Eine neue Heimat
Die radikale Linke schrieb sich einst die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft auf die Fahnen. Doch wenn heute auf die »soziale Frage« Bezug genommen wird, geht es meist um Verteilungsgerechtigkeit. Die »soziale Frage« – so man denn aus Gründen der Verständlichkeit noch an diesem Begriff festhält – kann aus unserer Sicht nur in der Art gestellt werden, dass die ursächlichen gesellschaftlichen Prinzipien und Prozesse analysiert werden, die bedingen, dass es soziale Gleichheit nicht gibt und im Kapitalismus auch nicht geben kann.
Die kapitalistische Gesellschaft beruht in ihrem Grundprinzip auf Konkurrenz und der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft zum Zweck der Kapitalverwertung. Die dafür notwendige Konkurrenz der Einzelnen am Markt schließt permanent MitkonkurrentInnen aus, auch wenn dies nicht zwangsläufig durch die üblichen Kategorien wie Geschlecht, Hautfarbe, Religion etc. geschehen muss.
Grundsätzlich ist die tendenzielle Abnahme des Bedarfs an menschlicher Arbeitskraft eine feine Sache. Doch zieht dies gleichzeitig eine verschärfte Konkurrenz um die Teilhabe am Verwertungsprozess nach sich. Die Linke hat deshalb diesen Zwang, sich um den Preis des Überlebens verwerten zu müssen, zu kritisieren. Aber sie ist heute weit davon entfernt, den Prozess der Überwindung des Kapitalismus zu organisieren. Ihr Zustand ist etwa in puncto Strategiediskussion und Organisierung indiskutabel. Nichtsdestotrotz feiert die soziale Frage ein Comeback, und das gilt es sich genauer anzusehen. Festzustellen ist, dass die Prinzipien des Kapitalismus von keiner der an der Aushandlung des sozialen Friedens beteiligten Parteien generell in Frage gestellt werden.
Der plausibelste Grund für Linke, sich der aktuellen Diskussion um den Sozialabbau zu widmen, ist die Angst um die eigene Existenz. Es heißt, Pfründe zu sichern, denn die Bundesregierung meint es ernst mit ihrem Vorhaben des Sozialabbaus.
Viele Linke sind sich durchaus der Tatsache bewusst, dass sie mit der Forderung nach staatlich garantierten Sicherungssystemen in Widerspruch zu ihrer Staatskritik geraten, doch diese Tatsache wird als unumgänglich akzeptiert, oder aber es wird auf die eigenen radikaleren Ideen verwiesen. Das Konzept lautet: Erhalt des Sozialstaats als Etappenziel zum Kommunismus. Das klingt nett, ist aber in Anbetracht der gesellschaftlichen Marginalität der radikalen Linken und vor allem auch der völligen Irrelevanz dieser Haltung in Kreisen der Gewerkschaften und im Spektrum der GlobalisierungsgegnerInnen schlichtweg Unsinn.
Auch die Frage nach der Verfasstheit der BündnispartnerInnen und der AdressatInnen einer linken Kapitalismuskritik wird hinten angestellt. In Deutschland gibt es nach wie vor einen rassistischen Konsens, an der Basis in viel offenerer Form als in Regierungskreisen und Wirtschaftseliten. Die unter der rot-grünen Bundesregierung forcierte Modernisierung des Standortes Deutschland gesteht Nichtdeutschen zwar per Gesetz bei entsprechender Eignung und Nützlichkeit die Teilhabe am deutschen Wohlstand zu. Der Rassismus tritt jedoch spätestens dann wieder offen zutage, wenn es darum geht, nicht verwertbare Menschen an der europäischen Außengrenze abzuweisen.
Wer also aus der sozialen Frage die Notwendigkeit einer Intervention und die Suche nach einem revolutionären Subjekt ableitet, bekommt es unweigerlich mit rassistischen Subjekten zu tun. Die Klassenorientierung wird dieses Problem nicht lösen können.
Eher ist zu befürchten, dass sich nationalrevolutionäre Tendenzen in der Linken verstärken werden. Daher muss im Kampf gegen den Kapitalismus die Abgrenzung vom Nationalismus und vom Rassismus in den Mittelpunkt gestellt werden. Dahinter fällt die radikale Linke mit ihrer Bündnispolitik derzeit zurück. Sie ist gegenwärtig nur noch eine Bereicherung im pluralistischen Meinungsgemenge, Polarisierungen werden vermieden.
Bereits Anfang der neunziger Jahre wurden entsprechende Diskussionen von antinationalen Gruppen angestoßen, und auch die Antifa war Ende der neunziger Jahre schon mal weiter. Als damals die Nazis verstärkt Bezug auf die soziale Frage nahmen, glaubten viele Linke, dies mit einer klassenkämpferischen Antwort kontern zu können.
Das BgR kritisierte deshalb in einem Aufruf zum 1. Mai 1998: »Der Kapitalbegriff der KlassenkämpferInnen und sozial Bewegten besteht in der Regel aus wenig mehr als der Überzeugung, dass Geld die Welt regiert und die Bevölkerung von Bonzen, Banken und Konzernen ausgebeutet und unterdrückt und – was vielen am allerschlimmsten erscheint – individualisiert und ›entwurzelt‹ wird. Der ›Neoliberalismus‹ und vor allem die ›Globalisierung‹ gelten dabei als besonders gefährliche Bedrohung – vorgeblich, weil sie zur wachsenden Verarmung führen. In Wirklichkeit dürfte jedoch die Vorstellung einer alle nationalen und sonstigen Identitäten auflösenden Globalisierung für bodenständige deutsche Linke die Horrorvision sein, die sie weit mehr als den reinen materiellen Verlust fürchten. (…) Dieser linke romantische Antikapitalismus (…) richtet sich wie der rechte völkische Antikapitalismus gegen die RepräsentantInnen der kapitalistischen Zirkulationssphäre, gegen die Anhäufung von Reichtum ohne gesellschaftliche Verantwortung, gegen unproduktiven Konsum auf Kosten der Gemeinschaft. (…) Nicht der Wille zu einer umfassenden Kritik von Kapital und Arbeit, sondern das Bedürfnis nach Volksnähe und Gemeinschaft im Land von Hitlers willigen Vollstreckern war hier das eigentliche Motiv für die Übernahme solcher antikapitalistischen Positionen.«
Der Ton in der Debatte um die sozialen Kürzungen ist nun schärfer geworden. Gnadenlos wird zur Hetzjagd auf »Sozialbetrüger«, »Schmarotzer« und »Parasiten« geblasen. Kein Tag, an dem nicht Zahlen präsentiert werden, die belegen sollen, wie viel der unberechtigte Bezug von Sozialleistungen die Ehrlichen unter uns wieder gekostet hat. Die Antwort der Subjekte darauf besteht jedoch nicht etwa in der Zurückweisung derartiger Ressentiments, sondern in der unbedingten Versicherung des eigenen Arbeitswillens gegen den Vorwurf des Schmarotzertums. Dabei werden unzumutbare Bedingungen in Kauf genommen, nur um sich durch die Teilnahme am Arbeitsalltag der Anerkennung durch die Gesellschaft zu vergewissern.
Allein diese Unterwürfigkeit, aber auch die Identifikation mit dem deutschen (Arbeits-) Kollektiv und der Hass auf sozial Herausgefallene und Müßiggänger sollten die Alarmglocken schrillen lassen. Dass das in Teilen der radikalen Linken geschieht, soll keineswegs verschwiegen werden. Ebenso wenig kann aber auch über die durchgängig positive Bezugnahme auf die Arbeit und ihren Zwangscharakter durch den überwiegenden Teil der GlobalisierungskritikerInnen, von den Gewerkschaften und Parteien ganz zu schweigen, hinweggesehen werden.
Auch wenn der Zeitpunkt eher Zufall als Konzept ist, schließt die Diskussion über die Agenda 2010 nahtlos an die antiamerikanische Stimmung der Aufmärsche der Friedensbewegung an, die einen nationalen Schulterschluss erster Güte fabrizierte. Die Demonstrationen während des Irakkrieges haben offenbart, wie abrufbar Ressentiments gegen die Globalisierung und insbesondere die USA in allen Bevölkerungsteilen sind.
Was beim Irakkrieg klappte, gelingt beim Thema Sozialabbau allemal. Es gibt wohl kaum ein anderes gesellschaftliches Feld, auf dem so offenbar wird, wie nah sich alternativ-kapitalistische Konzepte und zivilgesellschaftliches Engagement sind. Die allerorten entstehenden Sozialforen, geldfreien Tauschbörsen und Initiativen zur aktiven lokalpolitischen Mitgestaltung verstehen sich bewusst parteiübergreifend.
Wenn sich demnächst Hunderttausende in Paris zum Europäischen Sozialforum (ESF) einfinden, folgen sie dem Aufruf, sich »gegen einen kapitalistischen, von den größten multinationalen Konzernen und den Regierungen und internationalen Institutionen, die deren Interessen dienen, befohlenen Globalisierungsprozess (zu) wehren« (www.fse-esf.org).
Die gemeinsame Identität wird gestärkt durch das heraufbeschworene Bild einer drohend von außen über einen kommenden Globalisierung. Die dadurch angeblich in die Zwickmühle geratenen Nationen und Nationenverbände, wie etwa die EU, werden so als natürlich gewachsene und in ihrer kulturellen Vielfalt erhaltenswerte politische Gemeinschaften wahrgenommen. Da sich dabei von linker Seite mitunter regressive und bisweilen völkische Argumentationen vernehmen lassen, ist es wenig verwunderlich, dass es bisher wenig Kritik an Europa als modernem Nationenmodell und an der Rolle Deutschlands dabei gibt.
Stattdessen dürften beim ESF globalisierungskritische FriedensfreundInnen und AmerikahasserInnen »Angriffe, unter denen das palästinensische, tschetschenische und kurdische Volk leiden, verurteilen« (aus der Erklärung der sozialen Bewegungen, Porto Alegre Januar 2003). Der Appell ist dabei nicht als Ausrutscher, sondern als manifeste Kampfansage an Israel und die USA zu verstehen.
Die Kritik an den NoGlobals ist in den vergangenen Jahren ausgiebig formuliert worden. Der Umgang mit sozialen Protesten und dem ESF könnte durchaus wegweisend für die Zukunft der radikalen Linken sein. Der weit verbreitete Wunsch, »hineinwirken« zu wollen in alles, was sich auf Deutschlands und Europas Straßen Bahn bricht, selbst dort, wo man eigentlich eine Gegenposition beziehen müsste, birgt die Gefahr in sich, das eigene Projekt namens linksradikale Bewegung immer mehr aus den Augen zu verlieren.
Der Text ist eine stark gekürzte Fassung des Referates des BgR Leipig im Rahmen der Veranstaltungsreihe der Jungle World unter dem Titel »work hard – die young«.
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