Die verschiedenen Korporationen Marburgs unterscheiden sich sicherlich in ihrer jeweiligen politischen Orientierung sowie im Umgang mit den verbindungsstudentischen Sitten und Gebräuchen. Eine ganz besondere Art des Brauchtums, das es unseres Wissens nach in jeder Verbindung gibt, ist der Bierjunge. Es handelt sich dabei um ein Bierduell (Biermensur) und diente ursprünglich der Beseitigung kleinerer Streitigkeiten. Heutzutage wird dieses Ritual auch aus Spaß (Korporierte sagen aus „Trinksucht“) ausgeführt.
Zum Ritual: Hat ein Korporierter einen anderen Anwesenden beleidigt, so sagt der Beleidigte „Bierjunge“, der andere antwortet mit „hängt“. Sodann werden sogenannte Sekundanten ausgesucht, die das Duell überwachen und ein „Unparteiischer“ im gegenseitigen Einvernehmen bestimmt, der das Duell zu leiten hat. Den zwei Kontrahenten wird jeweils ein volles Glas Bier gereicht (in Marburg sind das 0,3 Liter). Die Sekundanten beurteilen, ob die Gläser gleich gefüllt sind. Im Anschluß daran fragt der Unparteiische mit meist schwülstigen Worten nach den Gründen des „eklatanten Bierskandals“ und ob die Kommandos bekannt seien. Ist das geklärt, fährt der Unparteiische fort und sagt (wobei die Kontrahenten, auch Paukanten genannt, sich nun an einem Tisch gegenüberstehen, das volle Glas vor sich): „Das Kommando zieht scharf: Vom Tisch des Hauses auf den Boden, vom Boden an den Hoden, vom Hoden an den Nabel, vom Nabel an den Schnabel, senkrecht setzt an und... sauft`s!“
Die Zwei folgen den Kommandos. Bevor sie trinken, kann der Unparteiische sie auffordern, sich zuzuprosten. Nach dem Kommando „Sauft`s“ kommt es darauf an, möglichst schnell sein Glas zu leeren, denn wer zuerst ausgetrunken hat, hat gewonnen. Beim Trinken darf nichts verschüttet werden (man darf nicht „bluten“). Tut man dies dennoch, so ist derjenige disqualifiziert und hat verloren. Je nach Korporation muß nach dem Absetzen des Glases noch ein Spruch aufgesagt werden. Haben beide ausgetrunken, wird vom Unparteiischen überprüft, ob auch ordnungsgemäß getrunken wurde (sogenannte „Nagelprobe“). Dazu werden die Gläser umgedreht und geschaut, wieviel noch herausfließt. Nach allen Kontrollen erklärt der Unparteiische den Schnelleren zum „Biersieger“.
Dieses Ritual kann beliebig wiederholt werden. Es besteht auch die Möglichkeit die Anzahl der zu trinkenden Gläser zu erhöhen. Hat der eine z. B. „hängt“ geantwortet, sagt der andere wiederum „hängt doppelt“ usw. 5-fache Bierjungen sind in Marburg keine Seltenheit. Das bedeutet, daß die Paukanten bei einem 5-fachen Bierjungen 1,5 Liter Bier ex trinken müssen. Da solche Mengen eher schwer verdaulich sind, gibt es in den meisten Verbindungshäusern sogenannte „Bierpäpste“, dabei handelt es sich um fest installierte Kotzbecken mit Haltegriffen. Zur Not werden auch Sektkübel zur Erleichterung gereicht, diese werden in Korporiertenkreisen auch „Mobilpapst“ oder „Mobilette“ genannt. Derartige Trinkrituale dienen der Einübung des Befehl-Gehorsam-Systems der Korporationen. Dies erfolgt durch Ausübung eines Zwanges gegen sich selbst, den Erhalt der sogenannten „Bierehre“ gegenüber anderen Korporierten und das Erlernen des Denkens vom Recht des Stärkeren. Derlei Trinkrituale, wie auch viele andere Rituale Korporierter (z. B. die Mensur) sind daher alles andere als harmlos anzusehen und sind als einer der Grundsteine in der Aneignung rechtskonservativen Denkens Korporierter zu beurteilen. Der Schritt zum rechten Extremismus ist für Korporierte nicht nur von daher kein großer Schritt!