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Tue Dec 17 21:59:28 1996
 

Der "Domino-Effekt" - neue Mauern im Osten

Aufgrund der unter Druck abgeschlossenen Verträge sahen sich die osteuropäischen Länder gezwungen, die Grenzkontrollen zu verstärken, die Visumpflicht wieder einzuführen und ihrerseits Verträge mit anderen Ländern abzuschließen, um die Flüchtlinge bis in die Herkunftsländer zurückschieben zu können.

Bild: Der Bau von EU-Grenzen - in Ungarn - 'für Dich'
So vereinbarte Polen neben dem Abkommen mit der BRD weitere mit Österreich, der tschechischen Republik, der Slowakei, der Ukraine, Rumänien und Bulgarien. 1992 erhöhte Polen die Zahl der GrenzbeamtInnen von 5000 auf 8000, die 30.000 Menschen von der illegalen Einreise abhielten. OsteuropäerInnen erhalten nur noch ein Visum für Polen, wenn sie eine persönliche Einladung und Geld vorweisen können. Die 120 Millionen DM aus der BRD verwendet Polen zur technischen und polizeilichen Grenzsicherung, für Weiterschiebungen, zum Aufbau eines zentralen Erfassungssystems für AusländerInnendaten und für die Ausbildung von Grenz- und AsylbeamtInnen. Weiterhin ist vertraglich bestimmt, daß 50% der Sachleistungen in Deutschland eingekauft werden müssen. Zwar verfügt Polen über ein in der Verfassung verankertes Asylrecht, jedoch nicht über Verfahrensgesetze, die jenes Recht umsetzen könnten.

Ähnlich verhielt sich die Tschechische Republik, die sich bis zum November 1994 weigerte, das erweiterte Abkommen mit der BRD zu unterzeichnen, da sie erst Rücknahmeverträge mit der Slowakei, Ungarn, Ukraine, Polen und Rumänien aushandeln wollte. Bis dahin regelte ein Verwaltungsabkommen mit Bayern und Sachsen die Abschiebung von AusländerInnen bis zu 2 Tagen nach der Festnahme. Jetzt wurde dieser Zeitraum auf ein Jahr nach Grenzübertritt und 6 Monate nach dem Aufgriff ausgedehnt. Die tschechische Regierung führte die Visumpflicht wieder ein und installierte eine mobile elektronische Überwachungsanlage an der Grenze. Von einen Tag auf den anderen standen JugoslawInnen und RussInnen, die in der BRD und Österreich arbeiteten, vor geschlossenen Grenzen und wußten nicht, wie ihnen geschehen war. Ungarn kontrolliert auf Druck der Schengenländer sehr streng die eigenen Grenzen zu Rumänien und Serbien. Als Prämie bei der Kopfjagd nach Illegalen gibt es Sonderurlaub.

Die für 1993 befürchtete "russische Flut", die wegen der geplanten Erleichterung der russischen Ausreisebestimmungen immer als Druckmittel zur Verschärfung der Visumbestimmungen herhalten mußte, blieb bis heute aus. Die Bestimmungen wurden seitdem aber nicht gelockert.

Verteilung der 120 Mio DM der BRD für
das Rücknahmeabkommen mit Polen (gerundet)
polnischer Grenzschutz:       44 Mio
	davon für
	Abschiebeunterkünfte:    4 Mio
	Kommunikationsmittel:   14 Mio
	Fahrzeuge:              16 Mio
	Nachtsichtgeräte:        4 Mio
polnische Polizei:            23 Mio
	Kommunikationsmittel:    8 Mio
	Fahrzeuge:               7 Mio
	Nachtsichtgeräte         1 Mio
Büro für Migration
und Flüchtlingswesen:          0,7 Mio
	Abschiebeunterkünfte     0,1 Mio
	Computertechnik          0,5 Mio
	deutsche Sprachkurse für 
	polnische Grenzschützer:0,1 Mio
davon 70% aus deutscher Produktion
aus: Antwort der Bundesregierung auf eine
Kleine Anfrage des Abgeordneten Manfred Such (B90/Grüne)
Die Länder des Westens, die jahrelang mit der politischen Forderung nach einer uneingeschränkten Reisefreiheit die totalitäre Praxis in den sozialistischen Staaten anprangerten, haben genau die Bedingungen von vor 1989 wieder eingeführt. Eine Kleine Anfrage der PDS, welche Abkommen zwischen den osteuropäischen Ländern abgeschlossen wurden und ob deutsche Behörden sich an den Verhandlungen beteiligt haben, beantwortet die Bundesregierung - voller Unschuld - schlicht mit einem "Nein" und daß ihr "keine Erkenntnisse (über Rücknahmeverträge) vor(liegen)"[7], obwohl die BRD in Wirklichkeit die osteuropäischen Länder zur Vertragsabschließung untereinander aufgefordert, sie zum Teil dabei beraten hatte und schließlich über alle Verträge informiert wurde.

Folge der ca. 60 Rücknahmeverträge, die wie ein Netz ganz Europa überziehen, waren Massendeporationen von in der BRD lebenden Roma nach Rumänien in geschlossenen Wagons, die Vertreibung der Roma aus der Tschechischen Republik in die Slowakei und vermehrte Kettenabschiebungen. D.h. Flüchtlingen werden von einem Land ins nächste abgeschoben, was dann im Herkunftsland endet, obwohl in dem ersten Glied der Kette, z.B. der BRD, die Abschiebung direkt ins Herkunftsland aufgrund der herrschenden Gesetzeslage, z.B. einem Abschiebeschutz, nicht möglich gewesen wäre. Aber je weiter die Flüchtlinge gen Osten abgeschoben werden, desto schlechter sind die Bedingungen für ein Asylverfahren. Es häufen sich auch Fälle von mehrfachen Hin- und Herschiebungen, da sich zwei Länder nicht einigen können, wer für das Asylverfahren der betroffen Person zuständig ist.

Deutsche Entwicklungshilfe in den Mauerrandgebieten

Das vielgelobte, im Rücknahmevertrag BRD-Rumänien vereinbarte "Reintegrationsprogramm", welches angeblich den Abgeschobenen die Eingliederung erleichtern soll, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Kapitalismusexport, der den unfreiwilligen HeimkehrerInnen mehr schadet als hilft.

Bild: Polnische Grenzschützer 1991 - im Tausch für das Rückführungsabkommen ersetzte die BRD inzwischen die DDR-PKW's und russische Geländewagen
Im Rahmen des Reintegrationsprogramms wurden in den "Hauptabwanderungsgebieten Rumäniens drei Aus- und Fortbildungzentren errichtet" und zwar vorallem in den deutschen Siedlungsgebieten. Ziel der drei Zentren ist "die Vermittlung einer bedarfsorientierten und wettbewerbsstarken Qualifikation in Rumänien sowie die Förderung der Gründung selbständiger Existenzen. [...] Deshalb nehmen auch Rumänen, die aufgrund dieses [Rückführungs-]Abkommens in ihre Heimat zurückkehren, nicht an dem Reintegrationsprogramm teil." Die Romas, die der BGS in Charterflugzeugen nach Rumänien transportiert, werden sich freuen, daß neben den rassistischen Pogromen nun dank der BRD auch die wirtschaftliche Diskriminierung zunimmt. Denn im "wettbewerbsstarken" Kapitalismus dürfte kaum ein Platz für die autarke Lebensweise der Romas sein, zumal sie von der Ausbildung ausgeschlossen sind. Zum Glück sind es, der Geiz der deutschen Seite hat gesiegt, nur drei Zentren, die sicher nicht so viel Schaden anrichten können...

Das Reintegrationsprogramm mit Bulgarien sieht ebenfalls Umschulungskurse vor.

Rückführungen in unbekannte Länder

Da der für die Rückführung notwendige Nachweis der Staatsangehörigkeit nicht immer gelingt, beschloß die Innenministerkonferenz eine Arbeitsgruppe zu bilden, die prüfen soll "ob und inwieweit es möglich ist, in den Fällen ungeklärter Staatsangehörigkeit durch Abschluß von Rückführungsabkommen eine Rückführung auch ohne den Nachweis oder die Glaubhaftmachung der Staatsangehörigkeit des betreffenden Staates in einen der Gesamtregion zuzurechnenden Vertragsstaat zu ermöglichen." Einige Versuche in diese Richtung gab es schon.

So wurde ein Flüchtling aus Liberia, der wegen dem Bürgerkrieg nicht dorthin abgeschoben werden konnte, wahllos vier verschiedenen Botschaften verschiedener afrikanischer Länder zwangsvorgeführt, um zu fragen, ob die Länder bereit wären, ihn aufzunehmen. Zaire erklärte sich bereit, um den deutschen Behörden einen Gefallen zu tun. Letztendlich wurde der Flüchtling mit einem Notpaß nach Gambia abgeschoben. Der Niedersächsische Flüchtlingsrat kritisierte BGS und Ausländerbehörden, die nach dem Prinzip "Hauptsache zurück nach Afrika" verfahren.

Am 7.11.1995 entschied das Bundesverwaltungsgericht, daß Flüchtlingen, die über einen "sicheren Drittstaat" eingereist sind, selbst dann kein Asylverfahren zusteht, wenn das Transitland nicht bekannt ist.

Migration ist O.K.

Zusätzlich zu den Rücknahmeabkommen schloß die BRD Verträge zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität und des Rauschgifthandels mit fast allen osteuropäischen Ländern an. So gingen 1993 25 Mio DM und 1994 36 Mio DM an Ausstattungs- und Ausbildungshilfe an die Polizei fast aller osteuropäischer Länder.

Allein zur Drogenbekämpfung erhielt zwischen 1992 und 1994 Polen 4 Mio DM, die Tschechische Republik 2,5 Mio DM, die Slowakische Republik 1,5 Mio DM, Ungarn 4,5 Mio DM, Bulgarien 2 Mio DM. Allgemeine Polizeihilfe erhielten neben den obengeannten Ländern Lettland, Estland und Litauen.[8]

Diese Polizeihilfe richtet sich nicht nur indirekt (mehr Polizei - weniger Chancen für Illegalisierte), sondern auch direkt gegen Flüchtlinge. So fällt z.B. im deutsch-ungarischen "Abkommen über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität" vom 22. März 1991 die "unerlaubte Einschleusung von Personen" und "Menschenhandel" unter die Definition der Organisierten Kriminalität, gegen die das Abkommen "insbesondere" vorgehen will.[9]

Illegalisierung

Die Abschottung Europa ändert natürlich gar nichts an den Fluchtgründen. Im Gegenteil, das sich verschärfende Wohlstandsgefälle zwischen Europa und dem Trikont/Osteuropa zwingt immer mehr Menschen zur Flucht. Ebenso wie eine Politik, die nach Ende des Kalten Krieges die kleinen, heißen Kriege nicht mehr zu scheuen scheint. Gleichfalls wird die wirtschaftliche, politische und militärische Zusammenarbeit mit den Machthabern der jeweiligen Ländern politische Fluchtgründe weiterhin bestehen lassen.

Die Abschottung Europas und die Verschärfung der Asylgesetze führt nur dazu, daß immer weniger Menschen überhaupt nach Europa gelangen. Die meisten flüchten in die Nachbarländer und können in den riesigen Lagern ihren Hungertod durch Rote-Kreuz-Hilfslieferung hinauszögern. Oder schaffen es eben gar nicht zu flüchten und sterben an Ort und Stelle. Die wenigen, die genügend Glück und Geld für eine Flucht nach Europa haben, versuchen es zunehmend auf illegale Weise, die Grenze zu passieren. Da sie wissen, daß auf legalem Wege keine Chance haben und gleich wieder abgeschoben werden. Für viele endet die abenteurliche Flucht jedoch mit dem Tod. Wieviele Flüchtlinge in den Meeren und Grenzflüssen ertrunken sind, unterwegs verhungert, in Hohlräumen von Flugzeugen erfroren und in Frachtautos erstickt, als blinde Passagiere von den Schiffen einfach ins Meer geworfen, anderweitig ermordert oder an den Grenzen von PolizistInnen/Militärs erschossen wurden, wird niemand jemals sagen können.

Spanische Behörden schätzen, daß in den ersten 10 Monaten von 1992 ca. 400 Menschen auf der Flucht nach Spanien ertrunken sind und für 1991 geben marokkanische Behörden eine Zahl von 1000 Ertrunkenen an.

Zwischen Juli und Oktober 1992 soll es 13 Tote in der Oder gegeben haben und zwischen Januar und Oktober 1994 sind laut offiziellen Zahlen 14 Menschen an der Oder/Neiße-Grenze ertrunken (siehe Abschnitt Tode in der Oder/Neiße). Als im Juli 1995 18 erstickte Tamilen in einem LKW in Ungarn gefunden wurden, war Kanthers einziger Kommentar zu diesem "besonders schrecklichem Fall" von Menschenschmuggel, daß durch eine "ganz entschiedene Asylpolitik klargemacht werden (muß), daß es keine Chance gibt, mit Hilfe von Verbrechern auf illegalem Wege einen langfristigen Aufenthalt in der Bundesrepublik zu gewinnen."[10]

Auszug aus der Liste, die die an den europäischen Grenzen zu Tode gekommenen Flüchtlinge enthält ( von UNITED zusammengestellt)


Fußnoten
7Domino, S. 6; Festung, S. 72; SZ vom 27.1.1994 und 15.4.1995; Anfrage 12/4397; jw vom 27.7.1994 und 20.6.1995; CILIP, S. 84; ak, Nr. 380
8Anfrage, Nr. 12/4312
9in Domino, S. 13-28, sind folgende Papiere (z.Teil gekürzt) dokumentiert: Beschlüsse der Konferenzen in Budapest (Febr. 1993) und Kopenhagen (Juni 1993), Rückführungsabkommen der BRD mit Polen(1991 und 1993), Rumänien, Bulgarien; O.K. Abkommen mit Ungarn; Musterentwurf über Polizeihilfe an Osteuropa
10Der Spiegel, Nr. 15/1991; Die Welt vom 15.10.1994; Festung, S. 80; SZ vom 24.7.1995; Abschreckung, S. 57