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Tue Dec 17 21:59:29 1996
 

Auswertung der Tour

Dokugruppe in Forst bei der Arbeit:
'Das ist doch die falsche Richtung, die Psychobullen stehen hinter dir...'
'Ach, der Heinemann ist nicht so richtig fotogen. Ich filme lieber die Holzplaktette!'
Mit unserem Beitrag wollen wir unsere Erfahrungen bei der Radtour zusammenfassen und einige Einschätzungen zu den verschiedenen Aktionen geben, um bei ähnlichen Vorhaben eine Anregung zur Diskussion und Aktion zu geben. Gleich am Anfang der Radtour (= 1.Plenum) in Zittau wurde deutlich, daß wir aus sehr unterschiedlichen politischen Zusammenhängen kommen. Erwartungen und Vorstellungen von dem, was bei der Fahrradtour wie laufen sollte, waren sehr verschieden. Die ersten Diskussionen verliefen sehr chaotisch, da inhaltliche Auseinandersetzungen im voraus kaum zustandegekommen waren bzw. an einzelne Gruppen aus anderen Städten nicht vermittelt wurden. Deshalb blieb es dem Plenum überlassen, Inhalt und Form der Tour weitgehend zu entwickeln, statt vorhandene Konzepte zu beraten.

Da nur wenige Leute die Radtour vorbereitet haben, waren diese vorwiegend mit organisatorischen Fragen vor Ort beschäftigt. Beispielweise war der Reader zur inhaltlichen Vorbereitung der TeilnehmerInnen erst zu Tourbeginn fertig.

Wir organisieren uns

Es erschien uns sinnvoll, bei ca.40 Personen in drei kleineren Gruppen zu fahren, um einerseits mehr voneinander mitzubekommen und andererseits intensiver an einem Thema arbeiten zu können sowie besser die Möglichkeit zum Kontakt mit der eingeborenen Bevölkerung zu nutzen. Es bildeten sich eine Aktionsgruppe, Dokumentationsgruppe und Theatergruppe. Nachteilig war jedoch, daß die Gruppen nach außen relativ abgeschlossen waren und ein Gruppen- und damit auch Themenwechsel nicht mehr so leicht möglich waren. Wir begegneten uns lediglich auf den zähen Plena zu beliebigen Tages- und Nachtzeiten.

Inhaltliche Arbeit der Gruppen

1. Dokumentationsgruppe

Diese Gruppe recherchierte die Orte entlang der Grenze, wo der BGS Streife läuft bzw. mit Wannen die 30-km-Zone abfährt. Außerdem wurden unterwegs Interviews gemacht, u.a. in Aurith, einem Ort zwischen Frankfurt/Oder und Eisenhüttenstadt, wo immer wieder Flüchtlinge aufgefunden werden, die beim Versuch, die Oder zu überqueren, ums Leben kommen. Auf diese Art und Weise gelang es uns, einen, wenn auch oberflächlichen Eindruck von der Grenze zu bekommen. Vorteilhafter wäre es gewesen, mit noch mehr Menschen vor Ort ins Gespräch zu kommen und die Behauptungen einzelner, daß sie nichts hören und sehen würden, beharrlicher zu hinterfragen.

Es wurden Videoaufzeichnungen gemacht, die jedoch zum großen Teil wenig aufschlußreich und für eine Dokumentation kaum brauchbar waren. Nach dem Motto "Wild drauflos!" wurde alles gefilmt, was lief, schwamm oder flog. Leider hat es die Dokugruppe noch nicht geschafft, eine verwendbare Version zusammen zu schneiden.

2. Aktionsgruppe


zum anklicken...
Auch bei der Aktionsgruppe zeigte sich, daß eine längerfristige Vorbereitung, Zusammenarbeit mit den Gruppen vor Ort oder wenigstens genauere inhaltliche Diskussionen und Konzepte notwendig sind.

Trotz vieler vager Ideen kam die Aktionsgruppe nie so recht zum Zug. So gab es nächtliche Spaziergänge an der Grenze mit dem Ziel, die Situation vor Ort mitzukriegen und den BGS zu irritieren. Wurde das ersten Ziel im Ansatz erreicht, blieb der zweite Aspewkt aufgrund mangelnder Beteiligung unsererseits auf der Strecke. Über die politische Wirksamkeit solcher Aktionen kann also auch noch nichts abschließendes gesagt werden. So war insgesamt während unserer Tour mehr BGS präsent, so daß konkret vielleicht mehr Grenzübertritte vereitelt als ermöglicht wurden.

3. Theatergruppe

Leider interessierten sich für die Theatergruppe...



... nur die Zivi-bullen.
Die Theatergruppe hatte z.T. schon in Berlin innerhalb kürzester Zeit ein Straßenprogramm zusammengebastelt, das die Themen Flucht, Grenze und BGS aufgriff und ausdrucksvoll in Szene setzte. Leider war die Resonanz in der Öffentlichkeit - abgesehen von RadtourteilnehmerInnen und SympathisantInnen - gleich null. Dennoch scheint uns diese Aktionsform geeignet, sie an anderen Orten oder in einer anderen Art und Weise (konfrontativer?) wieder aufzugreifen und weiterzuentwickeln.

Was ist gelaufen

Bleibt also die Frage, wie wir unsere Ideen umsetzen konnten.

Wir haben zahlreiche Informationen gesammelt über die Situation von Flüchtlingen und die Vorgehensweise des BGS im Grenzbereich. Wir haben in den Orten an der Grenze Gruppen und Menschen getroffen, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen bzw. haben andere dazu angeregt (z.B. Flüchtlinge im Abschiebeknast in Görlitz zu besuchen). Uns hat die Fahrradtour ein realeres Bild der deutschen Ostgrenze vermittelt, als wir es vorher z.B. durch die Medien hatten. Nicht Mauern und Stacheldraht, sondern wie unbemerkt aus dem 30-km-Grenzstreifen herauszukommen, scheint hier das Problem zu sein. Wir haben einen Eindruck vom Erscheinungsbild diser Grenze gewonnen, die - auf den ersten Blick fast "beschaulich" - für Menschen auf der Flucht oft tödlich ist. Der BGS scheint hier ungehindert operieren zu können und diese Praxis könnten nur vielfältige Aktionen und permanente Beobachtungen mildern.

Wir haben unsere Erfahrungen an der Grenze nicht für uns behalten sondern in unseren Städten, auf Demos und in alternativen Medien weitergetragen und so andere für die Situation an der Ostgrenze interessiert. Wir konnten Kontakte untereinander und vor Ort für eine weiterführende Arbeit gegen die Grenze knüpfen.

Auf der Fahrradtour ist undurchsichtig geblieben, wie die Situation an der Grenze aus der Sicht der Flüchtlinge ist, genauso wenig wissen wir, wie es auf der polnischen Seite aussieht.

Aktionen ohne Öffentlichkeit

Es ist uns jedoch nicht gelungen, eine breitere Öffentlichkeit vor Ort mit unseren Themen zu erreichen und über die Situation an der Grenze ins Gespräch zu kommen. Unsere Aktionen verliefen zum größten Teil eher enttäuschend und zeigten kaum irgendeine Wirkung nach außen. Meistens wurden wir völlig ignoriert, lediglich ein paar Leute aus UnterstützerInnengruppen leisteten uns solidarische Gesellschaft.

Es muß jedoch an dieser Stelle auch gesagt werden, daß wir unsere "Besuche" in den verschiedenen Orten vorher nicht angekündigt hatten - mit Ausnahme von Frankfurt/Oder und Cottbus, wo die Resonanz jedoch auch nicht größer war. Auch wäre es gut gewesen, mehr Informationsmaterial zu verteilen, z.B. wie Flüchtlinge konkret unterstützt werden können und darüber mit Leuten zu reden.

Während der Tour wurden fünf Presseerklärunen verschickt, die sowohl auf anstehende Aktionen aufmerksam machten als auch uns zugänglich gewordene Informationen über die Situation vor Ort verbreiten sollten. Leider nahm die Presse dieses "gewaltfreie" Angebot kaum an und widmete der Tour erst Aufmerksamkeit, als der BGS sich über einen nicht vereinbarten Grenzdurchbruch (Schlauchbootüberquerung der Oder) empörte. Ausschließlich die inzwischen als "kriminelle Vereinigung" verfolgte Zeitschrift "radikale" veröffentlichte Auszüge der Abschlußerklärung, welche der bürgerlichen Presse in die Hände gefaxt wurde. Allerdings spielte für viele auf der Tour die Pressearbeit nur eine untergeordnete Rolle. So gab es zu diesem Thema weder Diskussionen noch ein Konzept.

Mangelnde Auswertung

Auch eine Reflexion dessen, was und wie's gelaufen war, blieb während der Tour fast völlig aus.

Ein besonders deutliches Beispiel für dieses Versäumnis war unser gemeinsamer Abend mit Flüchtlingen in Eisenhüttenstadt, die wir an der ZAST getroffen und spontan zum Abendessen in das dortige Gemeindezentrum eingeladen hatten. Der Abend wurde insofern ein Reinfall, als sich ein Großteil der Gruppe zurückzog und eine Handvoll GastgeberInnen mit etwa 50 Gästen allein ließ. Einige waren einfach müde und fühlten sich von der Situation überfordert, viele Frauen hatten keinen Bock auf die Anmache der ausschließlich männlichen Flüchtlinge. An dieser Stelle wäre es angebracht gewesen, innerhalb der Gruppe ein Gespräch über unsere Vorstellungen und Erfahrungen in der Arbeit mit Flüchtlingen zu führen und uns mit bestehenden Hierarchien zwischen Flüchtlingen und weißen Deutschen (Rassismus) und über den Umgang mit sexistischen Verhaltensweisen von Flüchtlingsmännern gegenüber Frauen auseinanderzusetzen.

Schade, daß diese und viele andere Gespräche ausblieben...

"Begleitschutz" - ein endloses Thema

Stattdessen verbrachten wir anfänglich die Plena mit zähen Diskussionen über den Umgang mit Bullen und Zivis, die uns - wie schon ausführlich beschrieben - ständig verfolgten. Im Vorfeld gab es von Seiten der OrganisatorInnen aus der FöGA schon einige Absprachen mit den Bullen. Da diese nicht klar vermittelt wurden, sorgten sie über lange Zeit für Irrungen und Wirrungen. So dauerte es zu lange, Einigkeit darüber zu erreichen, ob wir mit Bullen reden, sie in die Irre führen oder einfach ignorieren sollten. Ihre Präsenz nervte jedoch die meisten von uns. Schließlich gab es den Konsens, die Begleitung so weit als möglich zu ignorieren und nur bei zu penetranter Präsenz, Abstand zu fordern. Allerdings ließ sich dies nicht immer durchsetzen. Ob die Mühe, die sich der BGS mit uns machte, als Übungsspiel für fortgeschrittene BGS-Kräfte, Zeichen von Verunsicherung und Schwäche oder Omnipräsenz und Stärke zu werten ist, hängt vom persönlichen Optimismus ab.

UnterstützerInnen vor Ort - kein Thema?

Ein großer Fehler in der Vorbereitung und während der Tour war, daß den Gruppen vor Ort, die uns zwar organisatorisch (Essen, Schlafen) sehr unterstützten, in die inhaltliche Diskussion und Gestaltung nahezu gar nicht einbezogen wurden. Sie hatten dadurch nicht die Möglichkeit, eigene Ideen einzubringen und selbst zur Radtour zu mobilisieren. Vielen war nicht klar, daß es eine offene Aktion war. Damit haben wir die Leute zum Teil für unsere Zwecke funktionalisiert, anstatt unsere jeweiligen Erfahrungen auszutauschen und gemeinsam Handlungsansätze zu entwickeln. Diese Art und Weise miteinander umzugehen, scheint uns typisch für (Großstadt-) AktivistInnen zu sein, die nicht mehr über ihren eigenen Tellerrand gucken können.
Wenigstens im Nachhinein wollen nun einige von uns die bestehenden Kontakte aufrechterhalten und vertiefen und auch gemeinsam Aktionen und Veranstaltungen organisieren.
Vielleicht noch eine Radtour?
Es lohnt sich auf jeden Fall zukünftige Fahrradtouren, Camps, Ausflüge etc. zur Grenze zu machen, um mehr mitzubekommen, dem BGS auf die Finger zu schauen / hauen, supernette, couragierte Leute aus der Region kennenzulernen. Euch noch 10.000 Dank für die Unterstützung der Tour, die sonst nicht möglich gewesen wäre!

Also: Auf zur Grenze - die Grenzen auf!