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Hamburg: Berufungsprozess wegen Totalverweigerung

Heute fand am Landgericht Hamburg die Berufungsverhandlung gegen den Totalverweigerer Stefan S. wegen Dienstflucht (§53 Zivildienstgesetz) statt.
Gegen das Urteil des Amtsgerichts St. Georg vom Januar diesen Jahres hatten sowohl Verteidigung als auch Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt.

Stefan war zum 25. 9. 2002 zum Zivildienst in einer Pflegeeinrichtung einberufen worden, trat diesen jedoch nicht an.


Die Verhandlung fand, "wegen Raummangels" in einem Sicherheitssaal statt, in dem eine Glaswand den BesucherInnenbereich von den Verfahrensbeteiligten trennt. Das Gericht betonte zwar, dass dies "keine böse Absicht" sei, sah aber keinen ernsthaften Grund für einen Umzug. Auch der Hinweis des Anwalts, durch die Wahl eines Saales in dem ansonsten eher Fälle der sogenannten 'organisierten Kriminalität' verhandelt werden fühle die Verteidigung sich diskriminiert und sei die Öffentlichkeit nicht mehr voll gewährleistet sowie sein Antrag auf Verlegung der Verhandlung in einen anderen Saal beeindruckten den vorsitzenden Richter wenig.

Zunächst fragte das Gericht beim anwesenden Staatsanwalt nach, ob dieser das Angebot der beiderseitigen Rücknahme der Berufung seitens der Verteidigung nicht doch noch annehmen wolle. Nach einem Telefonat mit seinem/r Vorgesetzten verneinte dieser jedoch.

Als seine Einlassung verlas Stefan eine Prozeßerklärung, in der er u.a. den Zivildienst wegen seiner Eingebundenheit in die militärischen Planungen des sogenannten Verteidigungsfalles als Kriegsdienst entlarvte und ihn seinen Zwangsdienst-Charakter und seine destruktiven Auswirkungen auf den sozialen Sektor darstellte.
Stefan berief sich auf sein Gewissen, das ihm jede Beteiligung daran und daher auch die Ableistung des Zivildienstes verbiete.

Anschliessend folgten mehrere Beweisanträge der Verteidigung, die u.a. die Ladung prominenter Zeugen wie bspw. Minister Struck forderten, um die in Stefans Einlassung bereits erwähnte zivil-militärische Zusammenarbeit zu belegen (Stichwort Gesamtverteidigung). Desweiteren wurde beantragt, einen Zeugen aus dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (zuständig für den Zivildienst) zu laden, der die Pläne der Bundesregierung bestätigen solle, auf Grundlage des Berichts der 'Kommision "Impulse für die Zivilgesellschaft"' bis 2008 aus dem Zivildienst auszusteigen, diesen bis dato als freiwilligen Dienst zu handhaben, Totale Kriegsdienstverweigerer dementsprechend strafrechtlich nicht zu behelligen und darüberhinaus verurteilte Totalverweigerer zu amnestieren.

Nach zwanzigminütiger Beratung kam das Gericht überraschender- und erfreulicherweise zu dem Schluss, die Anträge wären abzulehnen weil die behaupteten Tatsachen als wahr unterstellt werden könnten. (Die Bundesregierung wird diese Unterstellung nicht sonderlich interessieren - es ist dennoch erfreulich - und in Bezug auf die Zivildienst-Abschaffung und Totalverweigerer-Amnestie gar das erste Mal -, dass ein deutsches Gericht diese Behauptungen anerkennt.)


Das folgende Plädoyer des Staatsanwaltes fiel kurz und sichtlich unengagiert aus. Nachdem er dem Angeklagten dessen 'Hartnäckigkeit' erschwerend zur Last gelegt hatte forderte er sechs Monate Freiheitsstrafe auf Bewährung.

Das Plädoyer der Verteidigung war erheblich umfangreicher. Nach einer Klarstellung, daß der Tatbestand der Dienstflucht die beklagte 'Hartnäckigkeit' bereits umfaßt und damit nicht strafverschärfend berücksichtigt werden darf, ging der Anwalt auf das in der Praxis nicht mehr geltende Prinzip der Wehrgerechtigkeit (es gibt Jahr für Jahr deutlich mehr Wehr- und Zivildienstpflichtige als Einberufungen) und den Vorrang des Grundrechts auf Gewissensfreiheit (Artikel 4, Abs. 1 GG) vor dem Strafrecht ein. Nachdem er verschiedene Wege aufgezeigt hatte, die das Gericht beschreiten könnte, um Stefan freizusprechen - er führte unter anderem verschiedene der (allerdings in keinem Fall rechtskräftig gewordenen) Freisprüche von Totalverweigerern an - schloß er mit der Forderung eines Freispruchs.

In seinem Urteil wies das Gericht die Berufungen beider Seiten zurück und bestätigte damit das Urteil des Amtsgerichtes, welches Stefan zu 90
Tagessätzen zu je 15 Euro verurteilt hatte.


Ob dieses Urteil eine positivere Behandlung Totaler Kriegsdienstverweigerer am Hamburger Landgericht einläutet, wird sich zeigen. Im Vergleich zu früheren Urteilen (zuletzt 6 Monate auf Bewährung, ehemals standardmässig 10 Monate ohne Bewährung) ist es zumindest deutlich milder.


Links:

Einsteigsseite zur Argumentation gegen den Zivildienst von der Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Milität, Berlin:
 http://www.kampagne.de/Themen/Wehrpflicht/Zivildienst.php

Artikel zur juristischen Diskussion der Totalverweigerung:  http://www.forum-recht-online.de/2001/101/101rehmke.htm

Bericht der 'Kommission "Impulse für die Zivilgesellschaft"' des BMFSFJ:
 http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/perspektiven-f_C3_BCr-freiwilligendienste,property=pdf.pdf (PDF, 1,2MB)

 

06.12.2004
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