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Verraten, entrechtet, beraubt und ermordet

Verfolgung und Widerstand der Berliner Juden und Jüdinnen

1933 lebten etwa 160.000 der insgesamt 500.000 deutschen Juden und Jüdinnen in Berlin, der größten jüdischen Gemeinde in Deutschland. 1945 waren es nur noch einige hundert. Über 35.000 Berliner Juden und Jüdinnen wurden ermordet.
Die in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 durchgeführten landesweiten antisemitischen Pogrome, von der NSdAP angeordnet und zum Teil bis zum 13. November andauernd, markieren den Übergang von der pseudolegalen Ausgrenzung der Juden und Jüdinnen hin zu ihrer totalen Entrechtung und schließlichen Vernichtung. Zielten die zahlreichen antisemitischen Verordnungen und Gesetze der Jahre nach der Machtübergabe noch darauf, sie aus ihren Positionen zu drängen und zur Emigration zu zwingen, weisen die Synagogenbrände des 9. November schon auf die Feuer der Krematorien. Nur wenige Wochen nach den Pogromen kündigte Adolf Hitler am 31.1.1939 im Reichstag die "Vernichtung des Judentums" an. Kein "Volksgenosse" konnte zu diesem Zeitpunkt noch Zweifel über das den jüdischen NachbarInnen zugedachte Schicksal haben. Trotzdem blieb die überwältigende Mehrheit der Deutschen stumm oder profitierte sogar an der Vertreibung und Ermordung ihrer MitbürgerInnen.

Stationen Zwischen der Machtübergabe an die Nazis am 31.1.1933 und der Pogromnacht war die nationalsozialistische Judenpolitik bestrebt, Juden und Jüdinnen zu diskriminieren, sie aus der zur Volksgemeinschaft mutierten Gesellschaft auszugrenzen, zu entrechten und aus dem Wirtschaftsleben zu verdrängen. Dabei bediente sie sich einer Vielzahl von Verordnungen und Gesetzen sowie massiver antisemitischer Propaganda der bald gleichgeschalteten Medien. Sie konnte auf das tief sitzende antisemitische Ressentiment der deutschen Bevölkerung bauen, die ihre jüdischen Mitmenschen widerstandslos den Henkern überließ.
Es begann am 1. April 1933 mit dem Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte ("Deutsche, kauft nicht bei Juden"). Nur eine Woche später wurden durch das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" Beamte, die "nicht arischer Abstammung" waren, entlassen. Dem folgte, ebenfalls 1933, der Entzug der Kassenzulassung für jüdische ÄrztInnen und ZahnärztInnen, ein Niederlassungsverbot für jüdische Steuerberater und das Verbot für "Nicht Arier", im kulturellen Bereich tätig zu sein. Ähnliche "Arier- Paragrafen" enthielten auch das "Reichserbhofgesetz", das "Reichsschriftleitergesetz" und das "Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit". Nach weiteren Berufsverboten wurden Juden 1935 vom aktiven Wehrdienst ausgeschlossen, was von vielen, die im ersten Weltkrieg ihr Leben riskiert hatten, als tiefe Demütigung empfunden wurde. Durch das "Reichsbürgergesetz" vom 15. September 1935 verloren jüdische Deutsche endgültig die staatsbürgerliche Gleichberechtigung. Am selben Tag wurde auch das "Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" verabschiedet, in dem Eheschliesßungen und Geschlechtsverkehr zwischen "Ariern" und "Nichtariern" verboten wurden. Die Grundlage zur völligen Ausraubung der Juden und Jüdinnen wurde die "Verordnung zur Anmeldung jüdischen Vermögens" (26.4.1938), nach der alles Vermögen über 5.000 RM beim Finanzamt angemeldet werden mußte. Im August 1938 folgte eine Verordnung, nach der Juden und Jüdinnen die Zwangsnamen "Israel" bzw. "Sara" annehmen mußten, im Oktober schließlich die Kennzeichnungspflicht jüdischer Pässe mit einem "J", die schon auf Deportation und Vernichtung zielt. Im Juni 1938 wurden 1.500 vorbestrafte Juden willkürlich verhaftet und in die Konzentrationslager Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt, wo sie als "Asoziale" unter unmenschlichen Bedingungen leben und Zwangsarbeit leisten mußten. Am 18. Oktober 1938 schließlich wurden ca. 15.000 Juden und Jüdinnen, die häufig schon jahrzehnte in Deutschland gelebt hatten, aber nur einen polnischen Pass besaßen, verhaftet und nach Polen abgeschoben. Dort vegetierten sie tagelang im Niemandsland.

"Überall Kundgebungen der Volksempörung" (Berliner Lokal-Anzeiger 10.11.1938)
Das Attentat des staatenlosen Juden Herschel Grynszpan, dessen Familie am 18. Oktober nach Polen abgeschoben worden war, auf v.Rath, einen Angestellten der deutschen Botschaft in Paris, diente den Nazis als Vorwand, ein vermutlich schon lange geplantes antisemitisches Pogrom auszulösen. Hatte es vorher lokal begrenzte antijüdische Ausschreitungen gegeben, kam es nach dem Tod v. Raths zu einer zentral organisierten und im ganzen Reichsgebiet zeitgleich durchgeführten Gewaltaktion. Sie wurde von SA- und NSdAP-Mitgliedern begonnen und vielerorts unter Duldung und aktiver Beteiligung der "normalen" Deutschen fortgesetzt. Auch aus Berlin berichten AugenzeugInnen von Plünderungen jüdischer Geschäfte durch den deutschen Mob, die bis zum 13. November andauerten.
Im ganzen Land wurden die Synagogen ausgeraubt und angezündet, über 7.000 Geschäfte zerstört und geplündert, mindestens 91 Juden und Jüdinnen ermordet, zahllose verletzt, vergewaltigt und terrorisiert. Etwa 26.000 Juden wurden verhaftet und in die Konzentrationlager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen verschleppt, wo sie unter mörderischen Bedingungen teilweise monatelang ausharren und Zwangsarbeit verrichten mußten. In Folge von Kälte, Unterernährung, Mißhandlungen und Typhus- Epidemien kamen hunderte von ihnen ums Leben. Insgesamt wird die Zahl der Todesopfer dieser Pogrome auf 2.000 geschätzt.
Die erlittenen Schäden hatten die Opfer auf eigene Kosten zu beheben, fällige Versicherungsleistungen beschlagnahmte der Staat. Zusätzlich hatten die deutschen Juden und Jüdinnen eine "Sühneleistung" in Höhe von 1 Mrd. RM für den Tod v. Raths zu entrichten. Am folgenden Tag wurden alle jüdischen SchülerInnen von deutschen Schulen entfernt.
Innerhalb der nicht- jüdischen Bevölkerung fanden weder die gewaltsamen Übergriffe auf Juden und Jüdinnen noch ihre pseudolegale Ausgrenzung aus der "Volksgemeinschaft" und ihre schrittweise Entrechtung und Verdrängung aus dem Wirtschaftsleben ein hörbares Echo. Die überwältigende Masse verhielt sich bestenfalls passiv und sah den Zerstörungen und Verhaftungen zu. Als überflüssig und störend wurde allenfalls empfunden, dass rare Sach- und Lebensmittel vernichtet wurden.

Vom Terror zur Vernichtung
Nach den Pogromen beschleunigte die Regierung ihre antijüdische Gesetzesmaschinerie noch. Vor der "Endlösung", der Ermordung aller in Deutschland verbliebenen Juden und Jüdinnen, stand ihre totale Ausraubung. Ab Dezember war es ihnen verboten, mit Edelmetallen zu handeln. Bis zum März 1939 mußten sie unter Preis an den Staat abgegeben werden, danach erfolgte die Beschlagnahme. Die "Arisierung" genannte Enteignung aller jüdischen Betriebe und Geschäfte wurde fortgeführt und vollendet. Berufsverbote bestanden inzwischen für fast alle Berufe, Juden und Jüdinnen genossen nicht einmal mehr Mieterschutz und wurden in "Judenhäuser" eingewiesen. Die jüdischen Gemeinden wurden ab 1941 gezwungen, Deportationslisten zu führen und Sammellager bereitzustellen, um den Abtransport der etwa 55.000 verbliebenen Berliner Juden und Jüdinnen zu ermöglichen. Seit dem 7. März 1941 mußten sie Zwangsarbeit leisten, seit dem 19. September war es ihnen verboten, ohne den gelben Stern die Straße zu betreten. Am 19. Oktober 1941 begann unter der Bezeichnung "Umsiedlung" die Deportation der jüdischen BerlinerInnen in die Konzentrationslager und Ghettos im Osten.

Auschwitz
Seit Juli 1942 fuhren Deportationszüge von den Bahnhöfen Grunewald und Putlitzstraße direkt in das Vernichtungslager Auschwitz. Von den Juden und Jüdinnen, die 1941 in Berlin lebten, waren Ende 1942 nur noch 33.000 übrig geblieben, viele von ihnen als "kriegswichtige" ZwangsarbeiterInnen oder in "privilegierter Mischehe" durch einen "arischen" Ehepartner geschützt. Die meisten von ihnen wurden im Zuge der "Fabrikaktion" im Februar 1943 an ihren Arbeitsplätzen verhaftet, in die Sammellager Levetzowstraße, Kleine Hamburger Straße, Zimmerstraße u.a. gebracht und größtenteils in Viehwaggons in den Tod transportiert. Ende Juni 1943 soll es nur noch 6.700, am 30.3.1945 nach Zählung von Bruno Blau gerade noch 5.990 "Nicht- Arier" in Berlin gegeben haben. Über 154.000 Berliner Juden und Jüdinnen sind von den deutschen "Volksgenossen" vertrieben oder ermordet worden.

"Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck!" (Robert Weltsch, 4.4.1933)
Nach der Machtübergabe im Januar 1933 standen die deutschen Juden und Jüdinnen dem Nazi- Terror alleine gegenüber. Weder bei illegalen Widerstandsorganisationen der bald verbotenen KPD und SPD, noch in Kirchenkreisen, noch innerhalb der Bevölkerung fanden sie Soldarität und Hilfe. Der Zionist Robert Weltsch forderte in einem am 4. April 1933 erschienenen Artikel das "angegriffene Judentum" auf, "sich zu sich selbst zu bekennen". Der Appell, das eigene Jude- und Menschsein zu verteidigen, fand Gehör. Die bisher verfeindeten Organisationen der assimilierten, deutsch- national eingestellten jüdischen Deutschen und die der meist sozialistisch orientierten Zionisten schlossen sich mit allen jüdischen Gemeinden zur "Reichsvertretung der Juden in Deutschland" zusammen. Diese von den Nazis bis zum Juni 1943 geduldete Organisation unterstützte durch Schulungsprogramme und Geldsammlungen die auswanderungswilligen Juden und Jüdinnen und intensivierte durch zahlreiche karitative, religiöse und kulturelle Unternehmungen das jüdische Zusammenleben. Diese Aktivitäten in Gemeinden, Schulen, Theatern und Vereinen sind unbedingt als Widerstand gegen die Nazis anzusehen, die der ganzen Bevölkerungsgruppe als "unwertes Leben" die Existenzberechtigung absprachen. Die jüdischen Deutschen beugten sich dem nicht und verteidigten Identität und Leben.

Überleben im Untergrund
Auch nach Beginn der Deportationen im Oktober 1941 blieben die Verfolgten meist auf sich gestellt. Hilfe für sie blieb das Werk einzelner unbesungener HeldInnen, die unter größter Gefahr den ca. 5.000 untergetauchten jüdischen BerlinerInnen praktische Hilfe leisteten. Manche von ihnen konnten so fliehen, etwa 1.500 überlebten versteckt in Berlin das dritte Reich.
Zionistische Jugendgruppen hatten schon vor 1941 die illegale Arbeit aufgenommen. Sie organisierten das Leben im Untergrund und versuchten, Flucht und Neuanfang in Israel zu ermöglichen. Dazu mußten unter Lebensgefahr geheime Quartiere besorgt, Lebensmittel, Geld und Papiere organisiert werden. Viele dieser WiderstandskämpferInnen überlebten und halfen anderen, ihr Leben zu retten.

Antifaschistischer Widerstand
In den späten 30er Jahren schlossen sich meist jüdische KommunistInnen und SozialistInnen mit ZionistInnen in der Widerstandsgruppe Herbert Baum, Gipsstraße 3 in Berlin Mitte, zusammen. Diese Gruppe diente nicht nur der Selbsterhaltung ihrer Mitglieder, sondern machte antifaschistische Politik. So wandte sie sich mit Flugblättern an die deutsche Bevölkerung und rief zum Sturz des freiheitsfeindlichen und judenmordenden Regimes auf, agitierte und organisierte ZwangsarbeiterInnen und führte Sabotageakte in der Rüstungsindustrie durch. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit stand die Verhinderung von Deportationen. Diese Aktivitäten sind als ein Höhepunkt des antifaschistischen Widerstands in Deutschland überhaupt anzusehen.
Nach einem Brandanschlag auf die NS- Propagandaausstellung "Das Sowjetparadies" am 18. Mai 1942 wurde die Gruppe verraten und 28 Mitglieder nach grausamer Folter in Plötzensee erschossen. Als Rache für den Anschlag, der schwere Sachschäden und 11 Verletzte forderte, ließ die Gestapo 500 jüdische BerlinerInnen ermorden.
Die Berliner Juden und Jüdinnen käpften mit allen Mitteln um ihre Würde und ihr Leben. Ihre Hoffnung, die "arischen" MitbürgerInnen aufzurütteln und zu Solidarität und Widerstand zu bewegen, wurde enttäuscht.

Literatur:
W. Wippermann, "Verfolgung und Widerstand der Berliner Juden 1933-1945" in "nicht mißhandeln", Stätten der Geschichte Berlins, Band 5, Hg:C. Pross und R. Winau, 1984
"Verfolgung und Widerstand"Stätten der Geschichte Berlins, Band 8, Hg: H. Roskamp, 1985
"Schon damals fingen viele an zu schweigen...", Hg: BVV Berlin-Charlottenburg, 1986
"Widerstand in Mitte und Tiergarten", Band 8 der Schriftenreihe über den Widerstand in Berlin, Hg: Gedenkstätte Deutscher Widerstand, 1994