und Innenstadtpolitik, Leistungswahn
und Kapitalismus, Nationalismus und völkischen
Turntraditionen.(13)
Die
Homepage
Das Ergebnis dieser inhaltlichen Kritik kann in voller Gänze auf unserer
Homepage: http://www.nein-zu-olympia.de besichtigt werden. Wenn auch sonst
nicht viel funktioniert hat: Die Homepage war immer gut aufgeräumt, recht
aktuell und Zielscheibe diverser Klagen (siehe unten) und Hassmails. Bei google
erscheint die Seite je nach Suchbegriff recht weit oben oder gar nicht. Die
Zugriffstatistik belegt, dass unsere Seite beliebter war als so manche
Pro-Olympia-Seite, von denen es allein in Leipzig Dutzende gab. Vielleicht ist
die Sportlinke aber auch einfach nur interneterfahrener als unsportliche
Olympiafans.
Die
Pöbelei
Einige besorgte BürgerInnen schauten trotzdem auf unsere Homepage. Ihre
Reaktionen(14) lesen sich dann so: „Man muss immer gegen
irgendwas sein. Ich hätte da einige Ideen: Wie wär’s zum
Beispiel mit dem Sonnenuntergang? Auch den braucht kein Mensch! ... Auch
könnte man sich stärker gegen Haarausfall engagieren. ... Ich
könnte noch mehr Beispiele nennen, gegen die man demonstrieren
könnte. Aber die werdet Ihr schon selbst erkennen. Vielleicht könnt
Ihr ja auch mal für etwas demonstrieren.“
„was sind eure ziele bzw. euer kamfprogramm ? seid ihr ein rein linkes
spektrum ohne konkrete basis, quasi um bambule zu machen, oder gibt es auch
wirtschaftliche bedenken in bezug zur stadt leipzig: z.bsp. das hinauswerfen
von geldern für grossbauprojekte, wie bildermuseum leipzig, zentralstadion
und demnächst eventuell das olympische dorf am lindenauer hafen, wobei
traditionsobjekte wie die pferderennbahn im scheibenholz eiskalt dem verfall
preisgegeben werden, iniziiert von den Bonzen tiefensee und lüdke-daldrup,
einem der arrogantesten machtmenschen, die sich hier rumtreiben.“
„hallo wollte nur mal sagen das ich euren auftritt (webseite) einfach nur
komisch finde.. was wollt ihr damit erreichen? eure tollen wohnungen und
häuser in und um connewitz sagen ja genug über euch aus oder, ihr
müßt schon mal zugeben das ihr nur eine kleine minderheit seid. zwar
hat jeder das recht auf freie meinungsäußerung und die euch auch
zusteht ,aber beliebt seit ihr bestimmt nicht bei denn connewitzern... und
leipzigern. und leipzig kann nun mal nur von einer erfolgreichen
olympiabewerbung profitieren . bei fast 45000 arbeitslosen“
„also ihr seit die vereinigte link, wie der seite zu entnehmen ist eher
ohne ideale, dem faschismus näher als irgendein anderes lebewesen in dtl.
und scheinbar antipuristischen diffamatoren, exorbitantem, gegenstandslose
behauptungen, jegliche dialektik fehlt und die semantik entkernt sich selbst,
es ist mehr als evident, dass ihr euch im evolutionären spektrum einem
unendlichen regress zu bewegt, eure kognition zeugt von sinnentleerten
antipragmatismus und wahrscheinlich sind die explikation ergebnis
posttraumatischer kindheitserlebnis mit anderen worten: die punkbewegung
braucht spinner wie euch nicht, monieren und denunzieren und dabei die eigenen
wurzeln verlieren.sinnlose abstraktionen und vor allem pleonasmen zeugen von
wenig verständnis für das so sehr verfemte, dass ihr eigentlich euch
selbst kastriert und geitstig entmündigt.“
„es erstaunt mich immer wieder mit welcher perfiden Dummheit und
ideologischer Verblendetheit die Extrem-Linken auf sich aufmerksam machen.
Argumente, die an den Haaren herbeigezogen werden, werden mit ideologischem
Müll versetzt, um daraus einen ignoranten und extrem dämlichen
Beitrag zu leisten. So kennen wir die extremen Linken schon immer!! ...
Sportliche Wettkämpfe als Ausfluß und Mittel der kapitalistischen
Gesellschaft. Super! Verquerer geht es kaum noch. Okay, das schlimme ist,
daß die Olympiade zu einer Kommerzveranstaltung verkommen ist und das IOC
auch nicht unbedingt die eloquentesten Mitglieder (Sportbonzen) hat! Aber
deswegen ist doch die Olympiade nicht automatisch disqualifiziert. Auch Eure
Argumentation bezüglich der rassitischen Grundlage dieser Spiele ist
absurd. Wettkämpfe zwischen Ländern auf sportlicher Ebene sind doch
in Ordnung. Warum nicht? Ihr spielt doch auch Fußball gegen andere
Mannschaften und freut EUch zu gewinnen. Ist das nicht Wettkampf? Ist das nicht
ein Ausfluß des kapitalistischen Systems? Nach Eurer Definition schon.
Also hört auf mit Sport! Unterstützt ihr nicht auch das Kapital, wenn
Ihr Lebensmittel (nach eigener Beobachtung fast ausschließlich Sterni!)
kauft? Seid ihr nicht Teil des kapitlaistischen System? Ja, seid ihr. Hört
auf zu konsumieren! Außerdem leben ja viele von Euren Genossen von der
Stütze, weil Arbeit Euch nicht schmeckt. Weil Arbeit Euch angeblich zu
ausgebeuteten macht! Warum beutet Ihr dann die anderen aus, die arbeiten gehen
und in die Sozialkassen einzahlen? Ist das nicht auch so eine Art
Gutsbesitzerhaltung? Die anderen laßt Ihr arbeiten, um selbst den lieben
langen Tag abzuhängen und es Euch
auf Kosten derer, die einer geregelten und sinnvollen Tätigkeit nachgehen,
das Leben schön zu machen.“
Die
Putzkolonnen
So schnell konnten wir gar nicht Plakate kleben, Aufkleber anpappen und
gesprühte Graffitis fotografieren, wie die olympiakritischen
Äußerungen im Stadtbild wieder entfernt wurden. Bis kurz vor Demo
tat sich besonders die unorganisierte Leipziger Bürgerwehr hervor, d.h.
jedeR LeipzigerIn betrachtete es als wichtigste Aufgabe, selbst bei der
Reinigung mit Hand anzulegen.
Kurz vor dem großen Tag schickte die Stadt dann die
Blau-Gelben-Engel (die Bezeichnung für die städtische
ABM-Putzkolonne) ins Rennen. Sie durften Plakate abreißen, Aufkleber
abkratzen und Graffitis nicht etwa abstrahlen, sondern einfach nur
übersprühen!
Bei beiden Akteuren, der selbst- und fremdorganisierten Bürgerwehr, war
deutlich, dass es diesmal nicht darum ging, das Stadtbild als solches sauber zu
halten und linke Äußerungen zu verdrängen – denn
außer unseren Parolen blieben alle anderen unbehelligt.
Die
beleidigte Leberwurst
Nach außen hin ignorierte die Stadtverwaltung unsere Aktivitäten
bzw. versuchte sie, wo Ignoranz nicht möglich war, sie generös in ihr
Konzept von der weltoffenen, ehrlichen und bürgerbewegten Stadt
einzugemeinden. In Wirklichkeit fühlten sich die StadtpolitikerInnen von
CDU bis PDS persönlich angegriffen und beleidigt. Sie konnten kein
Gespräch mit VertreterInnen der alternativen Szene führen, ohne mit
der Frage zu beginnen: „Habt Ihr was mit dem AOK zu tun...“ –
wer sich daraufhin nicht eilfertig distanzierte, hatte schon verloren. Der
Oberbürgermeister Tiefensee hätte sich jahrelang persönlich um
Connewitz, den „alternativen Stadtteil“, bemüht – und nun
so was.
So braucht es nicht zu verwundern, dass auch zu härteren Mitteln gegriffen
wurde: Eine Benefizveranstaltung für das AOK wurde verboten, weil sie am
Karfreitag stattfinden sollte. An dem Tag gelte ein generelles
Veranstaltungsverbot – im speziellen wurde es aber nur gegen das AOK und
nicht die anderen über hundert Veranstaltungen am gleichen Tag in der
Stadt durchgesetzt.
Veranstaltungsorte, die dem AOK Räumlichkeiten für Veranstaltungen
zur Verfügung stellten, bekamen mahnende Anrufe von der Stadt. „Wie
kann es angehen, dass Ihr von der Stadt gefördert werdet, und dann
Veranstaltungen gegen uns macht“, lautete der Tenor all dieser Anrufe. Die
Galerie für Zeitgenössische Kunst ließ sich davon
einschüchtern und sagte eine Veranstaltung mit uns kurzfristig ab.
Alle Veranstaltungen wurden von dem immergleichen Altherren-Paar überwacht
– ein Novum in Leipzig.(15) In einigen Veranstaltungen
zeigten VertreterInnen der Stadt aber auch offen Gesicht für Olympia. So
warf sich der PDS-Stadtabgeordneter Siegfried Schlegel ins Zeug und versuchte
die Anwesenden mit dem Argument zu überzeugen, dass sie doch nicht ewig in
der Platte im Neubauviertel leben wollen können, sondern ab 2012 vom
Villenviertel des Olympischen Dorfes profitieren würden. Die Parole
„Eigenheime für alle – und zwar umsonst“ hat sich seit
diesem Tag in Leipzig durchgesetzt. Sehr zum Gram der PDS.
Die
Klagen
Mehrere (Urheberrechts-)Klagen wurden uns angedroht. Los ging es mit einem Foto
von einem Hund mit Olympiamütze auf’m Kopf. Dieses Motiv –
tierische Begeisterung für Olympia – fand im Format 1 cm x 1 cm
Eingang in einen unserer Aufkleber. Ein dpa-Journalist erkannte es trotzdem und
zwang uns, diesen Aufkleber von der Homepage zu nehmen. (Die anderen dpa-Fotos
übersah er beflissentlich.)
Als nächstes erreichte uns die Kunde, dass die Krankenkasse AOK uns die
weitere Verwendung unseres Namens verbieten wollte. Viele verunsicherte
BürgerInnen würden bei der Krankenkasse anrufen und die
MitarbeiterInnen skeptisch fragen oder wüst beschimpfen ob der
AOK-Aktionen in Leipzig. Dabei sei doch die wahre AOK voll und ganz für
Olympia. Daraufhin beschlossen wir unsere Auflösung.
Kurz davor jedoch – todesmutig – coverten(16) wir die
„Leipziger Freiheit“-Plakate(17) der Stadtmarketing
Leipzig GmbH. An dem Spiel „Finde sieben Unterschiede“ wollten
sich die JungmanagerInnen leider nicht beteiligen. Auch hier mussten wir uns
geschlagen geben – und nahmen die Bilder aus dem Netz. Mit unserem
Werbespruch: „Leipziger Freiheit – jetzt verboten!“
fanden die wirklichen Plakate schließlich reißenden Absatz.
Der
Prozess
Diesen juristischen Drohgebärden wollten wir aber nicht tatenlos zusehen. Um uns
nicht sinnlos zu verzetteln, verklagten wir nicht die Marionetten der Stadt
wegen Akribie, Humorlosigkeit und Plagiats-Paranoia. Sondern wir wandten uns
direkt gegen die Stadt – gegen den Demoauflagenbescheid vom Ordnungsamt.
Da standen so alberne Sachen drin, wie: Nicht mehr als 30 Spruchtafeln,
Transpis an der Seite nicht länger als 1,5 Meter und OrdnerInnen haben
sich auszuweisen. Das mit dem Tafeln war uns egal, denn Linksruck wollten wir
eh nicht dabei haben. Die Transpis störten uns auch nicht weiter, denn wer
will schon so langatmig malen? Aber mit den OrdnerInnen – das bereitete
uns Probleme. Ein von Alters her undankbarer Job. Sich aber dann noch ausweisen
zu müssen, nur weil – wie die Stadt es begründete –
schlechte Erfahrungen mit Nazi-OrdnerInnen gemacht wurden. Nazis, die auch von
allein sauber in Achter-Reih’ und Glied laufen und genau wissen, wann
„Ruhm und Ehre der Waffen-SS“ zu grölen ist und wann nicht?!
Kaum war die Klage eingereicht, nahm die Stadt das mit den 30 Tafeln
klammheimlich zurück – sie wollten uns also doch Linksruck auf den
Hals hetzen. Nun wurde es um so wichtiger, über gute und durch die
Anonymität geschützte OrdnerInnen zu verfügen. Wir gingen also
bis vor das Oberverwaltungsgericht – bekannt für seinen Hass auf
Linke – und gewannen trotzdem.
Linksruck kam schließlich nicht, OrdnerInnen hatten wir mehr als
benötigt und die Transparente waren teilweise länger, als die Polizei
erlaubt. Ein Polizist verfing sich dann darin während einer Sprinteinlage
– und die OrdnerInnen, „dein Freund und Helfer“, befreiten ihn
wieder aus der misslichen Lage und klärten ihn darüber auf, dass auch
eine anti-olympische Demo so unsportlich gar nicht ist, wie man manchmal
glaubt.
Die
Fehler
Einige Korrekturen sind vorzunehmen. Entgegen unserer Behauptung im
Mobilisierungsvideo und in diversen Texten war Albert Speer nicht der Erbauer
oder Cheforganisator der Olympischen Spiele von 1936. Das waren vielmehr Werner
March und Carl Diem, die nach 1945 eine noch steilere Karriere hinlegten als
Albert Speer. Albert Speer hatte nämlich 1936 wichtigeres zu tun: Er
plante den kompletten Neubau der Reichshauptstadt, dem dann ab 1940 alle noch
in Berlin lebenden Jüdinnen und Juden zum Opfer fielen. Deswegen hatte
Speer nur kurz Zeit, die Baupläne von March im Sinne des Führers zu
korrigieren. Belegt ist hingegen durch einen DNA- und Text-Test, dass der
Projektleiter der Leipziger Bewerbung, ebenfalls Albert Speer, der leibliche
Sohn des unerschütterlichen und deswegen bis heute beliebten
Nationalsozialisten Speer sen. ist.(18) Diesen Hinweis verdanken
wir unseren aufmerksamen Großeltern.
Von der Leipziger Jugendgruppe Tomorrow hingegen stammt der Hinweis, dass
entgegen der Behauptung im Aufruf, Tiefensee würde für Olympia sogar
„seine Großmutter zu verkaufen“, nicht stimmen kann, da sie
schon tot sei. Wir nehmen auch dies dankend zur Kenntnis und möchten zum
Abschluss eingestehen, dass sich in unsere Texte weitere 13 Rechtschreib- und
acht Grammatikfehler eingeschlichen haben. Wer alle findet, erhält von uns
einen Aufkleber. Und die sind inzwischen eine Rarität!
Die
Restposten
Einige Projekte wurden aufgrund des vorzeitigen Aus für die Leipziger
Bewerbung leider nicht mehr verwirklicht. So wollten wir ein ähnlich
ambitioniertes Merchandising-Programm wie die Stadt an den Start bringen:
T-Shirts, Fleece-Jacken, Schlüsselbundanhänger, Fähnchen,
Toilettenpapier und Hundekotbeutel, unsportliche Wackeldackel fürs Auto
und Gartenzwerge im antiolympischen Nazi-Skinhead-Look für den so
Leipzig-typischen Schrebergarten. Alle Fans unserer Artikelreihe müssen
wir auf die Bewerbung für die Spiele 2016 vertrösten – geduldet
Euch: In vier Jahren ist es so weit!
Unverwirklicht blieb auch die Erbeutung der Staffelstab-Trophäe. Vom 12.
April bis zum 18. Mai rannten 24 Stunden am Tag verrückte Sportochsen (und
-Kühe, jawohl) eine 7-km-Strecke durch Leipzig – mit Olympia-,
wahlweise Deutschlandfahne, Startnummer, Trikot und Staffelstab. Eine
ethnologische Analyse dieses vorzivilisatorischen Rituals verleitete uns zu der
Erkenntnis, dass der Verlust eben jenen Stabes das Ende des Laufs bedeuten
würde. Allerdings erwiesen sich die SportstudentInnen der Uni Leipzig in
ihrer Todesangst als bessere LäuferInnen als die anti-olympischen
AktionistInnen und konnten deswegen nicht vorfristig von ihrem herben Schicksal
erlöst werden. Einige rannten übrigens selbst noch nach der
Entscheidung durch die Stadt – in voller Montur!
Nun mögen einige einwenden, in diese Rubrik fielen auch die ausgebliebenen
Brandanschläge auf die Olympia-Autos und -Stützpunkte. Rostock habe
dies ja mustergültig mit dem Brandanschlag auf den Olympia-Pavillion beim
Rathaus am 17. Mai 2004 vorgemacht.(19) Brandanschläge
jedoch schieden für uns von Anfang an aus: Die Olympischen Spiele sind vor
allem seit 1936 mit einer solchen Fackel-Mystik aufgeladen, dass uns
PyromanInnen die Freude am Zündeln verging.
Die
Leugnung
Damit haben wir (leider) nichts zu tun: „Halle. 13.33 Uhr, Markt: Die
IOC-Entscheidung ist gerade gefallen, doch die TV-Schaltung auf der Leinwand
klappt nicht – Bilder sind Fehlanzeige. Moderator Udo Becker rennt zum
nächsten Autoradio, kommt zurück auf die Bühne, hebt bedauernd
die Arme und ruft ins Mikro: ‘Leipzig hat es nicht
geschafft!’“(20) Manchmal schießen sich die
DeppInnen mit ihrem Unglück im Unglück halt selbst aus dem Rennen...
Die Agitation
Zur Verbreitung einer generellen Sportkritik, die weit über die
Ablehnung der Olympischen Spiele hinausgeht – und da, wo sie die
Olympischen Spiele ins Visier nimmt, sie aus den entgegengesetzten Gründen
kritisiert als es das bürgerliche Olympia-Lamento tut: „Zu
kommerziell“, „Verrat der alten Ideale“, „Zu
gigantisch“ – erstellten wir einen Reader(21),
führten mehrere Veranstaltungen(22) durch und publizierten
diverse Texte in den Leipziger Szene-Zeitschriften. Der Reader verkaufte sich
recht gut, die Veranstaltungen waren bis auf wenige Ausnahmen reichlich besucht
– und auch nicht-AOK-AutorInnen nahmen sich des Themas Olympia an und
veröffentlichten böse Schmähschriften(23).
Die ganze Zeit herrschte in Leipzig allerdings eine apathische Konsumhaltung
vor. Unser Publikum hörte sich unsere Referate an, las geduldig die Texte
und sortierte brav den Reader im Privatarchiv ein. Unsere Thesen regten aber
nicht wie gewünscht zur Diskussion an, provozierten keinen erbitterten
Widerspruch und führten nicht zu einer begeisternden Zustimmung, die sich
dann auch mal in der Beteiligung von anti-olympischen Aktionen hätte
ausdrücken können. Auch bundesweit erhielten wir kaum Feedback
bezüglich unserer Kampagne.
Die Fragen auf unseren Veranstaltungen, sei es in Leipzig oder
außerhalb, bewegten sich meist im Spannungsfeld von „Wie wollt Ihr
mit Euren Forderungen die Bevölkerung erreichen? Ist es nicht sinnvoll auf
die steigenden Brötchenpreise einzugehen...“ und „Wie
heißen eigentlich die anderen acht Bewerberstädte und kommt Leipzig
denn am 18. Mai weiter?“ Als passionierte und völkerverachtende
BrotvertilgerInnen und aufgrund des damit meist einhergehenden Gedächtnis-
und Prophetie-Schwundes machten uns solche Fragen meist regelrecht, äh,
mhm, nun ja, sagen wir mal: sprachlos.
Der Eierwurf
Obwohl niemand mit uns so richtig diskutieren wollte, störten wir
trotzdem einige linke Befindlichkeiten. Die Leipziger Jugendgruppe
Tomorrow(24) warf uns in einem Papier zwei Tage vor der
Demonstration am 15. Mai 2004 vor, dass sie uns für eine
sozialdemokratische und antikommunistische Bürgerinitiative halten
würde und sich deswegen nicht am Demo-Bündnis beteiligen könne.
Unsere diesbezügliche Anfrage stammte übrigens von Anfang 2004. Was
uns verwundert hat, war allerdings nicht die lange Zeit, die sie für die
Beantwortung benötigten – schließlich waren vorher
unzählige Bände der Adorno-Gesamtausgabe zu studieren –, sondern
das völlige Fehlen von eindruckerweckenden Zitaten aus eben jenen
Büchern. Deswegen konnten sie uns auch leider nicht von ihrer Meinung, die
sie für besonders kritisch und kommunistisch halten, überzeugen.
Die Gegenseite war aber auch nicht gerade zimperlich mit ihren
Vorwürfen. Per Email teilte uns eine
Regierung-stürzen-durch-Bambule-Gruppe aus Hamburg mit, dass wir mit
unserer Losung „Gegen Nationalismus und Internationalismus“ unter
unserem Aufruf linke Essentials verraten würden und sie deswegen nicht
nach Leipzig mobilisieren könnten. Auch das grämte uns sehr, denn
schließlich wollten wir erst mit den umsturzerfahrenen HamburgerInnen die
Leipziger Regierung kippen, um dann mit den UtopieexpertInnen von Tomorrow den
Kommunismus aufzubauen. So verfassten wir neben einer erklärenden Email
nach Hamburg eine Interpretationshilfe(25) für die so
umstrittene Aufrufforderung – inzwischen kam uns über drei Ecken zu
Ohren, dass auch andere Gruppen so ihre „Bauchschmerzen“ damit gehabt
hätten. Doch trotz unseres expliziten Angebots, gern weiter über
dieses Thema zu diskutieren, gab es keinerlei Reaktionen darauf – bis auf
vereinzelte Eierwürfe auf der 16:00 Uhr-1. Mai-Demo in Berlin gegen
VerteilerInnen unseres Demoaufrufs. „Ihr Antideutschen reißt Euch ja
jetzt jedes Thema unter den Nagel“, bekamen wir zusammen mit den Eiern an
den Kopf geknallt. Das Fazit lautet somit für uns: Die
„Bauchschmerzen“ resultieren wohl weniger aus unseren
aufklärerischen Versuchen bezüglich Internationalismus (da wären
eher Kopfschmerzen die Folge gewesen – wenn überhaupt), sondern aus
den Salmonellen-Eiern aus Nicht-Freiland-Haltung.
Die
Aktionen
Wir hingegen pflegten bei unseren Aktionen immer gesittetere Umgangsformen. Die
meisten Aktionen, zu denen wir aufriefen, fielen mangels Beteiligung ins
Wasser.(26) Manchmal standen wir zu zweit da, dann mal wieder zu
fünft oder zu zehnt. So ließen sich dann zwar fast immer unsere
Flugblätter verteilen, aber nicht öffentlichkeitswirksam die
Bühne oder das Podium besetzen. Gelang dies trotzdem, wurden wir recht
schnell abgeräumt und bekamen die üblichen Sprüche zu
hören. Die brötchenfressende Bevölkerung war der Meinung, wir
sollten erst mal arbeiten gehen – und mit Olympia würden sie schon
die entsprechenden Stellen für uns schaffen. Die kaviarverwöhnten
PodiumsteilnehmerInnen hingegen verhöhnten uns mit der unfreiwilligen
Eingemeindung in ihre „one family“ und lobten ausdrücklich
unsere friedlichen und demokratischen Aktionsmethoden, die im so deutlichen
Kontrast zu den Berliner NOlympia-Protesten in den 90ern stehen würden.
Die Lokalpresse hingegen bedauerte gar am nächsten Tag, dass wir nach
zweiminütigen Protest abgezogen wären und uns nicht der Diskussion
gestellt hätten. So kann man einen unsanften Rauswurf durch Polizei und
Wachschutz auch bezeichnen...
Nicht weiter verwunderlich ist demzufolge, dass unserer eigentlicher Traum,
dass nämlich die alleinige Existenz des AOK der Funke ist, der alle
brennend heiß darauf macht, etwas gegen Olympia zu tun, immer nur ein
Traum geblieben ist. Es bleibt festzustellen, dass das Thema NOlympia zumindest
in Leipzig keines ist, was die Leute hinter dem Ofen hervorlockt oder gar zum
Selbstläufer werden kann.
Einmal mobilisierten wir allerdings fünftausend Menschen in Leipzig gegen
Olympia. Und das kam so: Gerhard Schröder wollte sich
höchstpersönlich für 30 Euro die Olympia-Fanartikel in Leipzig
kaufen (er betonte in der Presse ausdrücklich, dass er die 30 Euro auch
selbst bezahlt habe!) und eine Pressekonferenz geben. An der Leipziger
Universität tobte gerade ein wilder, d.h. „konstruktiver“
StudentInnenstreik. Auch die StudentInnen waren nun der Meinung, ihrem Kanzler
mal die Meinung sagen zu müssen: „Wie sollen wir Deutschland zur
bedeutendsten Friedensmacht machen, wenn an den Unis der Krieg um die
Sitzplätze auf der Tagesordnung ist“, fragten sie unterwürfig.
Unter die Blockade des Leipziger Olympiabüros mischten sich einige
AktivistInnen des AOK – und flugs war am nächsten Tag von den
mächtigen anti-olympischen Protesten die Rede.
Die
Alternative
Getreu dem Leitspruch „Immer positiv denken“ verharrten wir nicht in
der Kritik an der Leipziger Olympia-Bewerbung, sondern entwickelten eigene
Visionen, die wir in unserem Alternativen Bewerbungskatalog(27)
zusammenfassten. Nach dem Scheitern der offiziellen Bewerbung für 2012
sind wir nun um so überzeugter, dass sich unser ausgefeiltes und
ausgereiftes Konzept für Leipziger Bewerbung um die Spiele im Jahre 2016
durchsetzen wird. Unsere Chancen, partielle Verbesserung durchzusetzen,
dürften mit dem Zeitgewinn von vier Jahren gestiegen sein, vor allem bei
dem Punkt „Wetter: Ist in Arbeit“.
Die
Demo
Die Demo am 15. Mai 2004(28) offenbarte noch mal die Richtigkeit
unserer ganzen Kritik an dem olympischen Spektakel. Auf der Route des
Staffellaufes sollte eine Menschenkette gegen die Demo stattfinden. Die Stadt
bzw. die Pro-Olympischen Vereine meldeten mehrere Jubelkundgebungen auf unserer
Route und dem Platz der geplanten Auftaktkundgebung an. Wir hatten nämlich
den Fehler begangen, die Demo zwar rechtzeitig anzumelden, die Route aber erst
später nachzureichen. In der Zwischenzeit hatte die Stadt von der
geplanten Demostrecke Kenntnis erlangt und deswegen nichts unversucht gelassen,
uns aus der Innenstadt zu drängen.
In den Lokalmedien wurde fleißig zu den zahlreichen Pro-Olympischen
Kundgebungen mobilisiert, ohne mit einem Wort zu erwähnen, warum sie
eigentlich stattfinden.
Während unsere Demo für Leipziger Verhältnisse mit ca. 800
Menschen sehr gut besucht war (es reisten kaum Auswärtige an), fielen die
Pro-Olympischen Aktivitäten voll ins Wasser. Es regnete zwar den ganzen
Tag, aber mit so einem Debakel hatte wohl niemand gerechnet. Die Menschenkette
bestand aus Löchern und nicht aus Menschen. Am nächsten Tag war
allerdings in den Lokalmedien zu lesen und zu hören, die Menschenkette
wäre „geschlossen“ oder „fast geschlossen“ gewesen,
5000 Menschen hätten sich beteiligt. Die Demo, wenn sie überhaupt
erwähnt wurde, wäre auf nur 240 oder 300 Personen gekommen.
Das stimmt allerdings nur für den zweiten Teil der Demo. Nach der
Abschlusskundgebung zog genau jene Anzahl der TeilnehmerInnen lautstark
zurück in die Innenstadt, um sich die Route zu nehmen, die von der Stadt
verboten wurde. Erst als die Bühne des Olympia-Festes besetzt wurde und
die Olympia-GegnerInnen begeistert zu dem Lied „New York, New York“
tanzten, ließ sich die Polizei blicken und versuchte die Menge
aufzulösen.
Leider hat sich unsere Demo-Anmelderin Angela Marquadt nicht genug mit unserer
Olympia-Kritik auseinandergesetzt; sonst hätte sie nicht den ReporterInnen
erzählt, das ganze Geld wäre statt für Olympia besser in
Arbeitsplätze investiert worden. Und das AOK sei nicht gegen Olympia,
sondern nur der Leipziger Bewerbung gegenüber kritisch eingestellt –
wegen den hohen Mieten und so.(29) Bis auf dieses kleine
Missgeschick war die Demo ein Erfolg. Sie hatte zwar keinerlei Einfluss auf die
Entscheidung drei Tage später – es den LeipzigerInnen aber mal so
richtig gezeigt zu haben, nach all den Rückschlägen und Entbehrungen
anti-olympischen Protests der letzten Monate, erfüllte uns mit tiefer
Befriedigung.
Die Verschwörungstheorie
Die Leipziger Volkszeitung fragt „Warum lässt die große
Unterstützung aus Deutschland auf sich warten?“ Einer, der es genau
weiß, antwortet: „... nationale Depression, Neid, Missgunst,
Kleingeisterei und auch Vorurteile gegenüber der Leistungsfähigkeit
des Ostens. Zum anderen wurden Personen, die maßgeblich zum Erfolg im
nationalen Wettbewerb beigetragen haben, systematisch kalt
gestellt.“(30) Der Interviewte heißt Dirk
Thärichen und war zu DDR-Zeiten als Stasi-Mitarbeiter Teil einer
Behörde, die wirklich Personen „systematisch kalt“ stellte. Bis
2003 machte er Karriere als Geschäftsführer der Olympia GmbH. Dann
war seine Vergangenheit der größte, aber nicht der einzige Skandal
der Leipziger Bewerbung. Heute macht der Kleingeist auf
Verschwörungstheorie. Die arroganten Westmedien wären am
Olympia-Desaster schuld. Bei der hiesigen Bevölkerung, die nur LVZ oder
BILD konsumiert, kommt so was gut an.
Er ist nicht der einzige, der so was sagt. Vielmehr durchzog diese
Wahnvorstellung die gesamte Bewerbung. Auch der Bürgermeister Tiefensee
faselte die ganze Zeit davon, dass die Leipziger Bewerbung im nationalen wie im
internationalen Rahmen die ehrliche, offene wäre, die auch auf
Schwachstellen hinweise und nicht versuche, den Gegner schlecht zu machen
– ganz im Gegensatz zu den Mitkonkurrenten. Auf Nachfragen, was er denn
meine, betonte er immer, er will nichts genaueres dazu sagen, denn er
würde sich nicht daran beteiligen wollen, schmutzige Wäsche zu
waschen. Damit präsentierte er ein Musterbeispiel für die
Verschwörungstheorie: Die anderen sind hinterhältig und böse,
aber warum genau, lässt sich nicht sagen, denn man selbst steht über
den Dingen.
Stolz war die Stadt immer darauf, im Gegensatz zu den arroganten Weltmetropolen
keine potemkinschen Dörfer aufzubauen, Schandflecken zu verschweigen usw.,
sondern sich immer von der „natürlichen“ Seite zu zeigen. In der
Praxis sah dass dann so aus, dass zum Rogge-Besuch(31)
Jubel-LeipzigerInnen von Zeitarbeitsfirmen angeheuert wurden, die für
mehrere Stunden wie zufällig in der Stadt rumzustehen und ihre
Pro-Olympia-Haltung zum Ausdruck zu bringen hatten. Der nicht eingeplante
Protest des AOK hingegen wurde umgehend von der Polizei festgesetzt. Massive
Polizeipräsenz in der Stadt sollte schon im Vorfeld unliebsame
Meinungsbekundungen verhindern.
Die Entscheidung
Am 18. Mai 2004 entschied das IOC, dass Leipzig aus dem Rennen ist. Tausende
LeipzigerInnen hatten sich in der Innenstadt versammelt, um das Ereignis vor
diversen Bühnen oder Videoleinwänden live zu verfolgen. Nur weil die
Lokalmedien, die Stadtverwaltung und die LeipzigerInnen selbst sich immer weis
gemacht hatten, dass Leipzig auf alle Fälle weiterkommt, war die
Enttäuschung dann entsprechend groß.
Am nächsten Tag schreibt die Leipziger Volkszeitung (LVZ) in ihrem
Kommentar auf der ersten Seite vom „Lausanner Todesurteil“.
Entsprechend hingen im Rostock die Olympia-Fahnen auf Halbmast. Aber der
Leipziger Opernintendant ist alt genug, um noch die alten
Nazi-Durchhaltesprüche aufsagen zu können: „Was nicht
tötet, härtet ab.“(32)
Wer ist für den Tod der Stadt verantwortlich? Ohne deftige
Dolchstoßlegende und Verschwörungstheorie geht in Deutschland
nichts. Schuldig ist in erster Linie das IOC. Der LVZ-Leitkommentator
weiß genaueres: „Rogge hält Leipzig plötzlich für zu
klein. Wenn das stimmt, hätte man Leipzig erst gar nicht ins Messer laufen
lassen dürfen. ... Wer will da an die Unbeeinflussbarkeit von
IOC-Computern glauben? Es riecht nach unappetitlichen Verrenkungen hinter den
Kulissen.“ Fakt ist, dass das IOC von Anfang an klar gesagt hat, dass
Leipzig eigentlich zu klein ist. Nur in Leipzig wollte das niemand hören
– die hochgeputschte, olympiabegeisterte Menge hat sich selbst ans
„Messer“ geliefert und sollte froh sein, jetzt wieder in die
Realität zurückgeholt worden zu sein – und eben nicht erst in
einem Jahr. Fakt ist auch, dass vielmehr die NOK-Entscheidung für Leipzig
im nationalen Wettbewerb eine politische und emotionale Entscheidung war
(Tiefensee spielt Cello, Leipzig – die Stadt der Wende, Aufbau Ost). Das
IOC hat am 18. Mai 2004 mehr nach den objektiven Computerergebnissen
entschieden. Sollte hinter den Kulissen gemauschelt worden sein, dann immer nur
zugunsten von Deutschland – denn an einer solchen Großmacht kommt
auch das IOC nicht vorbei. Leipzig hätte ohne die Lobbyarbeit und die
Bestechungen, von denen auszugehen ist(33), noch schlechter
abgeschnitten. Die LeipzigerInnen wissen nun jedoch nicht genau, ob sie sich
mehr über New York oder Moskau aufregen sollen. Der Wendepfarrer
Führer hat sich hingegen sofort entschieden: New York, Moskau und London
hätten aufgrund der kriegerischen Politik ihrer Länder überhaupt
nicht weiterkommen dürfen.(34) Auch beim ZDF weiß der
Olympia-Moderator zu berichten, dass sich die USA mit ihrer Politik eigentlich
„keine Freunde“ gemacht haben, wohingegen Deutschland ein so
zuverlässiges Land sei.(35)
Da das IOC als kollektiver Sündenbock herhalten muss, sieht das AOK jetzt
endlich Chancen für einen massenhaften Absatz seiner Produkte, vor allem
was den Aufkleber „Gib dem IOC keine Chance“ betrifft. Vor dem 18.
Mai noch panisch von jedem Laternenmast abgekratzt, erfreut er sich jetzt
steigender Beliebtheit...
Schuld ist aber nicht nur das IOC und vor allem sein Präsident Rogge, der
die Liste der nominierten Städte so „emotionslos“ vorgetragen
hätte(36), beklagt wird in Leipzig seit jeher der fehlende
nationale Zusammenhalt. Die Westmedien würden gegen Leipzig und die Ossis
hetzen, „Schröder wahrte stets sichtbare Distanz zur Leipziger
Bewerbung, so als wolle er keinen Image-Schaden
riskieren“(37), die Westfirmen hätten nur
zögerlich die Sponsoring-Verträge unterschrieben,(38)
die ausgebooteten West- & Oststädte hätten gegen Leipzig
intrigiert und die Westbevölkerung habe keine so irrationale und
völlig bekloppte Begeisterung an den Tag gelegt wie die LeipzigerInnen.
Leider stimmt die Kritik der LeipzigerInnen am Rest der Welt nur zum Teil. Denn
auch im Westen war der nationale Zusammenhalt meist wichtiger, als eigene
Interessen bzw. ein nüchterner Blick auf die Leipziger Chancen. Die
BundespolitikerInnen, denen die LVZ unterstellt, sie hätten „intern
Kritik, Skepsis und Hohn über ‚die Ossis doch nicht!’“
geäußert, standen immer hinter der Bewerbung. Schröder
fällt deswegen am 18. Mai auch nichts besseres ein, als zu erklären:
„Die Gründe, weshalb die Stadt gescheitert ist, liegen allein beim
IOC“ und Leipzig solle sich einfach noch mal
bewerben.(39)
In der LVZ wird von allen Befragten zur Wiederholungstat (die Bewerbung
für 2016) sowie zu offenem Widerstand aufgerufen: „Ich hoffe auf eine
Trotzreaktion der Leipziger.“(40) Tiefensee hatte ja schon
vor der Niederlage die Parole ausgegeben: „Wer nicht kämpft, hat
schon verloren“, die später permanent zitiert wurde. Nun haben die
LeipzigerInnen verloren. Wie echte Deutsche werden sie nun aber umso mehr
kämpfen, statt endlich zur Besinnung zu kommen.
Von links bis rechts sind sich am Tag danach alle einig: Gewonnen hat der
„Gigantismus“, der „Kommerz“, die
„Großsponsoren“(41), die „internationale
Medienmacht“, die herzlosen und verlogenen Bonzen des „IOC“ und
die „politische Intrige“, verloren hat der „Sport“, die
„Begeisterung“ der LeipzigerInnen, die „Fairness“, die
„Nachhaltigkeit“, die „olympischen Ideale“, die Hoffnung
auf „grüne, kompakte, menschliche und bescheidene Spiele“, das
„Herzblut der Leipziger“, „Spiele im Herzen der
Stadt“.(42)
Die
Abwicklung
Dass zu unserer Abschluss-Straßen-Party am 18. Mai 2004 im Leipziger
Süden mehr Menschen kamen als zu jeder anderen Aktion (die Leipziger
Volkszeitung berichtet von 100 Personen, die den Verkehr blockiert hätten
und Straßenbahnen zum Umleiten gezwungen. Multipliziert mit dem
LVZ-Faktor müssten also in Wirklichkeit mindestens 300 Personen vor Ort
gewesen sein), kann entweder heißen, dass alle froh sind, dass es uns
nicht mehr gibt oder froh, dass wir die Drecksarbeit geleistet haben. Wie dem
auch sei. Für weitere Drecksarbeit wurden wir schon angefragt.
Die Kulturamtsleiterin der Stadt Leipzig wies uns in einer Email vor dem 15.
Mai 2004 hin, dass unsere Demo an der Leipziger Gedenkstätte für die
im Nationalsozialismus ermordeten Jüdinnen und Juden vorbeiführt. Wir
sollten dafür Sorge tragen, dass der „Ort respektiert“ wird. Wir
bedankten uns für den Hinweis, sagten dies als Selbstverständlichkeit
zu und kritisierten im Gegenzug die Gedenkstättenpolitik des Kulturamtes,
welches lieber Leipziger AntisemitInnen als deren Opfer ehrt. Daraufhin fragte
uns die Kulturamtsleiterin, ob wir nicht jemand wüssten, die oder der sich
um die „Pflege der Anlage, Kehren etc.“ kümmern könnte.
Dies sei nicht als „Abwälzen der Trägerschaft und
Verantwortlichkeit“ zu verstehen, sondern als Versuch, die
„Gedenkstätte stärker in das öffentliche Bewusstsein“
zu bringen. Wir sagten diese neue Tätigkeit zu – für den Fall,
dass alle antisemitischen Denkmäler in Leipzig, einschließlich des
Völkerschlachtdenkmals, abgerissen würden. Wahrscheinlich können
wir noch länger auf diesen neuen Job warten als auf die nächste
Olympiabewerbung...
Die
Danksagung
Wir danken allen, die uns freiwillig oder unfreiwillig unterstützt haben.
Insbesondere möchten wir uns vor den Großsponsoren verneigen (die
allerdings geheim bleiben müssen). Liebe Grüße gehen aber auch
an BerlinerInnen, die unsere Mobilisierungsveranstaltung so anstrengend fanden,
dass sie die Demo glatt verschlafen haben. Wir grüßen die Leipziger
Linke, die wenigstens die Demo nicht verschlief. Einige sind sogar kurz vorher
aufgewacht und aktiv geworden – sehr lobenswert. Weniger löblich,
dass die meisten erst nach der Entscheidung entdeckten, was es für tolle
Aufkleber und Plakate gibt – und traurig anmerkten, wie schade es sei,
dass jetzt alles vorbei ist. Sigmund Freud danken wir für die
Bandenwerbung(43) und die Stadt Leipzig für die Spende
einer Olympiafahne für unsere Demo(44). Keinen Dank, aber
wenigstens eine Erwähnung verdient die Tatsache, dass einigen Zeitungen
und AutorInnen ihr Antikommunismus (d.h. der Stasiskandal und die Verachtung
gegenüber dem Ostkitsch) wichtiger war als die nationale Sinnstiftung
durch Olympia. Zu guter Letzt möchten wir unseren Sport-, Polit- und
Grillvereinen danken, dass sie uns für die Zeit des anti-olympischen
Engagements von unseren gesellschaftlichen Verpflichtungen entbunden haben
– und somit einen entscheidenden Anteil an unserem gutem Abschneiden im
weltweiten AOK-Wettbewerb hatten.
Fussnoten
(1) Ob da ein Zusammenhang mit unserer generellen
Unsportlichkeit besteht, bedarf genauerer Untersuchungen.
(2) Vgl.: Kommt eine Rauchbombe geflogen... – Interview mit
dem autonomen Anti-Olympia-Komitee aus Berlin, in: Die Beute 01/1994, S.
73-82
(3) Zur Begründung der generellen Sportkritik siehe u.a.:
http://www.nein-zu-olympia.de/html/texte/reader/read07.htm
(4) Polizeieinsatz bei der Demo: 4.500 Euro, Putzbrigaden zur
Entfernung von AOK-Plakaten: 1.200 Euro, verlorene Klage vor dem
Sächsischen OVG wegen der Demoauflagen: 800 Euro, Bestechung der Medien
wegen Ignoranz gegenüber AOK-Pressemitteilungen: 237 Euro,
Staatsschutz-Besuch bei den AOK-Veranstaltungen inkl. der dazu notwendigen
Adorno-Lektüre: 978 Euro, Telefonate mit Veranstaltungsorten, um sie zur
Absage von AOK-Veranstaltungen zu bewegen: 0,95 Euro, Bestellung von
AOK-Materialien inkl. Einrichtung einer Deckadresse: 17 Euro, Sachschäden:
2500 Euro
(5) Überzeugt hat uns die Plakatkampagne für
Mitteldeutschland der titanic (März 2004, S. 26-27). Weniger
überzeugend fanden wir hingegen die Äußerung des Chefs der
Leipziger Olympia-Bewerbungs GmbH, Zühlsdorf, dass Mitteldeutschland, eine
Region die mit Norditalien über die weltweit „größte
Kulturdichte“ verfüge, vom Harz bis nach Krakau und Prag reiche.
(ZDF, 18.5.2004, 13:15 Uhr)
(6) http://www.nein-zu-olympia.de/html/texte.htm
(7) http://www.nein-zu-olympia.de/html/archiv_p.htm
(8) http://www.nein-zu-olympia.de/anzeigen/index.php
(9)
http://www.nadir.org/nadir/aktuell/schwerpunkte/noolymleipzig.html
(10) http://www.nein-zu-olympia.de/html/presse_s.htm
(11)
http://ildb.nadir.org/index.php?seite=suche.php&feld1=Schlagwort&wert1=leipzig&verkn1=und&feld2=Schlagwort&wert2=no-olympics&verkn3=und&medium=Zeitschrift&order=Jahr
(12) Alle Interviews mit Freien Radios sind unter:
http://www.nein-zu-olympia.de/html/links.htm verlinkt
(13) siehe vor allem:
http://www.nein-zu-olympia.de/html/archiv_t.htm und
http://www.nein-zu-olympia.de/html/reader.htm
(14) Rechtschreibung unverändert
(15) Siehe auch die AOK-Presseerklärung zu diesem Thema:
http://www.nein-zu-olympia.de/html/archiv_p.htm#250404
(16) http://de.indymedia.org/2004/05/83511.shtml
(17) http://www.leipziger-freiheit.de
(18) Zu Albert Speer sen. und jun.:
http://www.nein-zu-olympia.de/html/texte/speer.php
(19) LVZ 19.05.2004, S. 2
(20) LVZ 19.05.2004, S. 2
(21) Im Volltext unter:
http://www.nein-zu-olympia.de/html/reader.htm
(22) Ankündigungen aller Veranstaltungen:
http://www.nein-zu-olympia.de/html/archiv_e.htm, Bericht von der zweiten
Veranstaltungsreihe: http://www.nein-zu-olympia.de/html/texte/events04.htm, ein
Referat findet sich unter:
http://www.nein-zu-olympia.de/html/texte/referat.htm
(23) http://www.nein-zu-olympia.de/html/archiv_t.htm
(24) http://tomorrow.de.ms/
(25)
http://www.nein-zu-olympia.de/html/texte/internationalismus.php
(26) Übersicht über anti-olympische Aktionen in
Leipzig: http://www.nein-zu-olympia.de/html/events.htm, Fotos zu einigen
Aktionen: http://www.nein-zu-olympia.de/picture/noolympia/index.php
(27) http://www.nein-zu-olympia.de/bew/bew.htm. In Papierform
wurde dieser sowohl in übersetzter Fassung ans IOC geschickt als auch in
Leipzig ausgelegt. Etliche BürgerInnen fielen darauf hinein, weil sie ganz
erpirscht darauf waren, olympische Dokumente zu sammeln.
(28) Siehe auch: http://www.nein-zu-olympia.de/html/demo.htm,
AOK-Presseerklärung zur Demo:
http://www.nein-zu-olympia.de/html/archiv_p.htm#150504, Fotos von der Demo:
http://www.nein-zu-olympia.de/picture/demo/index.php, Aufruf zur Demo:
http://www.nein-zu-olympia.de/html/aufruf.php
(29) ZDF 18.5.2004, 12:40 Uhr
(30) LVZ Ostern 2004, S. 20
(31) Der IOC-Präsident weilte am 19. und 20. April 2004 in
Leipzig
(32) LVZ 19.05.2004, S. 23
(33) Im Jahr 1993 zahlte das Berliner Olympia-Komitee 2,7
Millionen DM an IOC-Kader, nachdem es heimlich ermittelt hatte, welcher
Autowünsche und sexuelle Vorlieben sie hätten und was sie vom Dritten
Reich halten. Das war ein Grund für das Scheitern der Berliner Bewerbung
für die Spiele 2000. (ZDF 18.05.2004, ca. 13:00)
(34) LVZ 19.05.2004, S. 3
(35) ZDF, 18.05.2004, 12:30 Uhr
(36) LVZ 19.05.2004, S. 3
(37) LVZ 19.05.2004, S. 1
(38) Am 15.05.2004 musste sich z.B. der Sony-Chef für
Deutschland, Schweiz und Österreich in der LVZ dafür rechtfertigen,
dass er keinen Olympia-Aufkleber an seinem Auto habe.
(39) LVZ 19.05.2004, S. 3
(40) LVZ 19.05.2004, S. 24
(41) Dass am Tag der Entscheidung vor der Olympia-Bühne in
Leipzig nur O2-Luftballons und mdr-Fahnen zu sehen waren, tut dieser
Wahnvorstellung keinen Abbruch.
(42) Diese Schlagworte finden sich in Hülle und Fülle
den Statements von SportlerInnen, PolitikerInnen und BürgerInnen, die die
LVZ am Tag selbst oder später befragte. Eine genaue Quellenangabe
würde so aussehen: LVZ 19.05.2004-28.05.2004, S. 1-26
(43) http://www.mob-action.de/bilder/details.php?image_id=1958
(44) http://www.mob-action.de/bilder/details.php?image_id=1964
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